Ein trauriger Ostersonntag

Es war Ostersonntag 1959, wir lebten noch in der Notunterkunft und warteten auf einen Bescheid, dass wir endlich in unser neues zu Hause einziehen konnten. Wir hatten uns an unseren kleinen Familienzuwachs gewöhnt. Wir kümmerten uns alle drei uns Andreas, gingen mit ihm spazieren, meine Schwester badete ihren Neffen gerne, unsere Mutter bereite mit viel Liebe das Fläschchen zu. Mein kleiner Sohn meldete sich er war dreieinhalb Monate alt. Wir waren ganz erschrocken, es war sehr früh am Morgen, er röchelte ganz ungewöhnlich für ihn, er lachte gern, wenn er aufwachte und lallte so vor sich hin, bis er sein Fläschchen von der Großmutter bekam.

Heute aber atmete er schwer. Meine Mutter rief „Regina, lauf schnell zum Telefon und hole einen Arzt.“ Ich rannte so schnell ich konnte. Es war ein weiter Weg zum Telefon. Ein Weg der nicht enden wollte.

Auf diesem Weg gingen mir tausend Gedanken durch meinen Kopf. Ich habe gebetet „lieber Gott lass Andreas wieder gesund werden“. Ich habe an seine Geburt gedacht und wie ich gekämpft habe, dass mein Sohn zur Welt kommt, ich habe an unsere Mutter gedacht wie sie sich aufgeopfert hat. Ihr Leben lang war sie für uns da auch in meiner schlimmsten Situation stand sie mir immer zur Seite.

Ich erreichte dann den Krämerladen und konnte einen Arzt ans Telefon bekommen, der auch gleich kommen wollte. Ich ging die Straße zurück, so schnell ich nur konnte. Mir war nun kalt vor Angst oder war mir vom Rennen zum Telefon ganz heiß? Ich hatte keine Empfindungen mehr, aber ein komisches Gefühl im Bauch.

Als ich wieder zurückkam, war mein Sohn gerade gestorben.

Andreas starb in den Armen meiner Schwester Elke, während meine Mutter verzweifelt versuchte, Tee für Andreas zu kochen, wobei ihr vor Verzweiflung alles aus der Hand fiel.

Unsere Mutter, meine Schwester Elke und auch die Mutter meines Verlobten, wir waren sehr geschockt, denn am Abend zuvor war mein Sohn noch munter, er aß am Abend noch seinen Bananenbrei es war alles in Ordnung. Auch bei der Mütterberatung war ich zwei Tage zuvor, sie erkannten keinerlei Anzeichen von einer Krankheit.

Wie ich die Beerdigung und die Untersuchungen der Kriminalpolizei überstanden habe, weiß ich bis heute nicht.

Ich bat im Krankenhaus, dass ich meinen Sohn noch einmal sehen durfte und man hatte Verständnis.

Im Leichenkeller öffnete mir ein Krankenpfleger den kleinen weißen Sarg. Andreas hatte sein blaues Mützchen auf, das etwas schief auf seinen kleinen Kopf saß. In seinem passenden Jäckchen sah er so friedlich aus. Hier nahm ich nun Abschied von ihm. Er wurde nur dreieinhalb Monate alt. Es blieb ein großer Schmerz, den ich mein ganzes Leben mit mir trage. Ich hatte mein Kind verloren.

Ich wünschte mir wieder ein Kind.

Ich war bald wieder schwanger, ein Wunschkind, wir wollten ja sowieso bald heiraten.

Doch es kam alles ganz anders ...

Regina 17jährig

Eine eigene Wohnung

Wir waren in so vielen Flüchtlingslagern, Notunterkünften und Zwangseinweisungen, und konnten nach drei Jahren Wartezeit, in der Notunterkunft, endlich in unsere erste eigene Wohnung ziehen. Nach dieser schlimmen langen Zeit hatten wir endlich ein Zuhause! Wir waren glücklich über dieses große Geschenk.

Auch unserer Mutter ging es wieder etwas besser, Mutti hatte nach langer Suche beim Roten Kreuz ihren Sohn gefunden der in französischer Kriegsgefangenschaft war.

Die erste Begegnung mit unserem großen Bruder: Mutti nahm ihn in ihre Arme und weinte leise vor sich hin, eine kleine Frau begrüßte ihren Sohn. Eine lange Zeit der Ungewissheit war vorbei. Jetzt waren wir alle vier zusammen. Es waren nur ein paar Stunden des Wiedersehens, dann reiste er wieder zu seiner Familie.

Doch es ging wieder los.

Die Nachbarn konnten es nicht ertragen, dass mein Verlobter kam, der auch der Vater meiner Kinder war, und so nahm alles seinen Lauf.

Das Jugendamt wurde benachrichtigt, von den „netten Nachbarn“, es gab zu dieser Zeit noch den Kuppel-Paragraphen und wäre ein Mann, unser Vater, im Haushalt gewesen, hätte sich keiner um uns gekümmert. Doch eine alleinstehende Frau mit zwei gut aussehenden Mädchen und Besuche von einem jungen Mann, das war dann doch zuviel, zu dieser Zeit. Dunkle Wolken für eine lange Zeit

Das Jugendamt hatte uns seitdem im Visier und es dauerte nicht lange, da kamen auch die ersten Besuche von dort, unangemeldet.

Eine Frau Konrad, die sich für nichts anderes interessierte, als diesen Besuch von meinem Verlobten und ob er auch über Nacht bliebe. Seit dieser Zeit hatten wir keine Ruhe mehr. Meine Tochter Christine kam im März 1960 zur Welt.

Wenige Monate nach der Entbindung wurde ich mit meinem Säugling vom Jugendamt Altena abgeholt.

Man gab mir überhaupt keine Auskunft, aus welchem Grunde ich wieder unsere Wohnung verlassen musste. Ich kam nach Dortmund ins Vincenzheim.

Für eine Einweisung in eine geschlossene Erziehungsanstalt hatte sich das Jugendamt damals eingesetzt; doch eine Beratung für ein junges Elternpaar war illusorisch.

Ich wurde brutal aus unserem Leben gerissen und lebte doch in geordneten Verhältnissen.

Ich habe mein Kind sehr gut versorgt und bekam nach meinen Mutterschaftsurlaub, wieder eine gute Arbeitsstelle, damit war abrupt alles vorbei.

Was mich dabei total schockierte, war die Methode abgeschoben zu werden, wie ein Schwerverbrecher, so wurde ich im Vincenzheim empfangen, diese Aktion lief schweigend ab.

Eine Möglichkeit mich zu wehren, wurde mir nicht gegeben.

Dann war ich in der Aufnahmestation. Untersuchung von einem alten Frauenarzt; eine erniedrigende Situation. Die Nonne saß mit einem Hocker direkt vor meinen gespreizten Beinen während der Untersuchung auf dem gynäkologischen Stuhl und schaute sehr genau zu. Mein Blut wurde mir am Arm entnommen, ob ich das wollte oder nicht, es wurde einfach so gehandhabt. Fragen waren nicht gestattet.

So taten sie es auch bei den anderen Mädchen.

Wir fanden schnell heraus, dass Erniedrigungen in diesem Erziehungsheim an der Tagesordnung waren.

Taschentücher mit Spitze umhäkeln, Marien-Liedchen und Volkslieder singen, so verbrachte man den Tag.

Es waren keine zwei Monate vergangen, da wurde auch meine Schwester Elke in dieses Haus für schwererziehbare Mädchen eingeliefert.

Als wir, wie jeden Morgen, in zweier Reihen, mit unserer Gruppe zur Kappelle gingen, da sah ich sie, meine Schwester Elke.

Eine Verständigung war auf dem Flur nicht möglich, absolutes Schweigen war auf dem Weg zum Gebet angeordnet, ich zuckte mit den Schultern und wollte wissen, warum. Eine Antwort bekam ich erst nach Wochen. Wie mag es nur unserer Mutter jetzt gehen, wie weit wollte das Schicksal noch mit ihr so umgehen, ich machte mir große Sorgen, sie war jetzt ganz allein und war auch auf das monatliche Gehalt von uns angewiesen, was Elke und ich immer pünktlich nach Hause brachten.

Im August 1960 war mein Aufenthalt in diesem widrigen Heim vorerst beendet. Der Vater meiner Kinder, Manfred, durfte mich am 9. September 1960 heiraten.

Die Genehmigung für unsere Heirat haben wir vom Vormundschaftsgericht Altena-Westfalen erhalten. Der Antrag zur Entlassung aus dem Erziehungsheim wurde von meiner Mutter und von meinen Verlobten gestellt. Meine Mutter musste auch erst zustimmen, wir waren ja noch nicht volljährig, damals erst mit 21 Jahren.

Wir waren alle erleichtert. Ich war nun wieder zu Hause mit meiner Tochter Christine und aus diesem Haus mit verschlossenen Türen und vergitterten Fenstern. Es war wie eine Befreiung.

Mein Mann Manfred lebte noch bei seinen Eltern. Obwohl wir nun verheiratet waren, war die Wohnung meiner Mutter zu klein für vier Personen.

Für meine Schwester musste ja auch noch ein Platz bleiben. Wir hofften, Elke würde auch nach ein paar Monaten wieder zu Hause sein.

Doch, dass meine Schwester nie mehr nach Hause kam und für Jahre dort eingesperrt blieb, daran hätten wir nie geglaubt.

Meine Ehe funktionierte nicht, die Erlebnisse der vergangenen Zeit hatten wir nicht verarbeiten können. Jeder von uns ging eigene Wege.

Wir waren in unseren jungen Jahren nicht stark genug, und wir hatten auch keinerlei Unterstützung. Unsere Mutter war zu schwach geworden, um vielleicht für uns zu kämpfen. Sie war trotz allem immer für uns da.

Und wieder im Vinzenzheim!

Anfang April 1961 wurde ich wieder nach Dortmund gebracht! Hatte man uns überwacht? Oder waren es wieder die bösen Nachbarn? Alles war vorbei! Keine Hoffnung für eine gute Zukunft.

Ich habe gearbeitet und damit versucht, unser weiteres Leben aufzubauen, wir hatten ja nichts. Keine Wohnung und keine Einrichtung. Ich lebte weiter bei meiner Mutter und habe mein Kind in keiner Weise vernachlässigt. Mein Mann Manfred und ich, wir wollten uns etwas schaffen, um endlich zusammen zuleben.

Wie bei meiner ersten Einweisung ging die ganze Prozedur noch einmal von vorn los.

Sofort musste ich meine Kleidung ausziehen und ich bekam als Bestrafung ein Putz-Kleid mit Puffärmelchen vom Haus und eine Schürze, jeder Insasse des Hauses konnte daran erkennen, „die hat etwas Schlimmes angestellt“ ein Merkmal für „Rückkehrer“ und dann ging es wieder in die Aufnahmeabteilung, das war dann in der obersten Etage.

Die Nonne Schwester Nivella nahm ihren Schlüsselbund, schloss die Tür von dieser Etage auf, und ehe ich mich versah, schloss sie die Tür auch schnell wieder zu. Es waren viele Türen die sie schnell auf und gleich wieder zu schloss, auffällig wie schnell sie die Schlüssel zu den passenden Türen fand. Sie war auf einmal unheimlich flink! Das dicke Schlüsselbund an einer Kordel hatte etwas Bedrohliches, es flößte mir Respekt ein, ein psychologischer Druck ging von diesem Geräusch aus, das Angst in mir erzeugte. Wo war ich jetzt? Viele Mädchen saßen in einem Raum, es waren etwa acht Tische mit jeweils vier Stühlen.

Ich durfte mich auf Anweisung der Nonne an einem Tisch dazusetzen. Ich war erstaunt über den schnellen Ablauf von der Pforte bis in diese Abteilung. Warum hatte die Nonne es so eilig?

Es war totale Stille, keiner sagte auch nur ein Wort. Nach einiger Zeit flüsterte ich meiner Tischnachbarin zu: „Wo bin ich hier?“

Sie sagte nichts.

Ich fragte noch einmal, „psst später“ das war ihre Antwort, denn Reden war verboten.

Heute weiß ich, alles war ein ungeheuerlicher Vorgang, ich wurde meiner Freiheit beraubt und ich konnte mich überhaupt nicht wehren. Ich wurde einfach von zu Hause abgeholt und meine Tochter Christine wurde später in der Kinderabteilung im Hause untergebracht. Ich konnte nichts dagegen unternehmen, hatte keinen Rechtsberater der mich vertreten konnte. Mich zu wehren, hatte ich nicht gelernt, ich schwieg lieber, bevor es noch schlimmer wurde. Es begann eine Zeit, die ich bis zum heutigen Tag einfach nicht vergessen kann.

Es war für die Erzieher ein „Kinderspiel“ mich gefügig zumachen, damit ich nach deren Methoden funktionierte. Kein inneres starkes Gerüst für mein weiteres Leben, war in mir vorhanden.

Wir haben als Kinder alles schon einmal erlebt. Damals in Biesenthal, ängstlich und eingeschüchtert.

Alles hat sich wiederholt.

Von dem Heim in Biesenthal und dann diese fürchterliche Zeit im Vincenzheim, eine Erziehungsanstalt für schwer erziehbare Mädchen und Frauen, ja Frauen.

Ich war eine verheiratete Frau und konnte es einfach nicht begreifen, dass man mich in dieses Haus verschleppte und einsperrte.

Christine im Vincenzheim

Und dann die Nonnen! Eine Schwester Nivella, die nur im Befehlston sprach, kein nettes Wort kam über ihre Lippen.

Das änderte sich, wenn sie anfing „Heilige Mutter Gottes ...“ zu beten, dabei blühte sie auf. Wir wurden von ihr regelrecht „belauert“, selbst wenn sie betete.

In diesem Vincensheim nannte man mich auf einmal nur bei meinem Mädchennamen! Regina Page, in den Akten war ich dann auch Regina Page verehelichte M.

Wie konnte das alles wieder passieren? Die gesamte Prozedur machte ich nun wieder durch. Zum Frauenarzt musste ich erneut.

Anschließend beten, Taschentücher mit feiner Spitze umhäkeln, zum Abendessen, vorher beten, danach beten vor dem Schlafengehen beten.

Ich hatte doch nichts getan, was diese Behandlung gerecht fertigen würde!

Nachdem ich die Aufnahmestation wieder hinter mich gebracht hatte, durfte ich an der großen Mangel stehen. Anschließend war ich für einige Zeit in der Milchküche.

Ein paar Wochen später durfte ich dann endlich in der Kinderabteilung arbeiten.

Ich war bei meiner Tochter, die jetzt das Laufen lernte, und sie konnte auch schon über das Bettchen klettern.

Christine war schon eifrig dabei, des Öfteren den Wasserhahn aufzudrehen und bekam diesen nicht mehr zu, sie war für die Kleinkinder Abteilung nicht mehr geeignet. Sie wollte raus aus diesem Bett, sie wollte spielen und rumtoben, aus dem Krabbelalter war sie längst heraus. Mein Kind, herumlaufen, sich als Kleinkind weiterentwickeln, doch das Bett war ihre „Spielwiese“, auch hier waren die strengen Erziehungsmaßnahmen zu spüren.

Nur am Sonntag, die wenigen Stunden mit ihrer Mutter zusammen zu sein, reichte ihr jetzt nicht mehr.