KAPITEL 15
Barbra Streisand säuselt aus der Stereoanlage, als
ich den Laden an der Ecke betrete und die elektronische Glocke
auslöse. Mrs. Patel blickt von dem undefinierbaren Objekt auf, das
sie gerade strickt, und wirft mir denselben Blick über den Rand
ihrer Brille hinweg zu, mit dem sie jeden Kunden bedenkt - die
Stirn gefurcht, die mit Kajalstift umrahmten Augen
zusammengekniffen, winziger Mund mit widerwillig geschürzten
Lippen. Ihr ganzes Gesicht kräuselt sich, als ziehe jemand die
Schnur eines Turnbeutels zusammen.
Nickend lächle ich sie an und steuere auf den
hinteren Teil des Ladens zu, wo ihre Weinvorräte stehen. Als ich in
die Gegend gezogen bin, dachte ich anfangs, das Sortiment sei
bestimmt sehr eingeschränkt - eine verstaubte Flasche
Liebfrauenmilch oder ein überteuerter Chianti im Bastkorb. Aber ich
habe mich geirrt. So etwas mag einen in den meisten Läden erwarten,
aber hier haben wir es nicht mit irgendeinem kleinen Geschäft an
der Ecke zu tun, sondern mit Mrs. Patels. Und ich wäre nie darauf
gekommen, dass diese winzige Inderin mit ihren leuchtend bunten
Saris und ihrer ausgeprägten Schwäche für Barbra Streisand und
Barry Gibb so etwas wie eine Weinkennerin ist.
Nun stehe ich im Laden und betrachte grübelnd eine
Flasche Sauvignon blanc. Das ist mein Lieblingswein, aber
vielleicht sollte ich diesmal etwas anderes nehmen. Ich gehe wieder
zu den Roten. Nein, zu schwer, außerdem verfärbt Rotwein die Zähne.
Also wieder zurück zu den Weißen. Andererseits wirkt Weißwein ein
bisschen billig, oder? Erinnert irgendwie an Bridget Jones.
Ich seufze ungeduldig. Meine Güte, das ist ja
schwieriger, als ich dachte. Normalerweise bin ich nicht so
unentschlossen. Ich habe hier schon hunderte Male eine Flasche Wein
gekauft und nie auch nur eine Sekunde gezögert … Was ist heute
anders? Gabe, sage ich mir beim Gedanken an den durchnässten
Amerikaner in meinem Garten. Er hat mir die Wahl überlassen, aber
ich will nicht mit etwas Langweiligem ankommen, sondern einen guten
Eindruck machen, besonders nach dem Vorfall mit der Vase.
Wieder stoße ich einen Seufzer aus. Mann, ist das
schwer. Ich kann mich einfach nicht entscheiden. Aber plötzlich
habe ich eine Idee.
Ich schließe die Augen. »Eene, meene, mu«, murmle
ich und zeige beim letzten Wort mit dem Finger auf eine Flasche.
Doch statt des harten, kalten Glases spüre ich etwas Weiches,
Warmes … etwas Lebendiges? Ich reiße die Augen auf und starre auf
meinen Finger, der die Schulter von jemandem berührt. Die Schulter
eines Mannes. Meines Nachbarn.
Abrupt beginnt mein Magen zu flattern, als säße ich
in einem Flugzeug und wir flögen durch Turbulenzen, die die
Maschine hundert Meter absacken lassen. »Oh … tut mir leid …«,
bringe ich gerade noch stammelnd hervor.
Stellen Sie sich Hugh Grant auf der Leinwand vor.
Und dann machen Sie eine 30-jährige, rothaarige Frau daraus. Genau
das bin ich. Nur dass das hier kein Film ist, sondern das wahre
Leben. Mein Leben. Mein unfassbar peinliches Leben.
»Ich … äh … tut mir leid … ich wollte nur gerade
…«
Verdammt noch mal, das ist ja fürchterlich. Wieso
muss ich immer wie eine Idiotin dastehen, wenn er auftaucht? Kein
Wunder, dass er mich nie bemerkt. Ich wende mich ab und gebe vor,
die Regale eingehend zu betrachten. Ich wünschte, ich könnte mich
nur ein einziges Mal normal mit ihm unterhalten. Könnte ich ihm
doch nur beweisen, dass ich keine durchgeknallte Irre bin.
»Den richtigen Wein auszusuchen ist immer
schwierig, was? Man braucht eine halbe Ewigkeit, um sich all die
Etiketten anzusehen, und wenn man nach Hause kommt, schmeckt er
trotzdem völlig anders als erwartet.«
Äh, hallo? Spricht er mit mir? Meine Augen wandern
von seinen Füßen aufwärts, vorbei an dem Grübchen in seinem Kinn zu
seinem Mund. Er lächelt mir zu - ein freundliches, nachsichtiges
Lächeln, das man alten Menschen mit Gedächtnisschwierigkeiten oder
Kindern schenkt, wenn sie einem erzählen, dass sie eines Tages
ihren Hamster heiraten wollen. Es ist dieses Lächeln, das Meryl
Streep so perfekt beherrscht.
Das Herz sackt mir in die Hose. Wahrscheinlich
erkennt er mich noch nicht einmal.
»Wir sind einander nie vorgestellt worden. Ich bin
James und wohne im Haus gegenüber.« Er streckt mir die Hand
hin.
»Oh, ja … Hi, ich bin Heather.« Ich versuche, sein
Lächeln zu erwidern, doch meines ist zittrig und nervös wie bei
einem Kind, das zum ersten Mal ohne Stützräder auf dem Fahrrad
sitzt. Ich schüttle ihm die Hand und könnte schwören, dass er sie
eine Sekunde länger festhält, als unbedingt nötig wäre. Aber
vielleicht ist das auch nur Wunschdenken von mir.
Ȇbrigens habe ich hier vor ein paar Tagen einen
köstlichen Weißwein gekauft. Wo war er noch? Ah, ja, hier.« Er
lässt meine Hand los und greift nach einer Flasche. Ich betrachte
ihn lüstern. Wahrscheinlich ist er hier, um eine Flasche Wein für
sich und seine Freundin zu besorgen, vermute ich, als mir die
hübsche Brünette wieder einfällt, mit der ich ihn letzte Woche
gesehen habe. Meine Güte, was für ein Glückspilz. Ich wünschte, er
wäre mein Freund.
Plötzlich merke ich, dass ich ihn mit offenem Mund
anstarre, und reiße ihm die Flasche aus der Hand. »Äh, toll … Danke
für die Empfehlung«, stottere ich hastig und wende mich zum Gehen,
bevor ich mich noch mehr zum Narren machen kann.
»Andererseits gibt es auch noch diesen wunderbaren
Chablis …«
Ich habe höchstens zwei Schritte gemacht, als seine
feste, tiefe Stimme an mein Ohr dringt. Ich bin versucht, einfach
weiterzugehen und so zu tun, als hätte ich sie nicht gehört, aber
sie ist so unwiderstehlich wie eine Tüte Maltesers. Man will sie
haben. Man weiß zwar, dass man es später bereuen wird, trotzdem
verputzt man die ganze Tüte auf einmal.
Ich erliege der Versuchung und werfe einen Blick
über die Schulter. Er steht mit einer Flasche bernsteinfarbenem
Wein in der Hand da. »Vielleicht kann ich Sie ja in Versuchung
führen?« Wieder lächelt er mich an, nur ist es diesmal nicht dieses
Wirre-Senioren-Lächeln, sondern eher ein … »Es tut mir leid, ich
stelle mich nicht besonders geschickt an, was?« Ein reumütiges
Lächeln? Er steht mit einer Flasche in jeder Hand da und zuckt
die Achseln. »Wahrscheinlich glauben Sie, ich sei ein Idiot, der
die ganze Zeit nur über Wein schwadroniert …« Verlegenes
Lächeln? »… obwohl ich Sie in Wahrheit fragen wollte …«
Nervöses Lächeln? »… ob Sie irgendwann mal etwas mit mir
trinken gehen würden?« Anmach-Lächeln?
Ich habe die ganze Zeit dagestanden, wie erstarrt
in einer »Das kann doch nicht wahr sein«-Verblüffung, während ein
Wort nach dem anderen aus seinem Mund kommt und sich vor mir
aufreiht wie Wäschestücke auf einer Leine. Und nun hängen sie da
und warten darauf, dass ich etwas tue. Aber ich kann nicht, weil
ich mich einem Schockzustand befinde. Nachdem wir zweieinhalb Jahre
kein Wort gewechselt haben, bittet mich mein attraktiver,
wunderschöner Nachbar, der rein zufällig die Verkörperung von Mr.
Perfect ist, um eine Verabredung.
Wie in Trance zerlege ich seine Worte im Geiste.
Irgendwann. Etwas. Mit. Mir. Trinken. Gehen.
»Und?«
Ich kehre in die Gegenwart zurück. Er wartet auf
meine Antwort. Aber liegt sie denn nicht auf der Hand? Warum um
alles auf der Welt sollte ich nicht etwas mit ihm trinken gehen
wollen? Nennen Sie mir einen guten Grund, der dagegen spricht.
Die Brünette.
Enttäuschung macht sich in mir breit - Er
scheint so nett zu sein -, gefolgt von Resignation - Ich
wusste, dass es zu schön ist, um wahr zu sein -, gefolgt von
Empörung: Dieser hinterhältige Mistsack. »Ich habe keinen
Respekt vor Männern, die ihre Freundin betrügen.«
»Wie bitte?«
»Mein letzter Freund war untreu«, füge ich
hinzu.
Ich mache mich auf ein Schuldeingeständnis gefasst,
auf ein verlegenes Erröten, doch stattdessen macht er ein
betroffenes Gesicht. »Oh, äh … wirklich? Tut mir leid, das zu
hören.« Es entsteht eine Pause, und er starrt mich fragend an.
»Entschuldigung, aber habe ich irgendwas nicht mitbekommen?«
Respekt, Aufrichtigkeit, Integrität, würde ich ihm
bei der Erinnerung an Daniel am liebsten an den Kopf werfen. Doch
stattdessen lächle ich nur. »Tut mir leid, aber wie hieß Ihre
Freundin noch mal?«, frage ich beiläufig.
»Meine Freundin?«
»Die hübsche Brünette.«
»Ach, du meine Güte.« Endlich kapiert er, dass er
aufgeflogen ist, reibt sich das sorgfältig rasierte Kinn und sieht
mich an. Aber ohne auch nur den Anflug eines schlechten Gewissens,
wie ich empört bemerke, sondern vielmehr mit … könnte das
Erleichterung sein? »Einen Moment lang wusste ich nicht, was hier
los ist. Ich dachte, Sie verwechseln mich vielleicht mit jemand
anderem.« Er lächelt. »Das ist Bella, meine kleine
Schwester.«
Schwester? Überraschung durchzuckt mich. Ich weiß
nicht, ob ich einen Freudensprung machen oder vor Peinlichkeit
heulen soll.
»Soll sie auch mitkommen?« Seine Mundwinkel zucken
belustigt.
Ich kichere nervös. »Nein, Sie genügen
vollauf.«
»Prima«, erwidert er erleichtert. In diesem Moment
fällt der Groschen: Er ist nervös. »Wann passt es Ihnen
diese Woche?«
»Äh, lassen Sie mich überlegen …« Er soll nicht
wissen, dass die Verabredung mit der Videothek meine einzige in
dieser Woche ist.
»Morgen?«, schlägt er vor.
Einen Moment lang überlege ich, ob ich einen auf
cool machen soll, was bedeutet, dass ich den Samstagabend mit einem
Video auf dem Sofa verbringen werde. Doch dann überlege ich es mir
anders. »Perfekt«, erwidere ich und nehme seinen Vorschlag erfreut
an. Pfeif auf Coolness. Ich gehe lieber mit James ein paar Martinis
trinken.
»Prima«, wiederholt er.
Einen Augenblick lang stehen wir einfach nur da,
lächeln einander zu, bis ein Mann mittleren Alters in einem
Nadelstreifenanzug mit hochrotem Gesicht in den Gang gefegt kommt
und eine Flasche Moët aus dem Regal reißt. »Verdammter
Hochzeitstag«, japst er und schiebt sich an uns vorbei zur
Kasse.
Wir wechseln einen Blick.
»Natürlich gibt es auch immer eine Alternative.
Champagner«, grinst James und stellt endlich die beiden Flaschen
ab. »Wenn Sie was zu feiern haben.«
Seltsam, dass er das sagt …
Als ich vor meiner Wohnung stehe und mich von
James verabschiede, der mich bis zur Tür begleitet und mich auf die
Wange küsst, schwebe ich förmlich auf Wolken. Ich schließe die Tür
hinter mir, lehne mich dagegen und muss einige Male tief Luft
holen. Ich kann es immer noch nicht glauben. James hat mich zum
Essen eingeladen - oh ja, das hätte ich ja beinahe vergessen. Auf
dem Rückweg vom Laden hat sich der Drink zu einem Abendessen
ausgedehnt. Morgen Abend holt er mich um acht Uhr ab.
Ich sage es mir einige Male vor - teils um zu
hören, wie es klingt, aber auch, um meinem Verstand Gelegenheit zu
geben, die Information zu verarbeiten. Und weil ich es am liebsten
laut von den Dächern gerufen hätte.
Ich, Heather Hamilton, habe eine Verabredung.
Entzückt trete ich mir die Flip-Flops von den Füßen
und tappe barfuß den Gang entlang in die Küche. »Hey, Gabe, du
errätst nie, was mir gerade …« Ich haste nach draußen in den
Garten. Doch Gabe ist nicht da.
»Gabe?«, frage ich mit einem Blick auf den leeren
Liegestuhl, die leeren Bierflaschen auf dem Holztisch und auf den
Grill, der ausgegangen zu sein scheint. Ich trete vor den Grill. Er
ist leer, und der Großteil der Kohle ist zu pudriger grauer Asche
zerfallen. So schnell? Ich sehe auf die Uhr und rechne nach.
Losgegangen bin ich um … und jetzt ist es … Großer Gott, ich war
über eine Stunde weg. Wow, so viel zum Thema »Die Zeit vergeht wie
im Flug, wenn man sich amüsiert«.
Doch dann fällt es mir wieder ein. Ich hatte
gesagt, ich sei nur ein paar Minuten weg, um eine Flasche Wein zu
besorgen. In meiner Aufregung habe ich Gabe und unser Barbecue
völlig vergessen. Ich gehe wieder ins Haus und klopfe leise an die
Tür zu seinem Zimmer.
»Gabe? Bist du da drin?« Ich höre nichts, nicht
einmal leise Musik. Gerade als ich einen Blick aus dem
Wohnzimmerfenster werfen will, um zu sehen, ob sein Motorrad noch
vor dem Haus steht, macht er auf.
»Hey.« Er hat ein Buch mit dem Titel »Witzig
sein leicht gemacht« in der Hand. »Ich wollte schon einen
Suchtrupp nach dir losschicken.«
»Hi … Es tut mir leid«, entschuldige ich mich. »Ich
habe die Zeit völlig vergessen und …«
Doch er lässt mich nicht ausreden. »Kein Problem.
Ich habe schon gegessen und deins in den Ofen gestellt, damit es
warm bleibt.«
»Eigentlich habe ich gar keinen Hunger«, sage ich,
und dann kann ich mich nicht länger beherrschen. »Ich bin gerade um
eine Verabredung gebeten worden. Von jemandem, für den ich schon
lange eine Schwäche habe«, füge ich eilig hinzu, für den Fall, dass
er glaubt, ich lasse mich gewohnheitsmäßig auf Verabredungen mit
Männern ein, die ich zufällig auf der Straße kennen lerne.
»Oh … cool.«
Es entsteht eine kurze Pause.
»Ich habe Champagner statt Wein gekauft«, sage
ich.
»Willst du ein Glas?«
»Danke, nein. Es war ein langer Tag, und ich gehe
jetzt zu Bett.«
»Oh, O.K.... wegen des Grillens.«
»Hey, vergiss es.«
»Sicher?«
»Ja, klar.« Er lächelt. »Nacht, Heather.«
»Klar. Gute Nacht, Gabe.«
Ich schwenke die Champagnerflasche zum Abschied,
dann gehe ich in die Küche, um sie in den Kühlschrank zu stellen.
Meine Gedanken wandern wieder zu James, und ich bin so darin
versunken, dass ich, als sich Gabes Tür wenige Augenblicke später
klickend schließt, nur am Rande wahrnehme, dass er im Türrahmen
stehen geblieben sein und mir nachgesehen haben muss. Doch ich bin
zu gefangen von den Ereignissen des Abends, um dem eine Bedeutung
zuzumessen. Selig lächelnd lege ich den Moët auf Eis. Für
später.