KAPITEL 43
Ich schrecke aus dem Schlaf. Wo bin ich? Ich fahre hoch. Dann trifft mich die Erkenntnis wie ein Schlag in die Magengrube. Dad.
Rosemary schläft noch, als ich taumelnd auf die Füße komme. Wie spät ist es? Kurz nach sechs, sagt mir die Uhr an der Wand. Ich habe mehrere Stunden geschlafen.
Es ist noch immer still im Krankenhaus, und als ich den Korridor entlang zur Intensivstation haste, ist weit und breit niemand zu sehen. Selbst die Schwestern, die draußen am Empfangsschalter gesessen haben, sind verschwunden. Ich sehe zu den Fenstern hinüber, kann jedoch keinen Blick hinter die Jalousien erhaschen. Da niemand hier ist, öffne ich die Tür.
Der Raum ist schwach erleuchtet und bis auf das rhythmische Piepsen des Herzmonitors still. Eine Woge der Erleichterung erfasst mich.
Er lebt noch.
Ich hole tief Luft und trete leise ans Bett, um ihn nicht aufzuwecken. Doch kaum habe ich die Hand ausgestreckt, um ihn zu berühren, reiße ich sie abrupt zurück.
Das ist nicht mein Vater.
Mein Magen stülpt sich um. Ein viel jüngerer Mann liegt im Bett meines Vaters. Ich erkenne eine ausgedehnte Tätowierung in Form eines Vogels an seinem Hals, das Pulsieren seiner Hauptschlagader, die fahle Farbe seiner Haut. Es fühlt sich an, als tue sich die Erde unter mir auf.
»Entschuldigung, aber Sie dürfen sich nicht hier aufhalten.«
Ich wirble herum und sehe zwei Schwestern dastehen.
»Wo ist mein Vater?«, schluchze ich verzweifelt. »Was ist mit ihm passiert? Was haben Sie mit ihm gemacht?« In meinem Kopf dreht sich alles, und als die beiden auf mich zugeeilt kommen, schnappe ich nach Luft. Sekunden später sind sie bei mir und trösten mich, doch ich höre nicht, was sie sagen. Ich höre nichts als das Heulen in meinem Kopf. Denn ich weiß es.
»Er ist tot, stimmt’s?«, japse ich. »Er ist tot … er ist tot …«
Sie führen mich aus dem Raum und stützen mich, als meine Beine nachgeben wie bei einer Gliederpuppe.
»Miss Hamilton, ich bin’s, Mr. Bradley … Miss Hamilton, hören Sie mir doch zu …«
Ein Mann in einem weißen Kittel beugt sich über mich, doch ich kann ihn nicht klar erkennen. Es ist, als schiebe sich Dunkelheit am Rande meines Gesichtsfelds immer weiter vor, während alles andere verschwimmt.
»Wir haben das Bett heute Nacht für einen dringenden Notfall gebraucht. Deshalb wurde Ihr Vater auf die Herzabteilung verlegt. Es geht ihm gut. Er ist bei Bewusstsein und fragt nach Ihnen …«
In diesem Augenblick wird die Welt schwarz um mich.
 
»Habe ich euch beiden einen kleinen Schreck eingejagt?«
Es ist später an diesem Tag. Rosemary und ich sitzen links und rechts neben Lionels Bett und halten seine Hände.
»Ich würde eher sagen, Heather hat uns einen Schreck eingejagt.« Rosemary lächelt, und ich werde rot. Wie peinlich - erst so auszuflippen und dann vor Mr. Bradley in Ohnmacht zu fallen. Ich komme mir völlig idiotisch vor.
Ich sehe meinen Vater an. Vergiss nicht, Heather. Du warst kurz davor - ganz kurz davor -, ihn endgültig zu verlieren.
Offenbar kann Lionel sich nicht mehr erinnern, was nach dem ersten Anfall passiert ist, und es ist ein ziemlicher Schock für ihn, festzustellen, dass er nicht nur im Krankenhaus liegt, sondern auch eine Herzoperation hinter sich hat. Weitaus weniger dramatisch, aber in gewisser Weise denkwürdig ist jedoch die veränderte Beziehung zwischen Rosemary und mir.
»Seht euch das an, jetzt liege ich hier zwischen den beiden schönsten Frauen in meinem Leben«, scherzt er und lächelt wohlwollend. »Das muss ich unbedingt wieder mal machen.«
»Oh nein, das wirst du nicht«, schimpft Rosemary. »Und um ganz sicherzugehen, bleibt Ed bei uns. Ich habe gerade eine Nachricht von ihm bekommen. Er kommt heute Nachmittag her.«
»Mit einer Freundin aus L. A., einer Ernährungsberaterin«, füge ich hinzu.
Lionel verzieht das Gesicht.
»Du hast gehört, was der Arzt gesagt hat. Es ist sehr wichtig, dass du dich an die Diätvorschriften hältst. Keinen Käse, keinen Wein …«
»Keine Freude«, winselt er.
»Lionel, du wirst mich nicht das zweite Mal zur Witwe machen«, warnt Rosemary mit einer Stimme, bei der selbst ich mich ein wenig fürchte.
»Ich? Nicht auf die Anweisungen des Arztes hören? Ich denke nicht im Traum daran.« Er schürzt die Lippen, um sich von ihr küssen zu lassen.
»Du hattest einen Herzinfarkt und brauchst Ruhe.«
»Ich will einen Kuss, mein Liebes, keinen Sex-Marathon.«
Rosemary wird rot, und ich stehe auf. »Ich lasse euch Turteltäubchen mal allein.« Früher hätte ich mich geärgert, aber jetzt durchströmt mich ein Gefühl der Zufriedenheit, als ich meine Lippen behutsam auf die stoppelige Wange meines Vaters drücke. »See you later, alligator«, flüstere ich.
Er lächelt und flüstert: »In a while, crocodile.«
Die nächsten Tage verbringe ich im Cottage. Ed kommt wie angekündigt mit seiner Freundin Miranda, einer Ernährungsberaterin, die er auf der Uni kennen gelernt hat und die mittlerweile zwei erfolgreiche Praxen in London und Los Angeles führt. Wie ein Wirbelwind fegt sie 24 Stunden durch unser Leben, spricht mit Lionel und seinen Ärzten, stellt Diätpläne und Rezepte für fettarme Gerichte zusammen, die sie überall in der kleinen Eichenküche aufhängt.
Lionel wird am Wochenende entlassen. Mittlerweile kann ich ihn wieder Lionel nennen, da er zum Glück wieder Lionel ist. Bärtig, dröhnend und voller Leben - wenn auch bald 25 Kilo leichter, wenn es nach Miranda geht. Und ich glaube, er wird es schaffen. Trotz seiner Scherze und seiner aufgesetzten Tapferkeit hat ihm das Ganze einen schweren Schlag versetzt. Immer wieder schleicht sich ein Beben in seine Stimme, und wenn Rosemary ihm befiehlt, sein gegrilltes Hühnchen und den gedämpften Grünkohl zu essen, gehorcht er wie ein braves Kind und isst auf, ohne nach einem Glas seines geliebten Pinot noir zu verlangen.
Ich bin überglücklich. Eines Nachmittags sitze ich mit Lionel, Ed und Rosemary im Garten und lache über irgendeinen dämlichen Witz, als mir einfällt, dass sich mein Wunsch erfüllt hat - und noch viel mehr, als ich mir jemals vorgestellt hätte.
 
»Und wie geht’s dem jungen Amerikaner?«
Wir haben gerade unser gesundes Picknick hinter uns gebracht, als Lionel die Sprache auf Gabe bringt. Ich schwöre, mein Vater ist Gedankenleser, verdammt.
»Äh, er ist ausgezogen«, antworte ich so beiläufig wie möglich, doch es ist, als hätte er einen Finger in eine offene Wunde gelegt.
In den vergangenen Tagen hat sich alles um Lionel und die Vorbereitungen für seine Rückkehr aus der Klinik gedreht. Wir haben sein Bett ins Erdgeschoss verfrachtet und dafür gesorgt, dass er rechtzeitig seine Medikamente einnimmt. Wir alle waren so beschäftigt mit ihm, dass kaum einer von uns Zeit hatte, über irgendetwas anderes nachzudenken.
Aber so war es nicht. Ob ich abends einschlafe, die Spülmaschine einräume oder auf dem Rasen sitze und mir die Sonne ins Gesicht scheinen lasse - immer wieder wandern meine Gedanken zu Gabe. Es ist wie das bizarre Ritual einer Brieftaube, die immer wieder an ihren Ausgangspunkt zurückkehrt.
»Er ist zum Edinburgh Festival gefahren«, füge ich als Erklärung hinzu, auch wenn es nicht die ganze Geschichte ist.
Lionel strahlt beim Gedanken an all die Schauspieler, Künstler und Musikanten. »Und fährst du auch hin, um dir sein Programm anzusehen?«
»Nein.«
»Oh. Klar.« Er zieht die Brauen hoch.
In der nachfolgenden Stille spüre ich, wie die Blicke der anderen im Garten herumschweifen. »Was ist?«, stoße ich hitzig hervor.
»Nichts, Schwesterherz«, sagt Ed tonlos und hält sich grinsend sein Mobiltelefon ans Ohr. Seit seiner Rückkehr aus Amerika telefoniert er ununterbrochen mit Lou. Es sind nur noch wenige Wochen bis zur Geburt, und die Tatsache, dass Lionel so knapp dem Tod entronnen ist, hat ihn daran erinnert, was wichtig im Leben ist. Und zwar nicht Fußball.
»Ach, wir wollen nichts über ein langweiliges altes Festival hören, oder?«, wiegelt Rosemary ab. »Erzähl uns lieber alles über diese Society-Hochzeit, die demnächst stattfindet.«
Ich quittiere ihren Rettungsversuch mit einem dankbaren Lächeln, aber in den letzten Tagen habe ich sogar versucht, nicht an Lady Charlottes Hochzeit zu denken. »Sie findet am Wochenende in der Shillingham Abbey statt.« Meine Fantasie liefert ein Bild von Daniel mit Zylinder und Frack, das ich jedoch eilig beiseite schiebe. Ich habe ihnen noch nicht erzählt, dass Daniel der Bräutigam ist. Abgesehen von Jess habe ich es überhaupt niemandem erzählt, weil ich die mitfühlenden Blicke und die aufmunternden Worte nicht ertragen könnte und es mir in Wahrheit sowieso nichts ausmacht.
Oder?
»Oooh, stellt euch nur mal vor, wie viele Prominente dort sein werden«, schwärmt Rosemary mit vor Begeisterung funkelnden Augen, ehe sie scharf Luft holt. »Glaubst du, die königliche Familie wird auch kommen?«
»Das weiß ich nicht«, antworte ich. Wenn ja, glaubt Brian garantiert, er sei gestorben und im Himmel.
»Also, wann fährst du zurück?«, erkundigt sich Lionel und mustert mich erwartungsvoll über den Rand eines Glases Evian hinweg.
Oh Scheiße. Wie soll ich ihnen beibringen, dass ich arbeitslos bin? Fieberhaft versuche ich, mir eine plausible Erklärung einfallen zu lassen, ehe mir aufgeht, dass es keine gibt. »Ich fahre nicht«, sage ich nur.
»Nicht?«, japst Rosemary.
Ich schüttle den Kopf und sehe zu Lionel hinüber, der mich eingehend betrachtet.
»Mir geht’s gut«, sagt er ruhig.
»Das weiß ich.« Ich habe ein schlechtes Gewissen, weil ich ihm nicht den wahren Grund sagen kann, weshalb ich Brian bei der Hochzeit nicht assistieren werde. Aber ich kann es einfach nicht. Sie würden es nie im Leben verstehen. Ich verstehe es ja nicht einmal selbst.
»Ich brauche keine drei Krankenschwestern. Ich habe Rosemary und Ed.«
»Und Miranda«, fügt Ed hinzu, der noch immer mit Lou telefoniert. »Sie steht über E-Mail ständig mit uns in Kontakt, um über deine Fortschritte auf dem Laufenden zu bleiben. Wo wir gerade dabei sind - sie will, dass du ihr eine Liste von allem schickst, was du heute gegessen hast.«
»Es gibt jede Menge Leute hier, die mir den Spaß verderben wollen.« Lionel lächelt. »Du musst fahren.«
Ich stecke in der Klemme. Ich mache mir keine Sorgen wegen Lionel. Die Ärzte sind hochzufrieden mit seinen Fortschritten, und ich weiß, dass er mich nicht braucht, um ihn zu bemuttern - es reicht völlig aus, wenn Rosemary und Ed das tun. Beim Anblick der beiden überkommt mich beinahe Mitleid mit ihm. Aber ich kann Brian nicht anrufen und bitten, mir meinen alten Job wiederzugeben. Außerdem hat er mittlerweile bestimmt einen anderen Assistenten gefunden.
»Wieso rufst du Brian nicht an?«, schlägt Rosemary vor.
Ich sehe sie überrascht an. In all den Jahren habe ich Brian immer wieder erwähnt, aber es schien sie nie besonders interessiert zu haben. »Vielleicht mache ich das«, murmle ich.
»Du kannst dir mein Handy borgen«, bietet Ed an, der sein Gespräch mittlerweile beendet hat.
Ich werde argwöhnisch. Seit wann borgt mir mein Bruder freiwillig sein Handy?
Dann streift mein Blick Lionel, auf dessen Gesicht dieser typisch schuldbewusste Schuljungen-Ausdruck liegt, und mir dämmert, dass das Ganze vielleicht ein abgekartetes Spiel war. »Ist das ein Versuch, mich loszuwerden?«, frage ich und nehme Eds Telefon.
»Nein, natürlich nicht, Liebling«, wiegelt Lionel ab. »Ed hat nur deine finanzielle Lage erwähnt …«
Ich werfe meinem Bruder einen warnenden Blick zu, doch er tut so, als studiere er ein Grasbüschel.
»… und ich weiß doch, dass Rosemary sich so auf deine Fotos von all den berühmten Leuten gefreut hat …«
Rosemary errötet schuldbewusst.
Unter den Blicken meiner Familie wähle ich Brians Nummer und spüre, wie mich eine unerwartete Nervosität erfasst. Trotz allem, was Brian gesagt hat, habe ich ein schlechtes Gewissen, weil ich ihn so Hals über Kopf habe sitzen lassen, und möchte es wieder gutmachen. Aber bringe ich es wirklich über mich, dem Fotografen bei der Hochzeit meines Ex-Freundes zu assistieren? Nahaufnahmen von dem Mann zu machen, der mein Herz in tausend Stücke gerissen hat, wenn er »Ja, ich will« sagt?
Ja, du kannst das, Heather, sage ich mir entschlossen.
Ich gelange zu einem Entschluss. Dann fürchte ich mich eben vor der Begegnung mit Daniel. Na und? Was ist schon dabei, wenn ich die Einzige bin, die bei der Trauung weint? Brian und das Geschäft sind wichtiger, deshalb werde ich sie an erste Stelle setzen.
»Hallo. Together Forever«, meldet sich eine Stimme. Es ist Brian, und er klingt gestresst.
Ich durchforste mein Gehirn nach etwas, womit ich das Gespräch eröffnen könnte, gebe es jedoch auf und platze einfach heraus: »Du brauchst nicht zufällig morgen eine Assistentin, oder?«
»Heather?«
Seine Überraschung ist unüberhörbar.
»Ja, ich bin’s.«
Ich höre, wie er am anderen Ende der Leitung hektisch an seiner Zigarette zieht, ehe er nervös lacht.
»Du wirst einen schicken Hut brauchen.«
Der Wunschzettel - Be Careful What You Wish For
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