NEUNUNDZWANZIG

Sherry hatte Angst, doch Mr. X war tot. Er musste schon die ganze Zeit über das Monster gewesen sein, nicht jenes im Polizeirevier, sondern das echte Monster, das alles daran gesetzt hatte, sie in Fetzen zu reißen

Ihr blieb jedoch keine Zeit, darüber nachzudenken, denn Claire rannte dorthin zurück, von wo sie gekommen waren, und zerrte sie mit sich durch den Maschinenraum, durch den Gang mit dem Kriechboden und um eine Ecke

– und Sherry schrie, als ein Zombie auf sie zuwankte, eine tote, weiße Kreatur aus schmutzigen Knochen. Doch Claire hob ihre Waffe und schoss, und der trockene weiße Kopf löste sich auf. Die stöhnende bleiche Kreatur ging zu Boden, und dann zog Claire Sherry auch schon über den Toten hinweg und lenkte sie auf die Tür am Gangende zu.

Es war ein Aufzug. Sherry brach an einer der Kabinenwände zusammen, nachdem Claire sie hineingezogen hatte. Sie versuchte, zu Atem zu kommen, während Claire die Steuerung bediente. Nach dem Tempo ihrer Flucht vor Mr. X, war die Abwärtsbewegung des Aufzugs nur ein Kriechen, ein leise summendes Kriechen.

„Wir schaffen es“, keuchte Claire, „es dauert nicht mehr lange.“

Sherry nickte, doch ihr Herz hämmerte noch heftiger, als die seelenlose Stimme ihnen sagte, dass sie noch vier Minuten hatten, um sich in Sicherheit zu bringen.

Leon hatte das Gefühl, vergessen zu haben, wie man aufstand und davonging. Das Bild von Adas gefasstem, schönem Gesicht in der Sekunde, bevor sie losließ, verfolgte ihn

Sie ist tot. Ada ist tot

Die Starre wich. Er griff nach der Beretta, und neue Trauer überkam ihn, als er sie aufhob. Die Waffe war noch warm von ihrer Berührung und sie war leicht, um gut die Hälfte zu leicht, weil sie nicht geladen war. Es steckte nicht einmal ein Magazin drin. Sie hatte nie vorgehabt, ihn zu verletzen; sie hatte gelogen, hatte die ganze Zeit über gelogen, aber sie hatte nie vorgehabt, ihm wehzutun.

„… vier Minuten, um den Mindestsicherheitsabstand zu erreichen. Das verbleibende Personal muss die Einrichtung sofort verlassen. Melden Sie sich an der unteren Plattform

Vier Minuten. Er hatte vier Minuten, um sich so weit zu entfernen, dass er Adas letzten Wunsch erfüllen konnte.

Leon stand auf, drehte sich zur Tür um und hielt inne, fasste in seine Tasche und holte das Glasröhrchen hervor, das mit der purpurnen Flüssigkeit gefüllt war. Er wusste, dass er keine Zeit zu verlieren hatte, aber es brauchte nur eine Sekunde, um mit dem Arm auszuholen und die Probe so heftig von sich zu schleudern, wie er nur konnte er wollte sie so weit wie möglich von sich entfernt wissen.

Wenn das Laboratorium, das für all die Toten verantwortlich war, in Flammen aufging, sollte das G-Virus mit verbrennen.

„Ja!“

Die Aufzugstür öffnete sich und da war ein Zug, eine geheime U-Bahn in glänzendem Silber. Still und dunkel stand sie da, es war nicht die eingeschaltete, betriebsbereit wummernde Maschine, die Claire zu sehen erhofft hatte, aber es war trotzdem das schönste Fluchtfahrzeug, das sie je erblickt hatte, ganz bestimmt.

Sherry hielt sich an Claires Arm fest, als sie zur vorderen Tür der U-Bahn, die drei Waggons besaß, rannten. Die plärrenden Sirenen erklangen unverändert, echoten durch den Tunnel aus Beton. Die ausdruckslose Stimme der Frau, diese Stimme, die Claire nun schon seit geraumer Zeit hasste, informierte sie, dass ihnen noch drei Minuten blieben, um den Mindestsicherheitsabstand zu erreichen.

Sie eilten an Bord. Claire stellte fest, dass es keine Sitze gab, nur eine weite, leere Fläche, wo die Passagiere stehen konnten. Der Führerstand befand sich links.

„Dann wollen wir die Show mal starten“, sagte Claire, und der strahlende Ausdruck von Hoffnung auf Sherrys verschmutztem, erschöpftem Gesicht brach ihr ein klein wenig das Herz.

O Baby

Claire wandte rasch den Blick ab, sprang die Stufen zum Führerstand hinauf und schwor sich im stillen, dass sie, falls der Zug nicht funktionierte, Sherry eigenhändig durch den Tunnel tragen würde sie würde alles tun, was nötig war, um diese zerbrechliche Hoffnung in den Augen des Mädchens nicht verlöschen zu sehen.

Der Code und die Verifikations-Disk, die er im Operationssaal gefunden hatte, öffneten die Tür, genau wie Ada es gesagt hatte. Dahinter lag ein kurzer Gang. Es waren noch drei Minuten Zeit. Leon rannte den kalten Korridor hinab, durch eine weitere überbreite Tür, an der ein Lebensgefahr-Symbol prangte, und fand sich im Frachtraum wieder.

Er hatte keine Zeit, stehen zu bleiben und sich richtig umzusehen. Er war darauf fixiert, zum Aufzug zu gelangen, ehe die Bandstimme ihm mitteilte, dass er unmöglich noch lebend aus der Einrichtung entkommen könne. Leon rannte zur Rückseite des weiten, seltsam rot getönten Raumes, fand die Steuerung für den großen Lagerhausaufzug und schlug auf den Knopf, bereit, hineinzuspringen und von hier zu verschwinden

– doch es passierte nichts, abgesehen davon, dass eine Reihe winziger Lichter etwa zwanzig winzige Lichter über der Aufzugtür in absteigender Folge zu blinken begannen. Langsam.

Leon streckte die Hand aus und hieb abermals auf den Knopf. Er empfand etwas wie tauben Unglauben, während der Aufzug nach unten kroch und zwischen den einzelnen Etagen scheinbar minutenlang verweilte, während die Sirenen dröhnten und der Countdown zur Zerstörung des Labors mehr und mehr dem Ende entgegentickte.

„Jesus!“ Er drehte sich um, hatte das Gefühl, brüllend um sich schlagen zu müssen, wenn er noch länger zum Warten verdammt war

– und zum ersten Mal sah er den Raum, in dem er sich befand, richtig. Die beiden hohen, breiten Regale, die an den Längsseiten des Saales verliefen, beinhalteten eine ganz besondere Art von „Lagergut“ obwohl das halbe Dutzend riesiger Glasbehälter, die sich auf beiden Regalen türmten, nichts anderes enthielt als klare, rote Flüssigkeit, verursachte der Anblick Leon eine Gänsehaut. Jeder Zylinder war so groß, dass ein erwachsener Mensch hineingepasst hätte, und er fragte sich, wofür sie gemacht worden waren.

Egal, sie werden in ein paar Minuten eh in die Luft gehen, genau wie ich, wenn sich dieses gottverdammte Ding nicht BEEILT !

Er wandte sich wieder dem Aufzug zu, fast froh über seine Wut und Frustration; so hatte er wenigstens etwas, das er neben der Trauer empfinden konnte.

Die Decke über dem Fahrstuhl fing an zu beben und zu klappern Leon wich zurück, richtete seine Magnum auf das massive Metalldeckenteil, als es auch schon herabkrachte, und

– das Monster aus dem Transportlift landete vor ihm, dieselbe dämonische Kreatur, die Ada verletzt hatte, die ihn hätte töten sollen!

Birkin ?

So, wie das Wesen seinen eigenartigen Kopf zurückwarf und heulte, sein bösartiges, barbarisches Gebrüll das Alarmgeplärre noch übertönte, hegte Leon jedenfalls keinen Zweifel daran, dass es nur gekommen war, um zu Ende zu bringen, was es vorhin begonnen hatte.

Die U-Bahn war bereit, war startklar es schien lediglich, als habe der Öffnungsmechanismus für das Tunneltor nicht funktioniert: Inmitten der grünen Lichter auf der Konsole brannte ein rotes, das darauf beharrte, dass das Tor manuell geöffnet werden musste.

Zwei Minuten, um den Mindestsicherheitsabstand zu erreichen.

Schaffen es nicht, das schaffen wir nie

„Bleib hier“, sagte Claire und ging hinaus, um den Auslöser zu finden, und hoffte, dass dies kein echtes Problem darstellte.

Leon drehte sich um und stürmte davon, als das Monster auf ihn zukam. Jeder der mächtigen Schritte des Ungeheuers dröhnte durch den saalartigen Raum, und die Echos der fürchterlichen Schreie hallten noch immer von den Wänden wider.

Denk nach!

Die Shotgun hatte nicht genügt, er musste das Ding an einer wirklich verwundbaren Stelle treffen. Die Augen, nimm die Magnum!

Leon war wieder an der Tür. Er wirbelte herum und drückte ab, die Magnum auf das Gesicht der Kreatur gerichtet

– aber dieses Gesicht veränderte sich wieder, die Kinnlade sackte herab, fiel buchstäblich ab, als das Wesen schrie. Große, gezackte Dornen von Zähnen oder Klauen schoben sich aus den Überresten des Maules, aus der pulsierenden Brust und als ein weiterer Schrei aus der mutierenden Kehle des Monstrums hervorbrach, sah Leon, wie sich links und rechts zwei neue Arme entfalteten. Die Glieder schnappten an ihren Platz, die Ellbogen rasteten ein, klauenbewehrte Finger wuchsen wie fette Würmer aus den Enden.

Bamm-bamm-bamm!

Die Treffer saßen dicht beieinander, schlugen in die dünne, gedehnte Haut über dem linken geschlitzten Auge des Ungetüms. Es brüllte auf, diesmal vor Schmerz, und Leon sah, wie Knochensplitter und eiterfarbene Flüssigkeit hervorspritzten. Ein schmaler Strom dunklen Blutes verhüllte den gelben Augapfel des Monsters.

Es warf den Kopf vor und zurück, versprühte noch mehr Flüssigkeit, hockte sich hin wie ein entarteter Frosch

– und sprang in die Luft, hüpfte hoch und nach rechts und landete mit einem tierhaften Grunzen auf einem der über zwei Meter hohen Regale.

O Scheiße, wie hat es das gemacht ?

Leon konnte die Augen des Monsters nicht sehen, nur seinen Rücken, als es zusammensank und es veränderte sich abermals. Leon konnte die feuchten, knackenden Laute hören und sehen, wie sich die knöchernen Stacheln durch das purpurne Fleisch des Rückens bohrten.

Er wollte nicht sehen, wozu es wurde, doch der Aufzug war noch immer nicht angekommen, und er hatte gerade noch zwei gottverdammte Minuten.

Leon ergriff ein neues Magazin und rammte es in die Waffe, dann schoss er auf das, was er sehen konnte einen Umriss mit sechs Beinen, eine Gestalt, die nicht länger auch nur annähernd menschlich wirkte.

Der Schuss traf eine der muskulösen Schultern, und die Kreatur sprang. Wie ein wildes, spinnenhaftes Tier hüpfte sie wieder zu Boden und landete ein paar Schritte vor Leon. Aus der Brust des Wesens war ein Wall seltsamer Zähne geworden, Pfähle, die sich unter dem Hecheln des Ungeheuers öffneten und schlossen und als es wieder aufbrüllte, war es das Brüllen eines Dämons, war es wie nichts, was Leon jemals zuvor gehört hatte wie die Todesschreie von tausend verdammten Seelen.

Leon versenkte zwei Kugeln in dem Gewirr sich bewegender Zähne und stolperte davon und durch den steten Lärm der Sirenen hindurch hörte er endlich das helle, muntere Ping, mit dem der Aufzug eintraf.

Claire rannte zum vorderen Ende des Zuges, besah sich die Hebel- und Schalterreihen, die in die Wand eingelassen waren, runzelte die Stirn, fand den rotweißen Hebel in weniger als zehn Sekunden und rammte ihn nach unten. Von irgendwo vor dem Zug hörte sie ein Knirschen von Metall. Sie machte kehrt, um zurück zur Tür zu laufen

– als sie abermals metallische Geräusche hörte, das kreischende Getöse von Stahl, der verbogen und aus seiner Form gedroschen wurde; es klang irgendwo hinter der U-Bahn auf, irgendwo im hinteren Bereich des Tunnels

Nein, unmöglich.

Sie starrte zum hinteren Ende des Zuges, durch das Metallgitter eines geschlossenen Tores, das zurück ins Dunkel führte und hörte ein Geräusch wie von Knochen auf Beton, ein mahlender, schwerer Laut, der sich einmal wiederholte und dann noch einmal.

Schritte.

Claire rannte auf die Tür zu. Sie wusste, dass es nicht Mr. X sein konnte, das war unmöglich, denn er war geschmolzen, tot, sie hatten das G-Virus nicht mehr in ihrem Besitz

Da erhaschte sie einen Blick auf Bewegung hinter den Gitterstäben, etwa zehn Meter entfernt. Einen Blick auf etwas Großes. Rauchfetzen kräuselten sich durch die Dunkelheit und dazu der bittere, stickige Geruch von Verbranntem.

Es trat aus den Schatten auf das Ende des Zuges zu, hob seine verkohlten, gewaltigen Fäuste

WOAMMM!

– und der Waggon erbebte förmlich, als Claire erkannte, dass es Mr. X war oder was von ihm noch existierte und dass er ganz gewiss ein Dämon geradewegs aus der Hölle war!

Während der Fahrt im Aufzug hatte sie all ihre Munition in ein Magazin geladen. Elf Schuss standen ihr noch zur Verfügung. Das konnte unmöglich ausreichen, aber es war alles, was noch blieb.

Claire hob Irons’ Pistole und fragte sich, ob dies das Ende war.

Leon rannte um das Regal zu seiner Rechten herum und hielt wieder auf den Fahrstuhl zu. Direkt hinter ihm waren galoppierende Schritte, die er nicht aufzuhalten vermochte.

Noch eine Kehre, zurück durch den Mittelteil

– und etwas traf ihn in den Rücken. Er wurde nach vorne geschleudert und zu Boden, als die Bestie ihn gleichsam rammte. Heißes, gummiartiges Fleisch schmetterte ihn zu Boden.

Leon rollte sich herum. Es war auf ihm, die tropfenden Zähne bereit, sich in seinen Kopf zu graben, die dicken Beine nagelten ihn fest. Der augenhafte Tumor war immer noch da, er öffnete sich auf der Schulter des Monsters, starrte Leon an

– und der stieß den Lauf seiner Waffe gegen das geifernde Kinn und drückte ab. Schreiend jagte er dem Ding die großkalibrigen Geschosse in den zustoßenden Schädel.

Die Bestie kreischte auf, fuchtelte mit den Armen, kippte seitlich von Leon herunter. Blitzschnell kam er hoch und rannte weiter, schnurstracks auf den offenen Lift zu. Das gewaltige, absurde Tier heulte immer noch, als Leon sich in den Aufzug warf und sich umdrehte, den Knopf, der mit „Abwärts“ markiert war, drückte

– und sah, wie das Monster sich schüttelte, wie es sich veränderte, schrie und Knochen, Fleisch und Blut spuckte, sich ebenfalls umwandte und auf den Aufzug zuhielt. Mit jedem staksenden Schritt wurde es schneller, die Tür schloss sich grausam langsam, die schreckliche Kreatur flog jetzt beinahe heran

– und Leon, die Shotgun in Händen, lud durch und drückte ab. Der Schuss traf die gewölbte Brust des Ungeheuers, warf es zurück

– und die Tür schloss sich. Leon fuhr nach unten. Ihm blieb nur noch eine einzige lächerliche Minute.

Resident Evil - Sammelband 02 - Der Umbrella-Faktor
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