KAPITEL 34
Ich glaube, mir wird schlecht.
Victor Maxfield sitzt hinter seinem Schreibtisch in einem dieser großen Lederdrehsessel mit hoher Lehne, in denen wichtige Menschen den ganzen Tag herumwirbeln, und schildert mir, was den Sunday Herald zum auflagenstärksten Wochenendblatt Großbritanniens macht. Ich sitze ihm gegenüber in seinem großen Eckbüro mit Glasfront, die einen unglaublichen Ausblick auf London Eye bietet, und tue alles, was in diesen »Wie ziehe ich einen Job an Land«-Artikeln als Verhaltensregel empfohlen wird. Ich halte Blickkontakt, versuche, Interesse und Begeisterung auszustrahlen, indem ich gelegentlich nicke, den Kopf schief lege, Kommentare wie »Tatsächlich?« und »Definitiv« murmle und an den richtigen Stellen lache, wenn er einen Scherz macht - obwohl ich sie insgeheim sooo witzig nun auch wieder nicht finde. Aber ich bin dermaßen nervös, dass ich immer noch das Gefühl habe, mich jeden Moment übergeben zu müssen.
Ehrlich - ich hatte keine Ahnung, dass es so schlimm werden würde. Als ich vor einer Viertelstunde eintraf und gebeten wurde, noch einen Augenblick zu warten, war ich relativ ruhig. Ich nippte an einem Glas Wasser aus dem Spender in der Ecke und blätterte durch ein paar Zeitschriften. Als Margot, Victor Maxfields Sekretärin, kam, um mich zu seinem Büro zu bringen, plauderte ich im Fahrstuhl angeregt mit ihr über das Wetter und dachte ›Wow, sieh sich das einer an. Ich bin reif und selbstbewusst und nicht im Mindesten aufgeregt.‹ Es war, als wäre ich diejenige, die sie beruhigte.
Auch als ich Margot durch das geschäftige Großraumbüro folgte, ging es mir noch gut, obwohl ich zugeben muss, dass ich den ganzen Weg über auf den Teppichboden starren musste, da ich mich sonst zu sehr von dem Anblick hätte einschüchtern lassen. Trotzdem war alles in Ordnung. Mein Gang war zuversichtlich, ich strich mir das Haar aus dem Gesicht, schwang meine Aktenmappe und dachte darüber nach, dass ich endlich eine weitere Stufe auf der Karriereleiter erklimmen würde.
Und dann sah ich sie. Die Tür mit den glänzenden Silberbuchstaben darauf. HERAUSGEBER. Sie sah genauso aus wie in meinem Traum.
Und genau in diesem Moment verließ mich der Mut.
»… also bin ich an dem Tag, als unsere Auflage höher war als die jeder anderen führenden Zeitung, nach Hause zu meiner Frau gegangen und habe ihr die gute Nachricht überbracht. Und daraufhin meinte sie: ›Oh, das ist aber eine schöne Tasse Tee wert.‹«
»Wirklich?« Ich lächle.
Ich schwitze, spüre, wie die Feuchtigkeit unter meinen Achseln zu schwären beginnt und sich zwei widerlich klebrige Flecke auf dem Spitzenstoff ausbreiten. Unbehaglich winde ich mich auf meinem Stuhl, um sicherzugehen, dass meine Arme eng am Körper liegen. Igitt.
»Ich lebe schon fast 20 Jahre hier, aber es muss eine typisch britische Angewohnheit sein, was?« Er lacht freundlich.
»Absolut.« Meine Blase schmerzt. Verdammt, warum musste ich auch diese zweite Tasse Kaffee trinken. Ich schlage die Beine übereinander, presse die Oberschenkel zusammen und lächle verkniffen.
»Aber genug von mir und der Zeitung. Schließlich sind wir hier, um über Sie zu reden …«
Ich höre Victor Maxfields Stimme, werde aber von jemandem abgelenkt, der draußen vor dem Büro vorbeigeht und mich anstarrt.
»Also, wie kamen Sie auf die Idee, Fotografin werden zu wollen, Heather?«
Ich weiß, ich hätte diesen albernen Mohairrock und diese Oma-Spitzenbluse nicht anziehen sollen. Alle hier tragen Jeans und T-Shirt, völlig cool und funky, ganz wie man es von Journalisten und Fotografen erwartet. Keine Hochstapler wie ich, die lächerliche Assistentin eines Hochzeitsfotografen. Oh Gott, was um alles in der Welt habe ich mir nur dabei gedacht? Ich gehöre nicht hierher. Das hier ist eine völlig andere Liga.
»Heather?«
Mit einem Ruck kehre ich von meiner Reise zum Planeten namens Versagen zurück und sehe, dass Victor Maxfield gespannt auf etwas wartet, das laut Vorstellungsgespräch-Ratgeber »Input« genannt wird.
»Oh, absolut.« Ich zaubere einen selbstsicheren Ausdruck auf mein Gesicht - der jedoch augenblicklich gefriert, als ich sehe, wie seine Miene von erwartungsvoll zu verwirrt wechselt. »Ich meine … ich denke … tut mir leid, wie war die Frage noch?« Meine Stimme klingt mit einem Mal viel höher als sonst.
»Ich habe mich gefragt, was Ihr Interesse für die Fotografie geweckt hat«, wiederholt Victor Maxfield geduldig, doch mir ist klar, das sich unter der freundlichen Fassade ein stählerner Kern verbirgt.
Ich setze mich gerade hin und tue so, als würde ich ernsthaft über die Frage nachdenken (Tipp Nummer 2: nie zu schnell antworten), doch erneut wird meine Aufmerksamkeit von jemandem angezogen, der vor dem Büro vorbeigeht und hereinspäht. Ich wünschte wirklich, die Leute würden mich nicht ständig anstarren.
»Keine Sorge, er starrt nicht Sie an.«
Ich fahre zusammen, als Victor Maxfield auf den Mann vor der Tür zeigt. »Er sieht sich selber an. Ziemlich eitler Haufen, meine Leute hier.« Er lacht leise. »Ich weiß nicht, ob es Ihnen beim Hereinkommen aufgefallen ist, aber mein Fenster ist von der anderen Seite verspiegelt«, erklärt er.
»Wirklich?« Ich lache. Und komme mir noch mehr wie eine Idiotin vor. Die ganze Zeit über dachte ich, die Leute würden mich anstarren, während sie in Wahrheit nur ihr Äußeres im Spiegel überprüft haben.
»Also?« Victor Maxfield legt die Finger aneinander und stützt das Kinn darauf ab. Er scheint über mich nachzudenken, und ich spüre, wie meine Chance - diesozumgreifennahewar - schwindet.
Eine Woge der Unsicherheit erfasst mich, als ich ihn mit halb gesenkten Augen ansehe. Er ist ein eindrucksvoller Mann. Obwohl er an die 60 sein muss, ist er immer noch sehr attraktiv. Seine gebräunte, sommersprossige Haut weist die Furchen und Linien auf, die man bei Männern als »zerklüftet« bezeichnet, während sie auf Frauengesichtern dem Schönheitschirurgen zu seinem Mercedes der Spitzenklasse verhelfen. Sein Haar ist noch immer dicht, wenn auch von einigen grauen Strähnen durchzogen. Das Auffälligste sind jedoch seine Augen. Halb von seinen Schlupflidern verborgen, passen sie perfekt zum hellblauen Farbton seines Ralph-Lauren-Hemds, und für den Bruchteil einer Sekunde erinnern sie mich an Gabes Augen und an die Zuversicht darin, dass ich es schaffen würde, als ich heute morgen in sie geblickt habe.
»Ich war acht Jahre alt«, sage ich leise, »und bin mit meiner Familie von Yorkshire nach Cornwall gezogen.« Mit einem Mal taucht alles wieder vor meinem geistigen Auge auf, als wäre es gestern gewesen. »Wir haben uns von all unseren Freunden und Nachbarn verabschiedet. Ich weiß noch, wie ich in ihre Gesichter gesehen und gedacht habe, wie gern ich den Ausdruck darauf für immer festhalten würde. Da war Mrs. Bird von nebenan, die ihr Gebiss nie tragen wollte, und die kleine Andrea, die auf dem Gartentürchen hin und her schwang. Buster, der Schäferhund, hat gebellt und mit dem Schwanz gewedelt. Ich wollte einfach keinen von ihnen vergessen.«
Schnappschüsse von ihren Gesichtern erscheinen vor mir, und obwohl ich in einem Edel-Büro mit Blick über die Themse sitze, bin ich mit einem Mal wieder in Yorkshire. »Ich habe meinen Vater gefragt, ob ich mir seine Kamera ausborgen kann«, fahre ich fort. »Es war eine alte Leica, groß, schwarz und schwer, und er hatte sie mir vorher noch nie gegeben, aber dies war ein besonderer Tag, also hat er mir gezeigt, wo ich durchsehen, welchen Knopf ich drücken und wie ich scharfstellen muss. Es war unglaublich. All das Leben, all die Erinnerungen, all die Gefühle, und als ich angefangen habe zu fotografieren, war es, als würde ich alles aufsaugen, wie ein Schwamm. Ich wusste, dass es mir gelingen würde, all das für immer einzufangen.« Meine Stimme beginnt zu beben, als meine Gedanken zu Mum wandern - wie so oft. »Ich sage nicht gern ›Auf Wiedersehen‹, und auf diese Weise musste ich es nicht wirklich tun, weil ich die Menschen mitnehmen konnte.«
Ich sehe Victor Maxfield an, der mir die ganze Zeit wortlos gelauscht hat. »Ich habe sie heute noch. Andrea, Mrs. Bird und Buster.«
»Darf ich sie sehen?«, fragt Victor Maxfield.
»Ich fürchte, sie sind ein wenig verschwommen«, erwidere ich lachend, »und oft ist ziemlich viel Daumen drauf.«
Auch er lacht, und ich schöpfe neuen Mut. »Aber ich habe jede Menge andere Fotos«, erkläre ich eifrig, ziehe meine Mappe unter dem Stuhl hervor, »die Sie sich ansehen können.«
»Bitte.« Er klopft auf die Tischplatte.
Ich lege die große Mappe vor ihn, ziehe den Reißverschluss auf und klappe sie auf. Wie mich selbst, denke ich und fühle mich plötzlich verletzlich, als Victor Maxfield die Ärmel aufkrempelt und sagt: »Dann machen wir uns mal an die Arbeit, was?«
 
Die nächste halbe Stunde studiert Victor Maxfield eingehend meine Fotos, nickt bewundernd und stellt Dutzende Fragen. Ich kann es nicht fassen. Der Herausgeber. Des Sunday Herald. Sieht sich meine Fotos an.
Doch als ich über sie spreche, verfliegt meine Nervosität mit einem Mal. Meine Stimme wird fest und selbstbewusst, ich fingere nicht mehr ständig an meinen Kleidern herum, sondern benutze meine Hände, um Tiefe und Perspektive zu demonstrieren. Ich vergesse sogar, dass ich zur Toilette muss.
Während ich damit beschäftigt bin, ihm eingehend die verschiedenen Inspirationsquellen meiner Motive darzulegen, werfe ich ihm immer wieder einen verstohlenen Seitenblick zu und stelle fest, dass er beeindruckt zu sein scheint, auch wenn ich es kaum glauben kann. Im einen Moment nickt er zustimmend, im nächsten zieht er interessiert die Brauen hoch oder lacht über eine überbelichtete Aufnahme von einem von Eds Patienten - ein neunjähriger Junge mit dem Mund voller Zahnspange und Kaugummi. Bei einem Bild verfällt er in Schweigen und betrachtet es eingehend mit nachdenklich gerunzelter Stirn. »Wer ist das?«, fragt er.
Er hält eine Schwarzweißaufnahme meiner Mutter in der Hand. Sie hat sich einen Schal um den Kopf gebunden, das Gesicht der Sonne zugewandt, und auf ihrem Gesicht liegt ein sanftes Lächeln. Sie scheint förmlich von innen heraus zu leuchten. So sehr, dass man glatt übersehen könnte, dass sie weder Brauen hat noch dass irgendwelche Haarsträhnen unter dem Schal hervorlugen. Wenige Wochen nach dieser Aufnahme ist sie gestorben.
»Meine Inspiration«, antworte ich leise.
»Sie ist eine schöne Frau.« Victor Maxfield spricht in der Gegenwartsform von ihr.
»Ich weiß«, stimme ich zu. Weil sie auf dem Foto am Leben ist.
Schweigend betrachten wir das Foto. »Tja, Ihre Mappe hat mir wirklich sehr gut gefallen«, sagt er schließlich, setzt sich auf seinem Stuhl zurück, rollt die Hemdsärmel herunter, schließt die Manschettenknöpfe und sieht mich nachdenklich an. »Haben Sie noch fünf Minuten Zeit? Ich würde Sie gern mit unserer Bildredakteurin bekannt machen.«
»Natürlich.« Was für eine Frage.
Er greift nach dem Hörer und drückt eine Taste. Die Person am anderen Ende hebt sofort ab. »Yvonne? Hi, hier ist Victor. Haben Sie Zeit? Ich habe hier eine Fotografin, die Sie kennen lernen sollten.« Ohne ihre Antwort abzuwarten, legt er mit der Selbstsicherheit eines Mannes auf, für den Fragen eine rein rhetorische Angelegenheit sind.
»Tja, das hätten wir.« Offenbar hochzufrieden steht er auf und kommt hinter seinem Schreibtisch hervor. Ich nehme es als Stichwort, erhebe mich ebenfalls und ergreife seine ausgestreckte Hand. »Heather, es war mir ein Vergnügen, Sie kennen zu lernen.«
Das war’s also. Das Vorstellungsgespräch ist vorbei. »Mir auch«, sage ich und schüttle seine Hand mit einer Mischung aus Erleichterung und Traurigkeit, dass ich meinem großen Traum vielleicht nie näher kommen werde als in diesem Augenblick.
Wir werden von einem Klopfen an der Tür unterbrochen, ehe eine Frau mit lockigem Haar und langen Hängeohrringen den Kopf hereinstreckt.
»Ah, Yvonne, das ist Heather, die Fotografin, von der ich Ihnen erzählt habe.«
Ein energiegeladenes Lächeln breitet sich auf ihrem Gesicht aus, ehe sie das Zimmer betritt. »Hi«, sagt sie, packt meine Hand und schüttelt sie kräftig, dann schlüpft sie wieder hinaus. »Hier entlang«, sagt sie.
Ich nehme meine Mappe und werfe noch einen Blick zu Victor Maxfield, der mit verschränkten Armen dasteht und mich eingehend mustert, als wäre er tief in Gedanken versunken. Ist das ein gutes oder ein schlechtes Zeichen? Ich bin mir nicht sicher und nehme mir vor, es in einem meiner Ratgeberbücher nachzuschlagen.
Der Wunschzettel - Be Careful What You Wish For
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