SECHS
Ada Wong schob die schimmernde Metallscheibe in den Schlitz der Statue und drückte dagegen, bis sie bündig mit dem Marmor abschloss. Kaum dass sich die Scheibe an Ort und Stelle befand, hörte Ada, wie sich ein verborgener Mechanismus in Gang setzte. Sie trat zurück, um zu sehen, was passieren würde. Ihre Schritte hallten durch die weite Lobby des RCPD-Gebäudes und wurden aus dem sich über drei Etagen erstreckenden, offenen Raum zu ihr zurückgeworfen.
Ein weiterer Schlüssel? Eine der Medaillen für den Keller? Oder vielleicht die Probe selbst – hier versteckt, direkt vor meiner Nase … Wäre das nicht eine angenehme Überraschung?
Ja, wenn Schweine fliegen könnten … Die aus Stein gefertigte wassertragende Nymphe kippte in leichtem Winkel nach vorn, aus dem Krug auf ihrer Schulter fiel ein schmales Metallstück auf den Rand des abgeschalteten Brunnens.
Der Pik-Schlüssel.
Seufzend hob Ada ihn auf. Die Schlüssel hatte sie bereits. Im Grunde besaß sie alles, was sie brauchte, um das Revier zu durchsuchen, und das Meiste dessen, was nötig war, um ins Labor zu gelangen. Hätte niemand bei Umbrella die Bombe hochgehen lassen, wäre die Aufgabe ein Kinderspiel gewesen. Leicht verdientes Geld.
Aber was kriege ich statt dessen? Einen dreitägigen Urlaub ohne Komfort und eine Nacht der Duelle gegen lebende Tote. Ich darf „Jag-die-Kugel-ins-Hirn“ und gleichzeitig „Lasst-uns-den-Reporter-finden“ spielen. Die Proben könnten inzwischen sonst wo sein, je nachdem, wer überlebt hat. Vorausgesetzt, ich schaffe es, hier mit dem Zeug rauszukommen, werde ich einen gottverdammt hohen Zuschlag verlangen – niemand sollte unter diesen Bedingungen arbeiten müssen.
Ada schob den Schlüssel in ihre Hüfttasche, schaute dann mit abwesendem Blick zur oberen Balustrade der beeindruckenden Halle empor und hakte im Geist die Räume ab, in denen sie bereits gewesen war sowie diejenigen, die sie gründlicher in Augenschein genommen hatte. Bertolucci war nirgendwo im Ostteil des Gebäudes zu finden gewesen, weder oben noch unten. Sie hatte, wie ihr schien, Stunden damit zugebracht, in tote Gesichter zu starren und die stinkenden Leichenhaufen nach seinem kantigen Kinn und seinem anachronistischen Pferdeschwanz zu durchsuchen. Natürlich war es möglich, dass er seinen Standort wechselte – aber nach allem, was sie über ihn wusste, war das eher unwahrscheinlich; der Reporter war wie ein Hase, ein Typ, der sich im Angesicht der Gefahr versteckte.
Apropos Gefahr …
Ada schüttelte sich und ging zurück zu der Tür, die in den unteren Ostflügel führte. Die Lobby war halbwegs sicher vor den Virusträgern – sie schienen das Konzept von Türknäufen nicht zu begreifen –, aber es gab neben den Infizierten noch weitere Bedrohungen. Gott allein wusste, wen Umbrella zum Aufräumen herschicken würde … oder was im Laboratorium freigesetzt worden war, als das Leck auftrat. Weniger furchterregend, aber genauso lästig waren die überlebenden Cops, die immer noch umherschwadronieren und nach Leuten suchen mochten, die sie retten konnten. Ada hatte Schüsse gehört, einige weit weg, andere nicht; es gab also zumindest noch ein paar Nichtinfizierte in dem weitläufigen alten Gebäude. Im Vergleich zu dem Versuch, einen „echten“ Menschen, der bewaffnet war, davon zu überzeugen, dass sie lebte und keine Gesellschaft haben wollte, schien es ihr fast reizvoll, den Untoten gegenüberzutreten.
Auf den Fußballen laufend, um unnötigen Lärm zu vermeiden, schlüpfte Ada durch die Tür und lehnte sich dann dagegen. Sie befand sich am Ende eines langen Korridors. Hier konnte sie ihr weiteres Vorgehen in relativer Sicherheit und Ruhe planen. Obwohl sie den Keller noch nicht überprüft hatte und nach wie vor etliche Virus-Träger in den RCPD-Büros herumstreiften, waren die Türen entlang des Flures alle geschlossen – wenn jemand oder etwas auf sie losgehen wollte, würde sie es rechtzeitig sehen und verschwinden können.
Ach ja, das aufregende Leben einer freien Agentin. Reise um die Welt! Verdiene dein Geld mit dem Stehlen wichtiger Unterlagen und Artefakte! Halte dir lebende Tote vom Hals, nachdem du drei Tage lang weder geduscht noch etwas Anständiges gegessen hast – lass deine Freunde vor Neid erblassen!
Sie rief sich noch einmal in Erinnerung, dass sie auf diesen Zuschlag bestehen wollte. Als sie vor weniger als einer Woche in Raccoon eingetroffen war, hatte sie gedacht, sie sei vorbereitet. Sie hatte die Karten studiert, sich die Unterlagen des Reporters eingeprägt und ihre Tarnidentität hatte festgestanden – eine junge Frau, die ihren Freund suchte, einen Umbrella-Wissenschaftler. Dieser Teil war beinahe wahr; tatsächlich war es ihre kurze Beziehung mit John Howe vor knapp zehn Monaten gewesen, die ihr diesen Job eingebracht hatte. Eigentlich war es eher ein One-Night-Stand gewesen, und nicht mal ein besonders guter – aber John hatte anders darüber gedacht, und seine Verbindung zu Umbrella, auch wenn sie ihn wahrscheinlich das Leben gekostet hatte, hatte sich für Ada als Glücksfall erwiesen.
Sie war also vorbereitet gewesen. Aber innerhalb von vierundzwanzig Stunden nach ihrem selbstsicheren Einchecken in einem der besten Hotels von Raccoon City, hatte sich das Blatt für sie gewendet. Während sie in der mit viel Vinyl ausgestalteten und weitenteils leeren Lounge des Arklay Inns zu Abend gegessen hatte, waren draußen die ersten Schreie aufgeklungen. Die ersten, aber keineswegs die letzten.
In gewisser Hinsicht war die eingetretene Katastrophe von Vorteil für sie, denn nun würden keine Wachen um das Labor postiert sein. Sie würde nicht zigmal versuchen müssen, sich anzuschleichen und dabei jede Deckung zu nutzen. Laut der Information, die sie vorab über das T-Virus eingeholt hatte, war es an der Luft kurzlebig und es starb schnell ab. Die einzige Möglichkeit, sich jetzt noch damit anzustecken, war der Kontakt mit einem Träger. In dieser Hinsicht gab es also kein Problem – und nachdem sie und ein paar Dutzend andere es zum Polizeirevier geschafft hatten, hatte Ada gesehen, dass sich Bertolucci darunter befand. Trotz der Untoten hatte es anfänglich ausgesehen, als liefen die Dinge zu ihren Gunsten.
Missionsziele: Befrage den Schreiberling, finde heraus, wie viel er weiß, und bring ihn um oder vergiss ihn, je nachdem. Berge eine Probe von Dr. Birkins neuestem Wunder-Virus … Kein Problem, oder?
Vor drei Tagen – mit dem Wissen, wie das Umbrella-Labor mit dem Abwasserkanalsystem verbunden war, und Bertolucci direkt vor ihrer Nase – hatte es den Anschein gehabt, als sei der Job so gut wie erledigt. Aber natürlich hatte die Sache von da an noch gehörig schieflaufen müssen.
Das umgemodelte Revier, in dem die Räume nach dem S. T. A. R. S.-Fiasko neu aufgeteilt wurden, hat die Hälfte meiner Vorbereitungen hinfällig gemacht. Menschen, die verschwanden. Barrikaden, die fortwährend fielen. Polizeichef Irons, der wie ein billiger Diktator mit Befehlen um sich warf und immer noch versuchte, Bürgermeister Harris und seine jammernde Tochter zu beeindrucken, während sich die Toten längst immer höher stapelten …
Ada hatte Bertolucci im Auge behalten und bemerkt, dass er sich verdrücken wollte – seinen tatsächlichen Abgang jedoch hatte sie versäumt. Sie hatte nicht einmal Zeit gehabt, Kontakt aufzunehmen, bevor er sich ins Labyrinth des Reviers abgesetzt hatte und im Chaos der ersten Angriffswelle untergetaucht war. Ada hatte beschlossen, im Alleingang vorzugehen, nachdem kaum eine Stunde später drei Viertel der Zivilisten durch einen einzigen Massenangriff ausgelöscht worden waren, und das nur, weil sich niemand darum gekümmert hatte, die Garagentore zu schließen. Sie war nicht willens zu sterben, nur um ihre Tarnidentität als verängstigte Touristin zu wahren, die nach ihrem Freund suchte.
Und dann hatte das Warten begonnen. Fast fünfzig Stunden hatte sie, geduckt im Uhrenturm des zweiten Stockwerks, darauf gewartet, dass sich die Lage beruhigte. In den länger werdenden Pausen zwischen den Feuergefechten war sie hinunter gehuscht, um etwas Essbares zu finden oder aufs Klo zu gehen, inmitten des hallenden Ratterns von Schüssen und der Schreie …
Großartig. Jetzt bist du also hier, und was tust du? Stehst herum und hängst deinen Gedanken nach. Mach weiter – je eher du fertig bist, desto eher kannst du deinen Lohn einsacken und dich irgendwo auf einer hübschen Insel zur Ruhe setzen.
Dennoch verharrte Ada noch einen Augenblick lang, tippte mit der Mündung ihrer Beretta geistesabwesend gegen eines ihrer langen, bestrumpften Beine. Drei Leichen lagen im Flur. Sie konnte nicht aufhören, diejenige anzustarren, die verkrümmt unter einem Fensterschalter auf halbem Wege den Gang hinunter lag. Eine Frau in abgeschnittenen Shorts und einem Top, die Beine ordinär gespreizt, einen Arm über ihren blutbesudelten Kopf gekrümmt. Die anderen beiden waren Polizisten, die Ada nicht wiedererkannte – die Frau allerdings gehörte zu den Leuten, mit denen sie gesprochen hatte, nachdem sie es zum Revier geschafft hatten. Ihr Name war Stacy gewesen, ein nervöses, aber willensstarkes Mädchen, das gerade dem Teenageralter entwachsen war.
Stacy Kelso, so hatte sie geheißen. Sie war in die Stadt gegangen, um Eiskrem zu kaufen, und dabei in die Attacke geraten – und doch hat sie sich mehr um ihre Eltern und ihren kleinen Bruder zu Hause gesorgt, als um ihre eigene Notlage. Ein pflichtbewusstes Mädchen. Ein gutes Mädchen.
Warum dachte sie darüber nach? Stacy war tot, hatte ein ausgefranstes Loch in der linken Schläfe, und sie war nicht Adas Schutzbefohlene gewesen; es war also nicht so, dass Ada sich persönlich für ihr Schicksal hätte verantwortlich fühlen müssen. Sie war hergekommen, um einen Job zu erledigen, und es war nicht ihre Schuld, dass in Raccoon die Hölle ausgebrochen war …
Vielleicht geht es nicht um Schuldgefühle, flüsterte ein Teil von ihr. Vielleicht tut es dir nur leid, dass sie es nicht geschafft hat. Sie war schließlich ein Mensch, und jetzt ist sie tot, wie es wahrscheinlich auch ihre Eltern und ihr kleiner Bruder sind …
„Schluss damit!“, sagte sie leise, aber leicht gereizt. Sie riss ihren Blick von der Mitleid erregenden Gestalt los und richtete ihn stattdessen auf einen zerbrochenen Aschenbecher am Ende des Korridors. Sich schlecht zu fühlen aufgrund von Dingen, die sie nicht beeinflussen konnte, war nicht ihre Art – und angesichts dessen, wie viel Mr. Trent es sich kosten ließ, ihre Dienste in Anspruch zu nehmen, war jetzt nicht die beste Zeit, um ihre Gefühlswelt zu analysieren. Menschen starben, das war der Lauf der Welt, und wenn sie in ihrem Leben irgendetwas gelernt hatte, dann das, dass es sinnlos war, sich über diese spezielle Wahrheit zu grämen.
Missionsziele: Mit Bertolucci reden und die G-Virus-Probe besorgen. Das war alles, was sie zu kümmern hatte.
Ein paar Ecken von ihrem momentanen Standort entfernt, im Pressekonferenzraum, gab es einen Mechanismus, den Ada noch überprüfen musste. Trents Notizen über die jüngsten architektonischen Ergänzungen des Reviers waren lückenhaft gewesen, aber sie wusste, dass es mit der Verzierung, skulpturartigen Gaslampen und einem Ölgemälde zu tun hatte. Wer immer all diese Arbeiten in Auftrag gegeben hatte, führte ein außerordentlich undurchsichtiges Leben. Oben, hinter der Wand eines einstigen Lagerraums, gab es regelrechte Geheimgänge. Ada hatte sie sich noch nicht angesehen, aber ein rascher Blick hatte ihr gezeigt, dass der Raum selbst in ein Büro umfunktioniert worden war. Der übertriebenen und neurotisch machohaften Ausstaffierung nach zu schließen, gehörte es vermutlich Irons. Selbst in der kurzen Zeit, die sie in seinem Laden zugebracht hatte, hatte sie feststellen können, dass er nicht der gefestigste Charakter auf Erden war. Er stand fraglos auf der Gehaltsliste von Umbrella, aber er hatte darüber hinaus etwas an sich, das förmlich nach Gestörtheit roch.
Ada ging den Flur hinunter, ihre Schuhe klickten laut auf den zerkratzten blauen Fliesen. Schon jetzt befürchtete sie ein weiteres zeitraubendes mechanisches Puzzle. Nicht, dass das etwas nützte – sie hatte von Anfang an angenommen, dass das Virus noch im Labor sei –, aber sie konnte es nicht riskieren, sich eine möglicherweise frühere Entdeckung durch die Lappen gehen zu lassen. Laut Unterlagen gab es acht bis zwölf Phiolen von dem Zeug, je eine Unze fassend; diese Information entstammte einem zwei Wochen zurückliegenden Video-Briefing – und Birkins Labor war alles andere als uneinnehmbar. Da das Labor durch die Kanalisation mit dem Revier verbunden war, musste Ada die Möglichkeit in Betracht ziehen, dass die Proben fortgeschafft worden waren. Außerdem konnte sich Bertolucci in der Recherchebibliothek versteckt halten oder in den S. T. A. R. S.-Büros auf der Westseite, vielleicht in der Dunkelkammer – tot oder nicht, sie musste ihn finden. Und es würde ihr auch die Chance einräumen, im RCPD-Gebäude noch ein paar Neunmillimeter-Clips einzusammeln.
Sie folgte dem Gang, der sie an einem kleinen Wartebereich vorbeiführte, in dem Verkaufsautomaten standen, die bereits aufgebrochen und geplündert worden waren. Genau wie der Rest des Reviers war der Korridor kalt und hätte dringend eines Lufterfrischers bedurft; an den Geruch hatte sie sich gewöhnt, aber die Kälte war mörderisch. Zum hundertsten Mal, seit sie ihren Tisch im Arklay verlassen hatte, wünschte sich Ada, dass sie sich zum Abendessen legerer gekleidet hätte. Das ärmellose rote Tunikakleid und klappernde Schuhe hatten zwar zu ihrer Tarnung gepasst – als Einsatzkleidung war das Outfit jedoch alles andere denn praktisch.
Sie erreichte das Ende des Flures und öffnete, die Waffe halb erhoben, vorsichtig die Tür zu ihrer Linken. Wie zuvor war der Gang sauber, wenn auch ein weiteres Zeugnis der geschwundenen Eleganz des Gebäudes – hier waren es dunkle sandfarbene Wände und symmetrisch gemusterte Kacheln. Das Revier musste einst prachtvoll gewesen sein, doch die Jahre, in denen es als institutionelle Einrichtung gedient hatte, hatten seine Erhabenheit aufgezehrt. Das ramponierte Aussehen und die kalte, hoffnungslose Atmosphäre erzeugten ein düsteres Feeling – als könnte einem jeden Moment eine kalte Hand auf die Schulter fallen und ein Hauch verfaulten Atems über den Nacken streifen …
Abermals legte Ada die Stirn in Falten – nach diesem Job würde sie einen sehr langen Urlaub machen. Entweder das, oder es war an der Zeit, sich einen neuen Beruf zu suchen. Ihre Konzentration – ihre Fähigkeit, alles Denken auf ein Ziel zu fokussieren – war nicht mehr das, was sie einmal gewesen war. Und in ihrer Branche konnte ein Flüchtigkeitsfehler im falschen Augenblick buchstäblich den Tod bedeuten.
Fette Zulage. Trent stinkt vor Geld. Ich werde um einen siebenstelligen Betrag bitten, mindestens aber um einen im höheren sechsstelligen Bereich.
In ihrem Bemühen, ihre Gedanken auf das Wesentliche zu bündeln, stellte Ada fest, dass sie das hartnäckige Bild nicht zu unterdrücken vermochte, das fortwährend durch ihren Kopf kroch. Eine Erinnerung an die junge Stacy Kelso, die sich nervös das Haar hinter die Ohren schob, während sie von ihrem kleinen Bruder erzählte …
Nach, wie ihr vorkam, sehr langer Zeit schüttelte Ada die lästige Vision endlich ab, ging weiter den Gang hinab, schwor sich, dass sie sich keine weiteren Konzentrationsschwächen erlauben würde – und fragte sich, warum sie es nicht schaffte, dies auch zu glauben.