KAPITEL 8
»Ich bin Gabe.«
Das Erste, was mir an ihm auff ällt, sind seine
Sommersprossen. Er hat sogar noch mehr als ich, und ich bin
immerhin rothaarig, so dass Sommersprossen nichts Ungewöhnliches
sind.
»Hi, ich bin Heather.« Ich bitte ihn herein,
während ich meinen schmerzenden Ellbogen massiere. »Ich habe … äh …
gerade ein wenig Hausarbeit erledigt … die Fenster geputzt.« Ich
lache verlegen. »Ordnung in der Wohnung sorgt für Ordnung im Kopf
und so …« Ich winde mich, als ich das Gefasel höre, das aus meinem
Mund kommt. Halt die Klappe, Heather. Halt einfach die
Klappe.
»Ich bin das absolute Schwein.«
»Ehrlich?«
»Das war ironisch gemeint.« Er lächelt. »Schwer zu
glauben, ich weiß, wo ich doch Amerikaner bin.«
»Oh, stimmt ja«, kontere ich und komme mir noch
dämlicher vor.
Nachdem sein Versuch, das Eis zu brechen,
gescheitert ist, breitet sich eine schier unerträgliche Stille aus.
Ich lächle unbehaglich.
»Also, kann ich mein Zimmer sehen?«
»Natürlich«, erkläre ich hastig und führe ihn den
Korridor entlang. »Hier ist es.« Ich öffne die Tür und trete
zurück. »Nicht besonders groß, fürchte ich, aber es ist alles da.
Bett, Schrank, Kommode, tragbarer Fernseher …«
Gabe tritt in den kleinen, L-förmigen Raum und
betrachtet die hellgelb gestrichenen Wände, den glänzenden
Mahagonischrank mit den zarten Intarsien und den mit Schnitzereien
verzierten Türen, der laut Aussage des Verkäufers im Laden in der
Brick Lane aus den dreißiger Jahren stammt. Eine Papierlampe von
IKEA baumelt an der Decke, auf dem Holzboden liegt ein
Schaffellteppich, und ich habe sogar ein paar Bücher in das leere
Regal gestellt - den Hip-Hotels-Führer, etwas von Salman
Rushdie und Nick Hornbys About a Boy. Bücher sagen eine
Menge über Menschen aus, deshalb habe ich meinen Stapel
Frauenbücher und Harry-Potter-Ausgaben weggelassen und mich
für etwas Literarischeres entschieden, um einen guten ersten
Eindruck zu hinterlassen.
Bevor er kam, habe ich das Schiebefenster geöffnet,
um einen ungehinderten Blick auf den Garten zu bieten. Er lehnt
sich übers Fensterbrett, ohne ein Wort zu sagen. Offenbar ist er
nicht sonderlich gesprächig, denke ich und lasse meinen Blick
über die Linie seiner Schultern wandern. Er ist groß - über einen
Meter achtzig, schätze ich - und viel breitschultriger, als ich
zunächst gedacht hatte. Meine Augen wandern weiter über seinen
Rücken in der Motorradjacke und bleiben einen Augenblick lang an
seinem Hinterteil in der Cargohose hängen - na ja, ich bin auch nur
ein Mensch -, ehe sie zum zerschlissenen Saum über seinen
Flip-Flops schweifen. Nein, eindeutig nicht mein Typ. Zu
schmuddelig. Und zu still. Und als ich einen Blick auf das T-Shirt
unter seiner Motorradjacke erhasche, könnte ich schwören, dass ein
Foto von Mr. T vom A-Team darauf prangt. Ich schaudere.
»Ich nehme es.«
Seine Stimme katapultiert mich in die Realität
zurück.
»Oh …« Darauf war ich nicht gefasst. Stattdessen
hatte ich Unmengen Fragen erwartet, Unmengen einstudierter
Antworten, doch nun, angesichts dieses fait accompli, bin
ich auf einmal unsicher. Will ich wirklich meine Wohnung mit diesem
Fremden teilen? Ich meine, ich kenne Sie doch kaum, sagt
eine leise Stimme in meinem Inneren.
»O.K., was wollen Sie über mich wissen?«
Als Gabe sich mir zuwendet, bemerke ich, dass ich
die Worte laut ausgesprochen habe. Die Röte schießt mir ins
Gesicht. Ȁh, na ja, ich denke, wir sollten uns erst ein bisschen
besser kennen lernen, Sie wissen schon, über Hobbys reden und so …«
Hobbys? Sowie das Wort aus meinem Mund kommt, wird die Röte
auf meinem Gesicht noch tiefer. Ich klinge wie eine Zwölf
jährige.
Gabe, den meine Bemerkung zu amüsieren scheint,
lächelt verschmitzt. »So, als wäre das eine Verabredung?«
»Nein, ich …«, stammle ich. Ich weiß, dass ich mich
absolut lächerlich benehme, und versuche, mich zu entspannen. »Tut
mir leid, ich bin das nicht gewöhnt«, gebe ich zu. »Ich habe noch
nie ein Zimmer vermietet, und es fühlt sich ziemlich seltsam
an.«
»Klar, das verstehe ich.« Er setzt sich aufs
Fensterbrett, streicht sich das Haar aus dem Gesicht und mustert
mich ruhig. »Schießen Sie los. Fragen Sie mich alles, was Sie
wissen wollen.«
»Wirklich?«
»Wirklich.«
Tja, wenn das so ist …
Ich verlasse kurz das Zimmer, und als ich mit einem
Notizblock zurückkomme, sitzt Gabe immer noch auf dem Fensterbrett.
Nur hat er mittlerweile Gesellschaft in Gestalt eines großen
ingwerfarbenen Katers bekommen, der sich wie ein Croissant auf
seinem Knie zusammengerollt hat und laut schnurrt.
»Oh, Sie haben Billy Smith also schon kennen
gelernt«, sage ich überrascht beim Anblick meines Katers auf seinem
Schoß. Genau derselbe Kater, der sonst faucht und jedem die Krallen
ins Fleisch rammt, der versucht, ihn zu streicheln. »Normalerweise
mag er keine Fremden«, bemerke ich. Billy Smith mustert mich
gelangweilt, ohne ein Zeichen des Erkennens, ehe er die Augen
schließt. Verräter, zische ich leise. Wer kauft dir Fancy
Feast? Wer lässt dich im Winter im Bett schlafen?
»Tiere mögen mich meistens.« Gabe krault Billy
Smith zwischen den Ohren und wird mit einem noch lauteren Schnurren
belohnt.
Ich fasse es nicht! Selbst meine verdammte Katze
hintergeht mich!
»Nur mit Menschen habe ich so meine Probleme.«
Gabes Miene ist ernst, doch diesmal erkenne ich den Witz und
lächle. Trotz meiner Vorbehalte gegen ihn fange ich allmählich an,
ihn zu mögen. Nicht dass dich das in irgendeiner Weise
entschuldigt, Freundchen, denke ich und werfe Billy Smith einen
finsteren Blick zu, der gähnend einen Schwall nach Fisch stinkenden
Atem in meine Richtung schickt, sich mithilfe seines Schwanzes zu
einem hübschen Päckchen zusammenrollt und mir den Rücken
zukehrt.
Ich lasse mich aufs Bett fallen, schlage die erste
Seite meines Notizblocks auf und sehe zu Gabe auf wie eine
Sekretärin in Erwartung eines Stenodiktats. »Ich habe ein paar
Dinge notiert, die ich fragen wollte, falls ich es vergesse«, sage
ich, obwohl das gelogen ist. Denn ich habe nichts notiert -
»Notieren« vermittelt den Eindruck von flüchtigem Niederkritzeln,
wohingegen ich eine meiner berühmten Listen zusammengestellt habe.
Sie ist drei Seiten lang, und ich habe eine geschlagene Woche
zahlloser Überarbeitungen und einen ganzen Papierkorb voll
zerknüllter Seiten gebraucht, bis ich fertig war. Ich habe sie
sogar im Büro in den Computer eingegeben und wollte sie eigentlich
ausdrucken und den Kandidaten als Fragebogen überreichen, aber Jess
hatte gemeint, das sei vielleicht ein wenig übertrieben.
»Schießen Sie los«, wiederholt er.
Ich räuspere mich. »Äh … rauchen Sie?«
»Ich versuche, es mir anzugewöhnen.« Er
grinst.
Ich bin nicht sicher, ob er sich über mich lustig
machen will, notiere es aber trotzdem. »Tja, ich möchte nicht, dass
in der Wohnung geraucht wird. Von mir aus rauchen Sie im Garten,
aber benutzen Sie das Geschirr, die Blumentöpfe oder meine Beete
nicht als Aschenbecher.«
»Klar.«
»Drogen?«
»Nur auf Rezept«, kontert er feierlich.
Ich kritzle etwas auf den Block und fahre fort.
»Keine Teebeutel im Ausguss.«
»Ich trinke Kaffee.«
»Oh, O.K.... Klar.« Ich lächle. Verkniffen. Es wird
nicht funktionieren. Wenn ich ehrlich bin, hatte ich insgeheim
gehofft, meine Regeln würden ihn davon abhalten, das Zimmer mieten
zu wollen. Zwischen den Wimpern hindurch beobachte ich, wie er
Billy Smith streichelt. Er scheint sehr freundlich zu sein - wenn
man ihm zufällig in einer Bar begegnet. Aber vor meinem Badezimmer?
Um sieben Uhr morgens? In Unterhosen?
Panik erfasst mich. Das Ganze funktioniert nie im
Leben. Ich habe nur einmal mit einem Mann zusammengewohnt und das
war Daniel. Ich kann keinen wildfremden Mann im Baumwollslip durch
meine Wohnung laufen lassen. Ich muss ihn loswerden.
»Gehen wir in die Küche«, sage ich und stehe eilig
auf.
»Ich möchte nicht, dass Geschirr herumsteht. Ich
habe keine Spülmaschine, deshalb müssen Sie Ihr Geschirr nach jeder
Mahlzeit abwaschen. Und es wird auch keine Pfanne nach dem Kochen
eingeweicht und tagelang stehen gelassen. Einweichen ist nicht
gleichbedeutend mit abwaschen«, belle ich wichtigtuerisch.
Gabe hebt in gespieltem Salut die Hand an die
Schläfe.
»Sie können das oberste Fach im Kühlschrank haben,
und wenn Sie Fleisch kaufen, sehen Sie bitte zu, dass es abgedeckt
ist. Ich bin Vegetarierin - na ja, Fisch esse ich schon -«
»Dann sind Sie also Pescetarierin?«
Ich werfe ihm einen frostigen Blick zu und gehe zum
Badezimmer. »Ich habe nur ein Bad, also müssen wir es uns teilen.«
Ich öffne auch hier die Tür, und während er einen Blick
hineinwirft, fange ich an, Daniels Angewohnheiten
herunterzurattern, die mich an den Rand des Wahnsinns getrieben
haben. Das sollte klappen. Amerikaner oder Briten - Männer sind
Männer, und wenn ich etwas gelernt habe, dann die Tatsache, dass
sie Nörgeleien hassen. Also nörgle ich. »Die Socken werden nicht
ausgezogen und zusammengeknüllt in der Ecke liegen gelassen. Die
Bartstoppeln werden nach dem Rasieren aus dem Waschbecken entfernt.
Mein Shampoo und meine Spülung sind tabu …« Ich halte gerade lange
genug inne, um Luft zu holen. Inzwischen bin ich voll in Fahrt.
Nichts hält mich mehr auf. »Oh, und der Toilettendeckel wird
heruntergeklappt.«
»Klar, natürlich.« Er nickt feierlich und reibt
sich die Nasenspitze. Er hat eine große Nase mit einem Höcker in
der Mitte. Sie sieht aus, als wäre sie schon einmal gebrochen
gewesen. Beim Anblick, wie er mit meiner Katze auf dem Arm in
meinem Bad steht und mich mit seinen großen blauen Augen ansieht,
frage ich mich, wie er das wohl geschafft hat.
»Und Regel Nummer 10?«
»10?«
»Ich habe mitgezählt.«
»Oh, ach ja …« Mein Blick fällt wieder auf den
Notizblock, während ich versuche, meine Gedanken auf die nächste
Regel zu lenken, um zu verhindern, dass sie sich erneut
verselbstständigen. »Der Fernseher.« Ich gehe an ihm vorbei ins
Wohnzimmer. »Ich habe Satellitenfernsehen, aber ich will nicht,
dass jeden Abend der Sportkanal läuft und irgendwelche
Fußballspiele angesehen werden.«
»In Amerika nennen wir es Soccer.«
»Ich nenne es langweilig«, kontere ich knapp.
»Kein begeisterter Sportfan, was?« Gabe hebt die
Brauen.
»Nein.« Entschlossen schüttle ich den Kopf.
Genau. Das hat bestimmt den Ausschlag gegeben. Ich
habe Fußball als langweilig bezeichnet. In nicht einmal fünf
Sekunden steht er wieder vor der Tür.
»Keine Sorge, ich bin auch kein Fan von
Sportübertragungen.« Er lässt den Finger über Billy Smiths Rückgrat
wandern. »Ich bin lieber selbst aktiv.«
Moment mal. Er rührt sich nicht vom Fleck.
»Zu Hause surfe ich leidenschaftlich gern«, erklärt
er, »aber schätzungsweise werde ich in England nicht allzu oft dazu
kommen.«
»In Cornwall, wo ich aufgewachsen bin, gibt es
hervorragende Surfgebiete«, höre ich mich eifrig sagen. »In Newquay
findet jedes Jahr ein großer Wettbewerb statt, zu dem Surfer aus
aller Welt kommen.« Ich setze mich auf die Armlehne meines
Sofas.
»Wow, das klingt klasse. Ich würde gern irgendwann
mal runterfahren.«
»Es ist wunderschön, es würde Ihnen bestimmt
gefallen«, erkläre ich begeistert, während mich unvermittelt eine
Woge der Nostalgie überkommt. Es ist Jahre her, seit ich das letzte
Mal dort war - ich sollte wieder einmal hinfahren und einige Orte
meiner Kindheit besuchen. Es würde mir bestimmt gut tun. »Sie
sollten unbedingt hinfahren.« Der letzte Teil war eher an mich
gerichtet als an ihn. Vielleicht könnten wir ja zusammen fahren und
uns das Benzingeld teilen. Ich sehe zu, wie er routiniert Billy
Smiths Ohren krault. Vielleicht ist es ja doch nicht so übel, einen
Mitbewohner zu haben, wie ich befürchtet habe. Selbst wenn es
bedeutet, dass ich meine Le-Creuset-Töpfe mit ihm teilen muss. Was
mich zum Thema bringt -
»Meine Töpfe sind ebenfalls tabu.«
»Ihre Töpfe?«
»Meine Töpfe von Le Creuset. Sie waren ein Geschenk
zum Einzug. Man benutzt sie für Eintöpfe und Kasserollen und solche
Dinge -«
Gabes Miene verrät mir, dass er mich für völlig
durchgeknallt hält, aber er behält es für sich. Stattdessen lacht
er. »Hey, keine Sorge, ich bin eher der Kurzbrat-Typ. Ein Mann,
sein Wok und so …«
Es entsteht eine Pause, ehe Gabe fortf ährt. »Also,
habe ich bestanden?«
Ich werfe einen Blick auf meinen Notizblock. Ich
muss zugeben, er hat die meisten Punkte bestanden, aber … ich
zögere. Ich bin mir nicht ganz sicher. Er scheint nett zu sein,
aber vielleicht sollte ich noch warten und mir weitere Bewerber
ansehen. Nicht, dass es welche gäbe, aber es könnten noch welche
auftauchen, wenn ich noch ein paar Wochen warte. Vielleicht sollte
ich auf eine ordentliche, japanische Nichtraucherin warten, die den
Toilettensitz immer herunterklappt.
»Ihnen ist etwas heruntergefallen«, sagt Gabe, hebt
etwas vom Boden auf und reicht es mir. »Sieht aus wie eine Blume
fürs Knopfloch.«
Ich betrachte den zusammengebundenen Zweig zwischen
seinen Fingern. Es ist das Heidekraut. Plötzlich überkommt mich ein
eigentümliches Gefühl. Seltsam, dass es immer wieder auftaucht.
Vielleicht bringt es ja tatsächlich Glück.
Ich nehme es ihm aus der Hand. »Also, wann möchten
Sie einziehen?«