KAPITEL 18
»Wow, der Laden ist wirklich drollig.«
Es ist Sonntagmorgen, und Gabe und ich sitzen beim
Frühstück in einem belebten Straßencafé in Hampstead. Trotz des
Sonnenscheins lässt eine kühle Brise die Blätter der halb gelesenen
Zeitung rascheln. Lachend ziehe ich meine Strickjacke fester um
mich. »Du klingst wie der absolute Tourist.«
»Das liegt daran, dass ich Tourist bin«, erwidert
er lächelnd, legt sein Besteck beiseite und schlürft seinen
Cappuccino. Ich folge seinem Blick über den Pub im Tudor-Stil mit
dem altenglischen Schild, die traditionelle rote Telefonzelle an
der Ecke und die schmale Kopfsteinpflasterstraße mit den adretten
viktorianischen Häusern links und rechts, die sich Richtung Heath
ziehen. Ich muss zugeben, das Ganze verströmt eine solche
Postkartenidylle, dass es ohne weiteres als Kulisse für einen
Richard-Curtis-Film durchgehen könnte.
»Ist das dort drüben ein Park?«
»Nein, das ist Hampstead Heath. Es ist sehr
berühmt.«
»Warum ist es berühmt? Was macht man dort?«
Gute Frage. »Ach, du weißt schon …«, antworte ich
vage. »Man geht spazieren, lässt Drachen steigen …«
»Drachen steigen?«
»Hmm.« Ich nicke und registriere belustigt seine
Miene.
»Ihr Briten und eure seltsamen Traditionen.«
»Was für seltsame Traditionen?«
Er verdreht die Augen, als wären es zu viele, um
sie alle aufzählen zu können. »Erstens der Linksverkehr.«
»Linksverkehr ist nicht seltsam. Es ist seltsam,
dass ihr rechts fahrt.«
»Gemeinsam mit dem Rest der Welt«, hebt er
hervor.
»Was ist mit Australien?«, halte ich dagegen. »Oder
Indien oder Neuseeland oder …« Jetzt, wo ich darüber nachdenke,
fällt mir kein anderes Land mehr ein. »… jede Menge andere Länder«,
murmle ich wenig überzeugend, während er mich mit hochgezogenen
Brauen ansieht.
»Und dann eure Bars - Entschuldigung, ich meine
natürlich Pubs -, in denen man praktisch nur Männern, aber kaum
Frauen begegnet. Dann, dass die Leute einem erzählen wollen, es sei
ein schöner Tag, obwohl es mitten im Juli regnet und eiskalt ist
…«
Das ist ein Argument.
»Und das Schlangestehen.«
»Es ist höflich«, verteidige ich mich.
»Es ist schwachsinnig«, gibt er zurück. »Ihr steht
in der Schlange, und wenn sich jemand vorbeidrängelt und gleich
nach vorn geht, sagt keiner etwas.« Kopfschüttelnd nimmt er wieder
sein Besteck zur Hand. »Und was eure Liebe für diese merkwürdigen
Bohnen in Ketchupsauce angeht …«
Bis jetzt habe ich mir alles gefallen lassen, aber
jetzt ist er eindeutig zu weit gegangen. »Baked Beans von Heinz?«,
werfe ich trotzig ein. »Magst du die etwa nicht?«
»Soll das ein Witz sein?«
Aus einem Impuls heraus beuge ich mich über den
Tisch, nehme eine Gabel voll von seinem Teller und schiebe sie mir
in den Mund. »Mmm«, stöhne ich und gebe in bester
Harry-und-Sally-Tradition einen vorgetäuschten Orgasmus zum
Besten.
»Oh, und ein letzter Punkt noch.«
»Was denn?«
»Die britischen Frauen.«
»Was ist mit ihnen?«
Er schnappt sich die Zeitung und taucht dahinter
ab. »Verrückt. Alle miteinander.«
Eines der verblüffendsten Phänomene des Lebens ist,
dass man innerhalb weniger Wochen von dem Zustand, in dem man nicht
einmal ahnt, dass es einen bestimmten Menschen gibt, in das Stadium
gelangen kann, in dem man seine Wohnung, seine Fernbedienung und
seine Sonntagszeitung mit ihm teilt. Gabe und ich sind wie ein
altes Ehepaar - er bekommt den Sportteil, ich das
Style-Magazin. Wer hätte das gedacht?
So etwas ist für jeden erstaunlich, ganz besonders
aber für mich, da ich mein sonntagmorgendliches Ritual sorgsam hege
und pflege. Ich liebe nichts mehr, als in einem Café zu sitzen und
bei einer Portion fluffig-gelbem Rührei die Style-Beilage
lesen, und auch wenn die meisten das Sonntagsfrühstück als eine
Zweieraktivität betrachten, liebe ich es, dabei allein zu
sein.
O.K., kann sein, dass ich ein bisschen wunderlich
bin, aber so bin ich eben. Ich liebe es, mich mit niemandem über
die Zeitungsteile streiten zu müssen oder völlig zerfledderte
Seiten in die Hand gedrückt zu bekommen. Ich liebe es, mich auf dem
Tisch ausbreiten zu können, ohne Angst haben zu müssen, dass der
Reiseteil in den Teller mit Champignons meines Begleiters hängt.
Und mehr als alles andere liebe ich es, nicht durch eine
Unterhaltung abgelenkt zu werden, sondern in köstlichem Schweigen
dazusitzen und mich in den Artikel vertiefen zu dürfen, der gerade
mein Interesse findet. Dies ist eine der wenigen Freuden im
Leben.
Doch an diesem speziellen Sonntagmorgen bin ich
Gabe zufällig in der Küche begegnet, wo er ein wenig verloren in
seinen tibetischen Haussocken umherwanderte. Und ich hatte ein
schlechtes Gewissen. Schließlich ist er fremd in diesem Land, und
ich hatte ihm nicht ein einziges Mal angeboten, ihm die Gegend zu
zeigen. O.K., es ist ja nicht so, dass er hier niemanden kennen
würde. Er hat einen Onkel, der hier lebt - aber, wie Ed immer sagt,
Verwandte sind wie Weihnachten. Einmal im Jahr genügt
vollkommen.
Also habe ich das ultimative Opfer gebracht und ihn
zum Frühstück eingeladen.
Ich stochere in meinem Rührei herum und sehe Gabe
zu, wie er sich abwesend über dem Sportteil das stoppelige Kinn
reibt. Schließlich lehnt er sich in seinem Stuhl zurück und legt
die Zeitung beiseite. »Also«, sagt er, »du hast mir noch gar nichts
von deiner Verabredung von gestern Abend erzählt.«
Ich erröte, auch wenn ich nicht weiß, warum.
»So gut, ja?« Er lacht.
»Ja, ich schätze, so kann man es sagen.« In einem
Anfall unerwarteter Verlegenheit starre ich auf meinen Teller und
schiebe die Brotkrümel zu einem Häuflein zusammen. »Aber woher
weißt du überhaupt, dass ich gestern eine Verabredung hatte?«
»Ich bin medial veranlagt.«
»Ehrlich?«, hake ich ein, ehe mir aufgeht, dass er
nur einen Scherz gemacht hat.
»Nein, nein. Ich war in meinem Zimmer und habe
gehört, wie er dich abgeholt hat.«
»Oh... ach so.«
»Punkt acht Uhr.«
Ich lächle verschämt. »Es ist unhöflich, eine Dame
warten zu lassen.«
»Das sagt Mia mir auch immer, aber in punkto
Uhrzeit habe ich eine mentale Blockade. Ich komme grundsätzlich zu
spät.«
Bei der Erwähnung seiner Freundin lächle ich
mitfühlend. »Sie fehlt dir wohl sehr.«
»Ja.«
Er geht nicht näher darauf ein, und ich habe das
unbestimmte Gefühl, dass er nicht darüber reden will. Also blubbere
ich natürlich fröhlich weiter. »Und wie läuft es mit ihrem Film?«,
erkundige ich mich, was in Wahrheit die Verschlüsselung für »Wie
läuft es zwischen euch beiden?« ist.
»O.K.« Er zuckt die Achseln und fährt mit den
Fingerspitzen über seinen sprießenden Schnurrbart. »Glaube ich
zumindest«, fügt er hinzu.
Wie ich gedacht habe. Irgendetwas ist im
Busch.
»Ich habe eine ganze Weile nicht mehr mit ihr
gesprochen. Es ist ziemlich schwierig für sie, vom Set aus
anzurufen.« Er kratzt den Kaffeeschaum vom Tassenrand und leckt ihn
vom Löffel ab. »Und der Zeitunterschied ist auch nicht gerade
hilfreich.«
Offenbar erfindet er Ausreden für sie, denke ich,
während ich mit einem Mal das Bedürfnis habe, Gabe zu beschützen,
und eine Abneigung gegen Mia mit ihrem schwungvollen Haar und ihren
blitzenden Zähnen hege. »Fernbeziehung, was?«, bemerke ich.
Er nickt und wechselt das Thema. »Und, magst du
diesen neuen Kerl? Wie hieß er noch, sagtest du?«
»Ich habe gar nichts gesagt«, erwidere ich
lächelnd. »Er heißt James. Und, ja, ich mag ihn.«
Das, Heather Hamilton, muss die Untertreibung des
Jahrhunderts sein. »Das Lustige an der Geschichte ist, dass er mich
offenbar schon eine halbe Ewigkeit um eine Verabredung bitten
wollte, aber immer dachte, ich sei nicht interessiert.«
»Wann siehst du ihn wieder?«
»Heute Abend«, antworte ich beiläufig und nippe an
meinem Milchkaffee.
Zumindest versuche ich, beiläufig zu klingen, doch
Gabe durchschaut mich auf der Stelle. »Zwei Abende hintereinander?«
Er stößt mich unter dem Tisch mit dem Knie an.
»Ich weiß«, räume ich ein und versuche, mir meine
Aufregung nicht anmerken zu lassen. James ist so toll, dass ich
Angst habe, das Ganze zu vermasseln, indem ich mich zu sehr in
diese Geschichte reinhänge.
Gabe hingegen scheint diese Sorge nicht zu
teilen.
»Wow«, sagt er gedehnt. »Der steht ja mächtig auf
dich, Mädchen.« Grinsend beißt er ein Stück von seinem Toast ab und
kaut mit offenem Mund - eine Angewohnheit, die bei jedem anderen
unappetitlich aussähe, bei Gabe jedoch etwas Reizendes an sich
hat.
»Oh, ich weiß nicht …«, erwidere ich bescheiden,
aber Gabe bringt mich zum Schweigen.
»Heather, hör mir zu.« Er hält inne und saugt
geräuschvoll den Rest seines Orangensafts mit dem Strohhalm auf,
ehe er mich ernst ansieht. »Du magst diesen Kerl seit einer
Ewigkeit, und soweit ich es mitbekommen habe, hat er dir gestern
gesagt, dass auch er dich seit einer Ewigkeit mag. Also, wo ist das
Problem?«
»O.K., O.K., du hast ja Recht. Es gibt kein Problem
… und vielleicht ist genau das das Problem.«
Gabe sieht mich belustigt an. »Bist du sicher, dass
du nicht Jüdin bist?«
Ich muss zugeben, wenn Gabe nicht gerade in
Standup-Comedy-Laune ist, kann er ziemlich witzig sein. Ich schlage
zum Spaß mit meiner Zeitung nach ihm, als jemand gegen meinen Stuhl
prallt, so dass sich mein Kaffee über meinen Schoß ergießt. »Hey!
Können Sie nicht aufpassen, wo Sie gehen?«, schreie ich und springe
von meinem Stuhl auf.
»’Tschuldigung!«, ruft eine Horde Jungs im Chor,
ehe sie weiter die Straße hinunterstürmen.
»Alles O.K.?«, erkundigt sich Gabe und reicht mir
eine Serviette.
»Ja.« Ich tupfe meinen Schoß ab.
»Die Jugend von heute, was?«, meint er.
Es entsteht eine Gesprächspause, während ich die
Flecken auf meinen Kleidern bearbeite und Gabe sich hinter der
Zeitung verschanzt, das Sonntagsmagazin herauszieht und auf der
letzten Seite aufschlägt. Die geübten Handbewegungen des
gewohnheitsmäßigen Horoskoplesers. »Soll ich dir dein Horoskop
vorlesen?«, fragt er gut gelaunt.
»Ach, das ist doch alles Blödsinn«, wiegle ich ab
und lege die klitschnasse Serviette auf den Tisch.
»O.K., bitte sehr.« Gabe zuckt die Achseln und
fängt an zu lesen. Einen Augenblick lang sehe ich ihm zu, ehe mich
die Neugier packt. Ich recke den Hals und versuche, den Text zu
entziffern. Vielleicht steht bei mir ja etwas über Beziehungen.
Verdammt, es ist zwecklos. Ich kann nichts erkennen. »Also gut,
dann lies eben vor«, gebe ich mich geschlagen. »Ich bin Fische«,
füge ich hinzu.
»Fische, ja?« Gabe hebt vielsagend die
Brauen.
»Derzeit stehen all Ihre Planeten in Konjunktion,
was bedeutet, dass für die Fische eine wichtige Zeit in punkto
Karriere, Familie und in der Liebe anbricht. Schwerwiegende
Veränderungen stehen bevor. Sie haben eine Glückssträhne, also
machen Sie sich auf einen unverhofften Gewinn gefasst.« Er sieht
auf. »Wow, das klingt ja, als würdest du im Lotto gewinnen.«
»Ich? Ich habe noch nie etwas gewonnen«, erwidere
ich lachend, ehe mir mein Lottoschein wieder einfällt. Mein Herz
beginnt zu hämmern. Schnell, ganz schnell. »Los, Gabe, gib mir die
Zeitung rüber. Ich muss etwas nachsehen.«
»Willst du nicht hören, was deine Sterne sonst noch
sagen?«
»Gleich.« Ich fummle mich durch die Zeitungsteile,
bis ich den finde, nach dem ich gesucht habe, und überfliege ihn.
Nein, hier ist es nicht. Mein Blick schweift über die Seite. Dann
sehe ich sie endlich: Die Lottozahlen vom Vorabend.
Ich betrachte sie genauer.
Sie kommen mir bekannt vor.
Ich nehme mir einen Augenblick Zeit, um
durchzuatmen. 30, mein Alter; 14, meine Hausnummer; 6, die Zahl der
Jahre, die ich bei Together Forever arbeite. Neugierig lasse ich
meinen Blick weiter über die Seite wandern. 27. Meine Mutter hatte
am 27. April Geburtstag. Ich versuche, mich an die letzten beiden
Zahlen zu erinnern, die ich in meiner Eile wahllos angekreuzt habe.
Ich bin mir ziemlich sicher, dass es die 13 war … Verdammt! Da
steht sie, schwarz auf weiß! Mein Magen schlägt einen Purzelbaum,
halb vor Aufregung, halb vor Angst. Und jetzt die letzte Zahl. 41.
Habe ich die 41 angekreuzt? Los, Heather, denk nach, denk nach
-
»Heather?«
Ich fahre vor Schreck zusammen. Gabe hatte ich
völlig vergessen.
»Bist du sicher, dass es dir gut geht?«
»Ja, prima …« Ich versuche, mich ein wenig zu
beruhigen.
Oh Gott, ich glaube, ich habe im Lotto
gewonnen.
»Du sieht so ernst aus«, sagt er und mustert mich,
als wäre ich ein Ausstellungsstück in einem Museum.
»Wirklich?« Ich entspanne meine Gesichtszüge und
ringe mir ein Lächeln ab.
Und der Jackpot wurde letzte Woche nicht
geknackt.
»Du siehst gar nicht gut aus. Du bist auf einmal so
blass.«
Ich bin Millionärin.
»Vielleicht sollten wir lieber nach Hause gehen.
Ich lasse die Rechnung kommen.« Er gibt dem Kellner ein
Zeichen.
»Moment. Ich will nur kurz auf meinen Lottoschein
sehen.«
»Aha, Horoskope sind also nichts als Blödsinn,
ja?«, lacht er und hebt den Arm.
Wie in Trance taste ich nach meiner Tasche. Wow,
können Sie sich vorstellen, wie aufregend so etwas ist? Was werden
all die anderen sagen? Aber vielleicht sollte ich lieber anonym
bleiben und die Öffentlichkeit meiden - ich will keine Tonnen von
Bittbriefen bekommen und von Leuten umgeben sein, die versuchen,
mich zu entführen, und eine riesige Lösegeldsumme verlangen.
Äh, Moment mal. Ich fahre mit der Hand über die
Lehne meines Stuhls und suche nach dem Lederriemen. Eine winzige
Flamme der Panik entzündet sich in meinem Inneren, und ich werfe
einen Blick über die Schulter auf die Lehne, wo ich sie vorhin
hingehängt habe.
Sie ist nicht da.
»Sie ist gestohlen worden«, flüstere ich wie
erstarrt vor Schock.
»Wie bitte?« Ich höre Gabes Stimme, kann die Worte
aber nicht zuordnen.
»Sie ist weg.« Ich springe entsetzt auf, suche mit
den Augen den Asphalt unter dem Tisch ab, um den Stuhl herum, auf
dem Bürgersteig.
»Hey, was ist los?«
»Meine Tasche!«, winsle ich verzweifelt und frage
mich, wie um alles in der Welt so etwas passieren konnte. Und dann
fällt mir die Horde Jungen wieder ein, die gegen meinen Stuhl
gestoßen sind. Wut keimt in mir auf, als mir klar wird, was
vorgefallen ist. Wut auf sie und auf mich selbst. Meine Güte, das
ist der älteste Trick der Welt, Heather. »Diese Jungs müssen sie
geklaut haben!« Die Worte sprudeln aus meinem Mund, während ich
immer noch hektisch mit Blicken den Bürgersteig absuche, als
bestünde die Chance, dass eine braune Ledertasche auf einmal hinter
einem Stuhlbein hervorspringt. »Ich bin bestohlen worden.«
»Meine Güte!« Gabe steht auf und sieht sich
ebenfalls um.
»War alles in dieser Tasche?«
Ich spüre, wie mir die Tränen kommen. »Mein
Telefon, die Hausschlüssel, die Brieftasche …«
»Mit viel Bargeld?«
Unter diesen Umständen hat die Vorstellung, ich
hätte eine Menge Bargeld in der Geldbörse, beinahe etwas Komisches.
»Nicht viel, vielleicht einen Zehner oder so«, murmle ich und sinke
auf meinem Stuhl zusammen. »Aber das ist nicht so wichtig.«
»Hey, ich weiß, es sind die persönlichen Dinge, an
denen man hängt.«
»Nein, das ist es nicht …« Ich beginne zu
schniefen, ehe ich mich zusammenreiße. Nein, ich kann ihm nicht
sagen, warum dieser Lottoschein so wichtig ist, oder? Das würde
doch bedeuten, ich muss ihm die Geschichte mit der Zigeunerin, dem
Heidekraut und der Tatsache erzählen, dass alle meine Wünsche in
Erfüllung gehen. Er wird glauben, er teile sich die Wohnung mit
einer Irren.
»Ist es der Schock?« Gabe drückt meine Hand.
Ich nicke stumm. Schock? Ich bin außer mir.
In der einen Minute hatte ich noch mein Haus in
Holland Park, meine Villa in Italien und meinen neuen Aston Martin,
und jetzt - puff - ist alles weg. Samt meiner Brieftasche, meinen
Schlüsseln, dem Handy, meinem Filofax - in dem auch noch meine
Adresse steht, was bedeutet, dass ich die Schlösser austauschen
muss. Wenn es so weitergeht, wird mich dieser Lottoschein noch ein
Vermögen kosten …
»Ich weiß, es ist übel«, meint Gabe, »aber wir
können im Moment nicht viel tun. Wir sollten nach Hause gehen und
den Diebstahl bei der Polizei melden.«
»Ebenso gut könnte ich gleich aufs Revier gehen«,
sage ich und versuche, nicht daran zu denken, wie sehr ich mich auf
einen Spaziergang mit Gabe durch den Heath gefreut habe, der nun
ins Wasser fällt. »Aber du brauchst nicht mitzukommen.«
»Hey, natürlich komme ich mit.«
»Nein, ehrlich, ist schon gut. Genieß den Rest des
Tages, lass einen Drachen steigen«, necke ich ihn schwach mit einer
Geste in Richtung Heath.
»Na ja, wenn du sicher bist …«
»Ich bin sicher«, erkläre ich fest. »Die Bank wird
eine Diebstahlsanzeige brauchen, also muss ich einen Bericht
ausfüllen - ich kann diesen Papierkram genauso gut gleich hinter
mich bringen.« Toll. Genau die Beschäftigung, die ich mir für
meinen Sonntagnachmittag vorgestellt habe.
»O.K., O.K....« Es entsteht eine kurze Pause, ehe
er schüchtern hinzufügt: »Ich weiß ja nicht, ob dich so etwas
interessiert, aber ich treffe mich später mit meinem Onkel in einem
Comedy Club, den er kennt. Dort ist heute offene Bühne, und ich
kann ein wenig Übung gebrauchen … wenn du Lust hast, kannst du gern
mitkommen.«
Ich bin geschmeichelt von seiner Einladung, doch
die Worte »offene Bühne« lösen einen spontanen Fluchtimpuls in mir
aus. Deshalb bin ich umso dankbarer, dass ich eine plausible
Ausrede habe. »Danke, aber ich treffe mich mit James«, erinnere ich
ihn.
»Ach ja, das hatte ich völlig vergessen …« Für den
Bruchteil einer Sekunde glaube ich, Enttäuschung in seinen Augen
aufflackern zu sehen, doch dann lächelt er. »Vielleicht nächstes
Mal, was?«
»Ja, nächstes Mal«, bestätige ich und schiebe den
Gedanken beiseite, wie ich mich dann herauslavieren werde.
»Tja, dann sehen wir uns wohl später.« Gabe tritt
neben mich, und da ich annehme, dass er mir einen Kuss auf die
Wange geben will, wende ich den Kopf ab - mit dem Ergebnis, dass
unsere Nasen kollidieren und sich unsere Lippen treffen. Wir zucken
zurück, als hätte uns etwas gestochen.
»Oh, tut mir leid.« Ich lache unbehaglich.
»Kein Problem, das liegt an meinem großen Riecher.«
Gabe grinst, doch ich bin sicher, dass ihm das Ganze ebenso
peinlich ist wie mir.
»Tja, bis dann«, sage ich brüsk.
»Äh … ja … bis dann«. Er winkt mir verlegen
zu.
Ich bleibe auf dem Bürgersteig stehen, sehe ihm
nach, wie er in Richtung Heath davongeht und zwischen den Leuten
verschwindet, die auf dem Weg zu einem müßigen Nachmittag auf dem
Rasen sind. Mit einem Anflug von Neid fluche ich auf die Kerle, die
meine Tasche gestohlen haben. In diesem Moment fällt mir wieder
ein, was Ed neulich im Pub zu mir gesagt hat: Pass bloß auf, was
du dir wünschst. Seine Worte lösen ein unbehagliches Gefühl in
mir aus. Habe ich mit meinem Wunsch, ich würde im Lotto gewinnen,
irgendwie herauf beschworen, dass meine Handtasche gestohlen wird?
Lag es daran, dass ich den Beleg in der Geldbörse hatte?
Oder weil mein Wunsch lediglich lautete, im Lotto
zu gewinnen, aber nicht, das Geld auch zu
behalten?
Bei diesem Gedanken erfasst mich Panik. Und Angst.
Doch dann rufe ich mich zur Ordnung. Ehrlich, Heather, wann hast
du schon je auf das gehört, was dein Bruder sagt? Ich fühle
mich wie eine Idiotin, diese Möglichkeit überhaupt nur in Betracht
gezogen zu haben, als ich resigniert zur U-Bahn gehe.