NEUN
Cole kramte lustlos in einer Kiste mit bipolaren Transistoren und dachte, was er doch für ein Idiot war. Eigentlich hätte er schlafen sollen. Es musste fast Mitternacht sein. Er hatte sich den ganzen Tag lang für Mr. Blue den Arsch aufgerissen, und in sechs Stunden musste er besagten Arsch wieder aus dem Bett schwingen, um weiterzumachen. Er war müde, und er hatte es satt bis obenhin, dass man auf ihm herumhackte, nur weil der letzte sorglose Blödmann, der mit einem Werkzeugkasten durch den Planeten spaziert war, alles verbockt hatte.
Es ist nicht meine Schuld, dachte er mürrisch, dass dieser Idiot die Leiter an den MOSFETs nicht angeschlossen hat, bevor er sie installierte. Und seine Außenstrippen sind Mist, er hat nicht mit der Induktionsladung des Planeten gerechnet … Unfähiger Wichser …!
Vielleicht war er zu hart, aber ihm war nicht nach Versöhnlichsein, nicht nach dem Tag, der hinter ihm lag. Mr. Blue hatte ihm ausdrücklich aufgetragen, sich zuerst die Kameras an der Oberfläche vorzunehmen – und dann hatte er ihn wieder hinuntergejagt und steif und fest behauptet, er habe ihm gesagt, er solle sich zuerst um das Interkom-System kümmern.
Cole wusste, dass Reston ein Haufen Scheiße war – wie eigentlich alle anderen, die im Planeten arbeiteten –, aber er war auch einer der Bosse, ein echtes Schwergewicht. Wenn er sagte: „Spring!“, dann sprang man, und es gab nie eine Diskussion darüber, wer nun im Recht war. Cole arbeitete erst seit einem Jahr für Umbrella, aber in diesem Jahr hatte er mehr Geld verdient als in den fünf Jahren davor zusammengenommen. Er würde nicht derjenige sein, der Mr. Blue (so nannten sie ihn wegen des blauen Anzugs, den er ständig trug) verärgerte und sich dafür einbuchten ließ.
Bist du dir da sicher? Nach allem, was du in den vergangenen Wochen gesehen hast?
Cole stellte die Schachtel mit den Transistoren ab und rieb sich die Augen. Sie fühlten sich heiß an und juckten. Er schlief nicht besonders gut, seit er seine Arbeit im Planeten aufgenommen hatte. Es war nicht so, dass er ein mitfühlender Typ gewesen wäre; er gab eigentlich einen Scheiß drauf, was die Leute von Umbrella mit ihrem Geld anstellten. Aber …
… aber es ist schwer, an diesem Ort gute Gefühle zu haben. Er ist unangenehm. Die reinste Freakshow.
In seinem Jahr bei Umbrella hatte er die Energieversorgung eines Chemielabors an der Westküste angeschlossen, ein paar neue Schutzschalter für einen Thinktank an der anderen Küste installiert und ansonsten eine Menge Wartungsarbeiten ausgeführt, wo immer sie ihn eben hinschickten. Die Bezahlung war unglaublich gut, der Job nicht zu schwer, und die Leute, mit denen er für gewöhnlich zusammenarbeitete, waren ganz in Ordnung – meist gewöhnliche Arbeiter, die dasselbe taten wie er. Und alles, was er tun musste, war zu versprechen, nach Feierabend nicht über das zu reden, was er sah. Er hatte bei seiner Einstellung einen entsprechenden Vertrag unterschrieben und nie ein Problem damit gehabt. Aber damals hatte er ja auch den Planeten noch nicht gekannt.
Wenn Umbrella ihn zu einem Job rief, erklärten sie ihm gar nichts. Es hieß nur: „Reparieren Sie das!“, und man reparierte es und wurde bezahlt. Selbst innerhalb der Crew wurden Gespräche über Sinn und Zweck der jeweiligen Örtlichkeit absolut missbilligt. Doch Gerüchte machten die Runde, und Cole wusste genug über den Planeten, um in Erwägung zu ziehen, eventuell künftig nicht mehr für Umbrella zu arbeiten.
Da waren zum einen die Kreaturen, die Versuchstiere. Er hatte sie zwar noch nicht gesehen – auch nicht das Ding, das sie Fossil nannten, den eingefrorenen Freak –, aber er hatte sie gehört, einige Male schon. Einmal, mitten in der Nacht, einen kreischenden, heulenden Laut, der ihm das Mark hatte gefrieren lassen; ein Geräusch wie das eines schreienden Vogels.
Und dann war da dieser Tag in Phase zwei gewesen: Er hatte eine Videokamera neu abgestimmt, als er ein seltsames Rattern hörte, wie Fingernägel, die auf hohles Holz trommelten – aber das Geräusch war auch animalisch gewesen. Lebendig. Cole hatte aufgeschnappt, dass die Tiere extra für Umbrella gezüchtet wurden, irgendwelche genetischen Kreuzungen für Studienzwecke – aber Kreuzungen wovon? All die Kreaturen hatten auch abstruse, unangenehme Spitznamen. Er hatte die Wissenschaftler mehr als nur einmal darüber reden hören.
Daks. Skorps. Spucker. Jäger. Klingt nach ’nem lustigen Haufen – für einen Horrorfilm.
Cole rappelte sich auf, streckte seine müden Muskeln und hing immer noch unerfreulichen Gedanken nach. Da war Reston, natürlich; der Kerl war ein Tyrann erster Güte und von der Sorte, die viel Macht und wenig Geduld besitzt. Cole war es gewohnt, mit leitenden Angestellten zu arbeiten, aber Mr. Blue stand viel zu weit oben in der Nahrungskette, als dass Cole sich dabei noch wohlgefühlt hätte. Der Mann war verdammt einschüchternd.
Aber das ist nicht das Schlimmste, oder?
Er seufzte, ließ den Blick über die Zellen schweifen, die den Raum säumten, sechs auf jeder Seite. Nein, das Schlimmste befand sich direkt vor ihm.
Jede Zelle war mit einer Liege, einer Toilette, einem Waschbecken – und Fesselvorrichtungen an den Wänden und am Bett ausgestattet. Und der Zellenblock war weniger als sieben Meter vom „Foyer“ der ersten „Phase“ entfernt, wo die Türen Schlösser nur auf der Außenseite hatten.
Nach diesem Job werd ich ernsthaft über meine Prioritäten nachdenken. Ich hab genug gespart, um mir eine Pause leisten und mir über meine Zukunft klar werden zu können …
Cole seufzte abermals. Das war gut, er würde es im Auge behalten – für später. Jetzt allerdings musste er versuchen, etwas Schlaf zu bekommen. Er drehte sich um, ging zur Tür und schaltete das Licht aus, schon während er sie öffnete …
… und da war Reston. Er eilte gerade um die Ecke, wo der Hauptkorridor in Richtung der Aufzüge abbog, und wirkte über die Maßen aufgebracht.
Verdammt, was jetzt?
Reston entdeckte ihn und rannte förmlich auf ihn zu, sein blauer Anzug ungewohnt zerknittert, sein erschrockener Blick nach links und rechts huschend.
„Henry!“, keuchte er und blieb schwer atmend vor ihm stehen. „Gott sei Dank. Sie müssen mir helfen. Da sind zwei Männer, Killer, sie sind eingebrochen und versuchen mich umzubringen – ich brauche Ihre Hilfe!“
Cole war von Restons Verhalten ebenso verblüfft wie von dem, was er sagte. Er hatte Blue nie auch nur ungekämmt gesehen oder ohne jenes kleine, blasierte Lächeln, das allein den unfassbar Reichen vorbehalten war.
„Ich …was?“
Reston holte tief Luft und stieß sie langsam wieder aus. „Es tut mir leid. Ich bin nur … Jemand ist in den Planeten eingedrungen. Es sind zwei Männer hier, die nach mir suchen. Sie wollen mich umbringen, Henry. Ich habe sie wieder erkannt, von einem vereitelten Anschlag auf mein Leben vor knapp sechs Monaten. Sie haben oben einen Mann an der Tür postiert, und ich sitze in der Falle. Sie werden mich finden und …“
Er brach ab, keuchte und … versuchte er etwa, nicht zu weinen? Cole starrte ihn an und dachte: Er hat mich Henry genannt. „Warum wollen die Sie umbringen?“, fragte er.
„Ich leitete voriges Jahr die Übernahme einer Verpackungsfirma – der Mann, dessen Unternehmen wir aufgekauft haben, war labil, er schwor, es mir heimzuzahlen. Und jetzt sind sie hier. Im Moment sperren sie alle in der Cafeteria ein – aber sie sind nur hinter mir her. Ich habe zwar Hilfe angefordert, aber die wird nicht rechtzeitig eintreffen. Bitte, Henry – werden Sie mir helfen? Es – es wird Ihr Schaden nicht sein, das verspreche ich Ihnen. Sie werden nie wieder arbeiten müssen, Ihre Kinder werden nie arbeiten müssen …!“
Das unverhohlene Flehen in Restons Augen war irritierend; es hielt Cole davon ab zu erwähnen, dass er gar keine Kinder hatte. Der Mann war entsetzt, sein zerfurchtes Gesicht zuckte, das graumelierte Haar stand ihm vom Kopf ab. Selbst ohne das finanzielle Angebot hätte Cole ihm geholfen.
Vielleicht.
„Was soll ich tun?“
Reston zeigte ein schiefes Lächeln der Erleichterung und streckte sogar die Hand aus, um Coles Arm zu ergreifen. „Danke, Henry. Vielen Dank. Ich – ich bin nicht sicher. Wenn Sie … Die wollen nur mich! Wenn Sie sie also irgendwie ablenken könnten …“
Er runzelte die Stirn, seine Lippen bebten, dann sah er an Cole vorbei zu dem kleinen Raum, der den Zugang zu den „Umwelten“ markierte.
„Dieser Raum! Er hat ein Schloss an der Außenseite und führt nach Eins – wenn Sie diese Männer zu sich locken und sich nach Eins stehlen könnten … Dann würde ich sie einsperren und den ganzen Raum dicht machen, sobald Sie wieder draußen wären. Sie könnten direkt nach Vier durchgehen und hinaus in den medizinischen Bereich, den ich für Sie öffnen würde, sobald die Kerle in der Falle sind!“
Cole nickte unsicher. Das sollte klappen, nur …
„Werden die nicht merken, dass ich nicht Sie bin? Ich meine, die haben doch bestimmt ein Bild von Ihnen oder irgendwas, nicht wahr?“
„Die werden keinen Unterschied feststellen. Die werden Sie nur für eine Sekunde sehen, wenn sie um die Ecke kommen, und dann werden Sie weg sein. Sobald sie hineingehen, drücke ich auf die Steuerung – ich kann mich im Zellenblock verstecken.“
Restons blasse Augen glänzten von unvergossenen Tränen. Der Bursche war verzweifelt – und was Pläne anging, so war das kein übler.
„Ja, okay“, sagte Cole und der Ausdruck von Dankbarkeit im Gesicht des älteren Mannes war beinahe rührend.
Beinahe. Wenn er ein anständiger Mensch wäre, dann wäre dem so.
„Das werden Sie nicht bereuen, Henry“, sagte Reston, und Cole nickte; er wusste nicht, was er sonst tun oder sagen sollte.
„Ihnen wird nichts passieren, Mister Reston“, sagte er schließlich voll Unbehagen. „Keine Sorge.“
„Ich bin sicher, Sie haben recht, Henry“, erwiderte Reston, drehte sich um und tauchte ohne ein weiteres Wort in den dunklen Zellenblock.
Cole stand eine Sekunde lang da, dann zuckte er innerlich die Achseln und bewegte sich auf den kleinen Raum zu, nervös, aber auch ein wenig sauer. Mr. Blue mochte Angst haben, aber er war immer noch ein ziemliches Arschloch.
Kein ‚Machen Sie sich bloß keine Sorgen, Henry‘ oder ‚Seien Sie nur vorsichtig‘. Nicht einmal ein ‚Viel Glück. Ich hoffe, die erschießen nicht Sie aus Versehen‘ …
Er schüttelte den Kopf und trat in den kleinen Raum. Wenn er dem großen Blue half, würde er vermutlich bald ausschlafen, vielleicht sogar seinen Job im Planeten und bei Umbrella ein für alle Mal aufgeben können. Bei Gott, er sehnte sich nach etwas Ruhe – er hatte verdammt schlecht geschlafen …
Rebecca fand die Kamera schließlich. Eine Linse, nicht größer als ein 25-Cent-Stück, war in der südwestlichen Ecke versteckt, nur zwei Fingerbreit unterhalb der Decke. Sie hatte David herbeigerufen, und er hatte die Optik mit seiner Hand abgedeckt und gewünscht, eine sorgfältigere Überprüfung vorgenommen zu haben, ehe er sein Team hereingeführt hatte. Er war nachlässig gewesen, und John und Leon waren genau deshalb verschwunden.
Claire hatte beim Herumwühlen eine Rolle Klebeband gefunden, viel mehr aber auch nicht. David klebte das Loch zu und fragte sich, was sie tun sollten. Es war kalt, so kalt, dass er nicht wusste, wie lange sie sich noch auf ihre Reflexe verlassen konnten. Die Codes funktionierten nicht. Sie benötigten mehr, als ihnen zur Verfügung stand, um den versiegelten Zugang zu öffnen, und zwei Mitglieder seines Teams steckten irgendwo in der Einrichtung unter ihnen, vielleicht verwundet, vielleicht bereits im Sterben liegend …
… oder infiziert. Infiziert, so wie Steve und Karen infiziert wurden – verdammt und ihrer Menschlichkeit beraubt!
„Hör auf“, sagte Rebecca zu ihm, und er stieg von dem Tisch herunter, den sie in die Ecke geschoben hatten. Er ahnte, was sie meinte, war aber nicht bereit, es zuzugeben. Rebecca verstand es, ihn selbst in den schlimmstmöglichen Zeiten aus der Reserve zu locken.
„Womit soll ich aufhören?“
Rebecca trat auf ihn zu, starrte in sein Gesicht hoch und schirmte ihre Taschenlampe mit einer ihrer kleinen Hände ab. „Du weißt, was ich meine. Du hast diesen Ausdruck im Gesicht, ich seh’s doch. Du redest dir ein, dass das deine Schuld ist. Dass sie noch hier wären, wenn du etwas anders gemacht hättest.“
Er seufzte. „Ich begrüße deine Sorge, aber das ist nicht der passende …“
„Ist es doch“, unterbrach sie ihn. „Wenn du dir Selbstvorwürfe machst, denkst du nicht mehr klar. Wir sind nicht mehr bei S. T. A. R. S. – und du bist niemandes Captain mehr. Es ist nicht deine Schuld.“
Claire war zu ihnen herübergekommen. Ihre grauen Augen blickten forschend, der Sorge zum Trotz, die ihre schmalen Züge immer noch verkniffen wirken ließ. „Du glaubst, das sei deine Schuld? Ist es nicht. Das denk ich nicht.“
David hob die Hände. „Allmächtiger, na gut! Es ist nicht meine Schuld, und wir können gemeinsam analysieren, wofür ich verantwortlich bin, falls und sobald wir hier rauskommen. Aber können wir uns im Augenblick bitte darauf konzentrieren, was noch an Arbeit vor uns liegt?“
Die beiden jungen Frauen nickten, und noch während er zwar froh war, die Therapiesitzung beendet zu haben, bevor sie richtig losgehen konnte, wurde ihm klar, dass er gar nicht wusste, was als Nächstes für sie anstand – welche Aufgaben er ihnen zuweisen sollte über das hinaus, was sie bereits getan hatten. Oder wie sie diese Krise lösen sollten, was er sagen und wie er es sagen sollte. Es war ein scheußlicher Augenblick – er war es gewohnt, etwas zu haben, gegen das er kämpfen konnte, etwas, auf das er reagieren oder schießen oder für das er planen konnte. Aber ihre Situation schien statisch, unveränderlich. Es gab keinen klaren Weg, dem sie hätten folgen können, und das war noch schlimmer als die Schuld, die er aufgrund seiner mangelnden Voraussicht empfand.
Und genau in diesem Moment hörte er das ferne Geräusch eines näherkommenden Hubschraubers, das ferne Knattern, das nichts anderes sein konnte – und obwohl es die Unentschlossenheit jäh beendete, wäre ihm alles andere lieber gewesen.
Außer dem Gelände gibt es nichts, was uns Deckung böte. Wir schaffen es nie bis zurück zum Van, wir haben zwei, drei Minuten …
„Wir müssen raus hier“, sagte David, und während sie auf die Tür zurannten, ging er in Gedanken die Punkte durch, die sie tun mussten, um überhaupt noch den Hauch einer Chance zu haben.
Die Arbeiter waren ein Kinderspiel gewesen. Es hatte ein paar Augenblicke der Anspannung gegeben, als er sie im Dunkeln von ihren Liegen in den Unterkünften hochgescheucht hatte, aber die Sache war ohne Zwischenfall verlaufen. Dennoch hatte John auf ein paar von ihnen besonders Acht gegeben, als er sie in die Cafeteria trieb, wo Leon auf die Kartenspieler aufpasste – vor allem auf zwei ziemlich große Männer, die aussahen, als litten sie unter Machismo, und auf einen mageren, nervösen Kerl mit tief liegenden Augen, der sich unaufhörlich seine Lippen leckte. Es war wie eine zwanghafte Angewohnheit – alle paar Sekunden schoss seine Zunge hervor, flatterte zwischen seinen Lippen und verschwand dann wieder. Unheimlich.
Aber es hatte keine Probleme gegeben. Vierzehn Männer und keiner war offenbar gewillt, den Helden zu spielen, nachdem John ihnen mit kühler Logik beigekommen war. Er hatte es kurz und einfach gehalten: ‚Wir sind hier, um etwas zu suchen, wir haben nicht vor, jemanden zu verletzen, wir wollen nur, dass Sie uns aus dem Weg bleiben, während wir uns zurückziehen. Machen Sie keine Dummheiten, und Sie werden nicht erschossen.‘
Entweder die Vernunft oder die M-16 hatte bewirkt, die Männer davon zu überzeugen, dass es am Besten war, nicht darüber zu streiten.
John stand an der Tür, die auf den großen Korridor hinausführte, und beobachtete die unglücklich dreinschauende Gruppe, die in der Mitte des großen Raumes um einen langen Tisch herum saß. Ein paar wirkten ärgerlich, ein paar verängstigt, die meisten einfach nur müde. Niemand sprach, was John nur recht war. Er wollte sich keine Sorgen darüber machen müssen, dass jemand versuchte, einen Aufstand anzuzetteln.
Trotz seiner Zuversicht, dass alles unter Kontrolle war, machte es ihn doch froh, als er das leichte Klopfen an der Tür hörte. Leon war vielleicht fünf Minuten weg gewesen, aber es kam ihm viel länger vor. Er kehrte mit einer langen Kette und ein paar Drahtkleiderbügeln zurück.
„Schwierigkeiten?“, fragte Leon leise, und John schüttelte den Kopf, ohne die schweigende Gruppe aus den Augen zu lassen.
„Waren alle brav“, sagte er. „Wo hast du die Kette gefunden?“
„Ein Werkzeugkasten – in einem der Räume.“
John nickte, dann hob er seine Stimme und sagte in ruhigem Ton: „Okay, Herrschaften, wir machen gleich den Abflug. Wir danken Ihnen für Ihre Geduld …“
Leon stieß ihn an. „Frag, ob Reston hier ist“, flüsterte er.
John seufzte. „Du meinst, sie würden es uns sagen, wenn er da wäre?“
Der jüngere Mann hob die Schultern. „Es ist einen Versuch wert, oder nicht?“
Sind schon seltsamere Sachen passiert …
John räusperte sich und richtete das Wort wieder an die Gruppe: „Ist ein Mann namens Reston hier? Wir haben nur eine Frage an ihn, wir werden ihm nichts tun.“
Die Männer starrten sie an, und John fragte sich, nur eine Sekunde lang, ob sie wussten, was sie hier taten – ob sie wussten, was Umbrella tat. Sie sahen nicht wie Schwerverbrecher aus, sondern wie ein Haufen ehrlicher Malocher. Wie Männer, die tagsüber hart arbeiteten und abends gerne ein paar Bierchen zischten. Wie … wie Männer eben.
Und wie würden Schwerverbrecher aussehen? Diese Leute sind Teil des Problems, sie arbeiten für den Feind. Sie werden uns nicht helfen …
„Blue ist nicht da.“ Ein großer, bärtiger Mann in T-Shirt und Boxershorts antwortete, einer von denen, die John besonders im Auge behalten hatte. Seine Stimme war schroff und gereizt, sein Gesicht noch vom Schlaf verquollen.
Überrascht tauschte John einen Blick mit Leon und stellte fest, dass der Rekrut ebenso verblüfft wirkte. „Blue?“, fragte John. „Ist das Reston?“
Ein Mann mit längerem Haar und ölverschmierten Händen, der am Ende des Tisches saß, nickte. „Ja. Und für Sie heißt er Mister Blue.“
Der Sarkasmus saß. Innerhalb der Gruppe wurden ein paar düstere Blicke getauscht – und ein paar kicherten.
Reston ist eine der Schlüsselfiguren, hat Trent gesagt. Und so ziemlich jeder hasst seinen Boss … Aber so sehr, dass sie gegenüber Terroristen schlecht über ihn redeten?
Reston musste wirklich unbeliebt sein.
„Arbeitet sonst noch jemand hier, der sich nicht in diesem Raum befindet?“, fragte Leon. „Wir möchten nicht überrascht werden …“
Die Andeutung war offenkundig, aber ebenso offenkundig war, dass sie aus den hier versammelten Angestellten nichts mehr herausbekommen würden. Sie mochten Reston hassen, aber anhand der verschränkten Arme und der finsteren Mienen erkannte John, dass sie über keinen der ihren reden würden. Wenn sich überhaupt noch sonst jemand in der Anlage befand, was er bezweifelte. Trent hatte gesagt, es sei eine kleine Besetzung …
… was bedeutet, dass es wahrscheinlich Reston war, der uns herunterbrachte, und das bedeutet auch, dass wir zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen könnten, falls wir ihn finden – wir kriegen das Buch und bringen ihn dazu, den Aufzug wieder in Gang zu setzen. Wir sperren Reston in einen Schrank, kehren zu David und den Mädchen zurück und verdrücken uns, noch ehe etwas Unerwartetes passieren kann.
John nickte Leon zu. Rückwärts bewegten sie sich zur Tür. John wurde bewusst, dass er nicht einfach so gehen wollte, dass er etwas wie Mitgefühl für diese Männer verspürte, die er aus dem Bett gezerrt hatte. Nicht viel, aber ein klein wenig schon.
„Wir werden diese Tür absperren“, sagte John, „aber Sie werden okay sein, bis die Firma jemanden schickt. Sie haben zu essen … und wenn ich Ihnen einen kleinen Rat geben darf, dann hören Sie mir genau zu: Umbrella, das sind nicht die Guten. Was immer sie ihnen bezahlen, es ist nicht genug. Es sind Mörder.“
Die ausdruckslosen Blicke folgten ihnen, bis sie aus dem Raum heraus waren. Leon schloss die Doppeltür und machte sich daran, das provisorische Schloss anzubringen: Er zog die Kette durch die Griffe und bog die Kleiderbügel zurecht. John ging die paar Schritte bis zur Ecke und schaute den langen, grauen Gang hinunter, den sie vom Fahrstuhl aus betreten hatten. Sie konnten ihren einmal begonnenen Weg fortsetzen, um nach Reston zu suchen. Nicht weit hinter dem Unterkunftsbereich machte der Gang eine Biegung.
Aber dort ist er nicht, dachte John und erinnerte sich des Geräusches, das er gehört hatte, als sie hier unten angelangt waren. Er ist irgendwo dort, von wo wir hergekommen sind.
Leon hatte die Tür gesichert und kam zu ihm. Er wirkte etwas blass, aber immer noch fit. „Also, suchen wir jetzt nach Reston?“
„Ja“, antwortete John und fand, dass sich der Junge in Anbetracht der Umstände ziemlich gut hielt. Er besaß nicht viel Erfahrung, aber er war klug, hatte Mut, und er klammerte sich nicht an seiner Waffe fest. „Hältst du noch durch?“
Leon nickte. „Ja. Es ist nur – meinst du, die sind okay dort oben?“
„Nein, ich schätze, die frieren sich den Arsch ab, während sie auf uns warten“, grinste John und hoffte, dass dem so war – dass Reston nach der Festsetzung des Aufzugs nicht die Hunde losgelassen hatte, oder was immer es hier auch für ein Gegenstück dazu geben mochte.
Oder Unterstützung angefordert hat …
„Bringen wir’s hinter uns“, sagte John, und Leon nickte. Dann marschierten sie den Gang wieder hinunter, um herauszufinden, was hier eigentlich vorging.