KAPITEL 28
Der nächste Morgen dämmert herauf und verspricht einen weiteren schönen Augusttag. Wie eine Katze, die sich in der Sonne räkelt, schmiegt sich Port Isaac in die Bucht, und seine Kopfsteinpflasterstraßen und die weiß getünchten Cottages schimmern in der strahlenden Sonne. Es ist früh, und das Dorf liegt noch im Halbschlaf. Unten am Hafen drängen sich die hölzernen Fischerboote, während am anderen Ende der Bucht der hufeisenförmige Strand am Fuß des steilen Grashügels verlassen daliegt.
Dasselbe Bild bietet sich an der steinigen Küste bis nach Newquay. Die Tagesausflügler sind noch nicht eingetroffen, so dass meilenweit nichts als die schaumigen Wellen zu sehen sind, die wie riesige nasse Butterlocken heranrollen und sich wieder zurückziehen, begleitet vom fernen Kreischen der Möwen, die über uns kreisen.
Aber nicht alle schlafen. Ein Stück vom Ufer entfernt, wo das Licht wie flüssige Diamanten auf den Wellen tanzt, wippt etwa ein Dutzend Gestalten im Wasser auf und ab. Mit ihren schwarzen Körpern könnte man sie fast für Robben halten, aber bei genauerem Hinsehen erkennt man, dass es sich um Surfer handelt, die nach der nächsten Welle Ausschau halten. Die Mehrzahl sind Einheimische, die jeden Tag bei Morgengrauen aufstehen und herkommen - sommers wie winters -, um einige kostbare Stunden am Strand zu verbringen.
Und dort ist auch Gabe.
Er hält sich an dem Surf brett fest, das er früher am Morgen ausgeliehen hat, wischt sich das salzige, nasse Haar aus Gesicht und Augen und konzentriert sich auf den Horizont. So hat er die letzten Minuten dagestanden und auf eine brauchbare Welle gewartet. Bislang waren sie eher mickrig, nichts Aufregendes, aber nun scheint er eine bessere zu sehen.
Er wirft sich flach auf das Surf brett und beginnt hektisch zu paddeln. Wie Mini-Propeller pflügen seine Hände durchs Wasser. Das Timing ist entscheidend. Koordination. Technisches Können. Wie ein Jäger, der seiner Beute nachsetzt, richtet er seine Aufmerksamkeit auf eine Welle in der Ferne, kommt ihr immer näher und näher, bis er seinen muskulösen Körper geschickt aus dem Wasser katapultiert, die Füße fest auf dem Brett platziert und die Arme wie ein Hochseilartist seitlich ausstreckt, während er den Scheitelpunkt erwischt.
Scheinbar ohne jede Mühe hält er das Gleichgewicht, schießt im Zickzack vor und zurück, schneller und immer schneller, während er abwechselnd ein- und wieder auftaucht, als die Welle sich hinter ihm erhebt und ihn wie ein Wildpferd abzuwerfen versucht.
 
Klick.
Als sich die Blende meiner Kamera schließt, spüre ich, wie mich tiefe Befriedigung durchströmt. Bestimmt eine Stunde lang habe ich genau auf diesen Moment gewartet. Von meinem Aussichtspunkt auf dem Hügel über dem Strand aus habe ich Gabe durch die Linse meiner Nikon zugesehen und versucht, das Bild einzufangen, das die wahre Emotion des Surfens widerspiegelt.
Ich habe völlig vergessen, wie schwierig, zeitaufwändig und herrlich Fotografieren sein kann. Nach dem College habe ich pausenlos fotografiert - es war wie Atmen für mich. Ich musste jeden Tag fotografieren, aber in den letzten Jahren habe ich aufgehört, mich um meine eigenen Dinge zu kümmern. Wahrscheinlich liegt es daran, dass ich zu beschäftigt bin, damit meinen Lebensunterhalt zu verdienen, aber wenn ich ganz ehrlich bin, ist der wahre Grund, dass es zu sehr schmerzt: Es ist eine qualvolle Erinnerung an all die Hoffnungen und Träume, die ich einmal hatte, und die Tatsache, dass ich es nicht geschafft habe, sie in die Realität umzusetzen.
Noch nicht. Aufregung erfasst mich beim Gedanken an meinen Brief an den Sunday Herald. Gabe hat ihn am Freitag für mich eingeworfen, also bekomme ich mit ein bisschen Glück - falsch: mit meinem Glück - vielleicht noch diese Woche eine Antwort.
Zuversicht durchströmt mich - dieselbe Zuversicht, die mich bewogen hat, meine Kamera aus dem Nachttisch zu holen, wo sie die letzten Monate gelegen hat, die Linse vom Staub zu befreien und sie mit nach Cornwall zu nehmen. Dieselbe Zuversicht, die mich heute beim Aufwachen mit Vorfreude auf die Fotos erfüllt hat, die ich vielleicht machen werde.
Wieder richte ich meine Aufmerksamkeit auf Gabe, der noch immer auf der Welle reitet, inzwischen jedoch kaum mehr zu erkennen ist. Ich zoome auf sein Gesicht, um den konzentrierten Ausdruck einzufangen. Sein Kiefer ist angespannt, und die See versprüht ihre salzige Gischt über ihm. Es gelingt mir, einen Blick auf seine Augen zu erhaschen, die halb unter den dichten Brauen verborgen sind. Er scheint direkt zu mir herzusehen, und dann -
Zack. Er fällt ins Wasser.
Erschrocken sehe ich auf und blicke aufs Meer hinaus. Ohne den vergrößernden Effekt der Linse sind die Surfer lediglich winzige Gestalten im Wasser. Ich lasse meinen Blick über die Wellen wandern, die im strahlenden Sonnenschein glitzern. Aber keine Spur von ihm.
»Gabe!«, schreie ich, stehe auf und winke mit hoch erhobenen Händen, damit er mich besser erkennen kann. Nicht dass ich mir Sorgen machen würde oder so, schließlich ist er ein hervorragender Schwimmer. Er hat sein ganzes Leben am Meer verbracht, hat er mir erzählt, und bewegt sich wie ein Fisch im Wasser. Aber die Strömung ist ziemlich stark hier, und wenn man nicht daran gewöhnt ist, kann man leicht von einem Strudel erfasst, unter Wasser gezogen werden und - meine Gedanken wirbeln wild umher.
»Gabe!«, rufe ich wieder, lauter diesmal. Scheiße, wenn ihm irgendetwas passiert ist, würde ich es mir nie verzeihen. Ich hätte ihm sagen müssen, dass er vorsichtig sein soll, hätte mehr Verantwortung übernehmen müssen … Ich stecke den Verschluss auf die Linse, ziehe mir die Kamera über den Kopf und halte sie in der Hand, während ich über die Grasbüschel den Hügel hinuntergehe.
Der Weg scheint sich ewig hinzuziehen, aber schließlich erreiche ich den Parkplatz am Fuß des Hügels und schaue erneut zum Strand hinüber. Immer noch keine Spur von Gabe.
Nun bekomme ich Angst. Etwas stimmt nicht. Ich ziehe meine Turnschuhe und Socken aus, lasse sie neben dem Motorrad zurück und springe über die Mauer. Meine bloßen Füße kommen auf dem feuchten, weichen Sand auf, und ich laufe in Richtung Meer. Atemlos lasse ich meinen Blick übers Wasser schweifen. Ich sehe jede Menge Surfer, aber keinen Gabe. Wo zum Teufel ist er?
Panik erfasst mich. Was, wenn er sich den Kopf gestoßen hat und bewusstlos im Wasser treibt oder sich schwer verletzt hat?
Ich muss etwas unternehmen - den Rettungsschwimmer alarmieren oder den Notruf wählen … Ein Schluchzer entfährt mir. Ich wünsche mir so sehr, dass er hier wäre.
»Buh!«
Ich bekomme fast einen Herzanfall vor Schreck, wirble herum und presse mir die Hände auf die Brust.
Gabe steht mit dem Brett in der Hand hinter mir und grinst.
Eine Woge der Erleichterung erfasst mich - die augenblicklich Wut Platz macht.
»Was zum Teufel soll das?«, schreie ich. »Du hast mich zu Tode geängstigt.«
»Hey, komm schon, es war nur ein Witz.«
»Ein Witz!«, kreische ich. »Ich dachte, du bist ertrunken!«
»Ich bin abgerutscht, und als ich wieder an die Oberfläche kam, war ich auf der anderen Seite der Bucht.«
»Aber ich habe dich gesucht und nach dir gerufen -« Ich unterbreche mich, weil ich so wütend bin, dass mir die Tränen in die Augen steigen.
»Weißt du eigentlich, wie süß du aussiehst, wenn du wütend bist?«
Ich bedenke ihn mit einem bitterbösen Blick. »Du bist so was von nicht witzig.«
»Natürlich bin ich witzig. Es ist mein Job, witzig zu sein.« Er lacht mit gespielter Empörung. »Ich bin Standup-Comedian, schon vergessen?«
Das ist der Moment, in dem ich wohl besser den Mund halten sollte … »Tja, das ist was anderes.«
Aber ich tue es nicht.
»Ich hasse Standup-Comedy.«
Kaum sind die Worte über meine Lippen gekommen, wünsche ich mir nichts mehr, als sie ungesagt zu machen.
Einen Augenblick lang herrscht Schweigen. »Du hasst Standup-Comedy?«, fragt Gabe und starrt mich verblüfft an. »Und du findest mich nicht witzig?«
Oh Scheiße! Ich überlege kurz, ob ich bluffen soll, doch mir ist klar, dass es nichts bringen würde, also schüttle ich kaum merklich den Kopf.
»Überhaupt nicht?«
Ich bewege den Kopf nur ein winziges Stück und wage es kaum, ihm in die Augen zu sehen, doch als ich es tue, erkenne ich den Schmerz in seinem Blick. Ich zucke zusammen. Ich und meine große Klappe. Wieso musste ich das unbedingt sagen? Ich bin so eine dämliche Idiotin.
Und noch während ich mich innerlich in den Hintern trete, legt Gabe den Kopf in den Nacken und bricht in dröhnendes Gelächter aus. Er grölt förmlich vor Lachen, mit so weit aufgerissenem Mund, dass ich jeden einzelnen seiner perfekten weißen Backenzähne erkennen kann.
Verdattert sehe ich ihm zu, bis er mich bei den Händen packt. »Mag sein, dass ich nicht witzig bin, aber du bist es eindeutig, Heather Hamilton.«
Ich bin verwirrt und komme mir vor, als hätte ich mich bis auf die Knochen blamiert. »Ich dachte, du bist tot«, erkläre ich.
Er lächelt verlegen. »Ich weiß, und es tut mir leid. Ich sollte nicht lachen.« Er nimmt sein Brett, klemmt es sich unter den Arm, und gemeinsam machen wir uns auf den Weg über den Strand zum Parkplatz. Schweigend gehen wir nebeneinander her, bis Gabe sich mir mit hochgezogenen Brauen zuwendet. »Also, los, ich komme noch um vor Spannung. Wieso findest du mich nicht witzig?«
Ich winde mich unbehaglich. Er wird keine Ruhe geben, bis er es weiß, oder? Aber vielleicht sollte ich es ihm trotz allem sagen. Schließlich ist konstruktive Kritik etwas Gutes. Vielleicht ist er mir sogar dankbar dafür. »Ich habe dich beim Proben beobachtet und finde einfach nicht, dass du so tun solltest, als wärst du jemand anderer als du bist«, platze ich schließlich heraus.
»Wie meinst du das?« Gabe scheint ziemlich verletzt zu sein, und schlagartig bereue ich meine unverblümte »Am besten sage ich ehrlich, was ich denke«-Taktik.
»Du weißt schon, dieses vor Angst schlotternde Getue, dieses Kettenrauchen, all diese dämlichen Stimmen und idiotischen Witze, all dieser Zorn und die Negativität.« Wer A sagt, muss auch B sagen.
»Aber Comedians müssen zornig und negativ sein«, erklärt er.
»Aber nicht du«, erwidere ich schlicht. »Du bist locker und entspannt und die meiste Zeit ziemlich glücklich.« Ich gestatte mir ein Lächeln. »Du bist Amerikaner, was erwartest du? Du kommst aus einer Welt, in der man anderen einen schönen Tag wünscht.«
»Aber das ist Teil der Show«, protestiert er und streicht sich das nasse Haar aus dem Gesicht.
»Aber genau darum geht es doch. Es ist eine Show. Wieso kannst du nicht du selbst sein?«
»Ich habe tausende Dollar bei meinem Therapeuten gelassen, um genau diese Frage beantwortet zu bekommen«, kontert er.
Es entsteht eine Pause.
»Oh, keine Ahnung.« Plötzlich ernst, wirft er mir einen Seitenblick zu, und mir geht auf, dass er mit Flapsigkeit etwas verdecken will, das ihm sehr am Herzen liegt. »Ich schätze, ich habe nie darüber nachgedacht, aber vielleicht halte ich mich so, wie ich bin, für nicht besonders lustig.«
»Dabei bist du viel lustiger, wenn du so bist, wie du bist. Vergiss all die Späße und rede einfach über dich.«
»Aber will das irgendeiner hören?«
»Probier es aus.«
Inzwischen stehen wir beim Motorrad. Gabe holt das Handtuch heraus, das er unter der Sitzbank verstaut hat, und setzt sich auf die Mauer, um sich die Haare trocken zu rubbeln. »Für jemanden, der Standup hasst, hast du ja eine ziemlich klare Meinung zu dem Thema«, bemerkt er.
Ich zucke die Achseln. »Tut mir leid, ich habe eine ziemlich große Klappe. Sag mir einfach nächstes Mal, ich soll den Mund halten.«
Er lacht. »Also, was jetzt?«
»Worauf hast du Lust?«
»Ich bin für alles offen«, antwortet er und zieht den Reißverschluss seines Surfanzugs herunter.
Ich widerstehe dem Drang, eine Doppeldeutigkeit von mir zu geben. »Tja, wie wär’s mit einer kleinen Stadtführung vor dem Mittagessen?«, schlage ich vor.
»Toll. Du meinst, ich kann den echten amerikanischen Touristen spielen?«
»Du bist ein echter amerikanischer Tourist«, necke ich.
Er faltet das Handtuch zusammen und schleudert es nach mir. »Halt den Mund, Heather.«
Der Wunschzettel - Be Careful What You Wish For
pott_9783641016982_oeb_cover_r1.html
pott_9783641016982_oeb_toc_r1.html
pott_9783641016982_oeb_fm1_r1.html
pott_9783641016982_oeb_ata_r1.html
pott_9783641016982_oeb_ded_r1.html
pott_9783641016982_oeb_epi_r1.html
pott_9783641016982_oeb_c01_r1.html
pott_9783641016982_oeb_c02_r1.html
pott_9783641016982_oeb_c03_r1.html
pott_9783641016982_oeb_c04_r1.html
pott_9783641016982_oeb_c05_r1.html
pott_9783641016982_oeb_c06_r1.html
pott_9783641016982_oeb_c07_r1.html
pott_9783641016982_oeb_c08_r1.html
pott_9783641016982_oeb_c09_r1.html
pott_9783641016982_oeb_c10_r1.html
pott_9783641016982_oeb_c11_r1.html
pott_9783641016982_oeb_c12_r1.html
pott_9783641016982_oeb_c13_r1.html
pott_9783641016982_oeb_c14_r1.html
pott_9783641016982_oeb_c15_r1.html
pott_9783641016982_oeb_c16_r1.html
pott_9783641016982_oeb_c17_r1.html
pott_9783641016982_oeb_c18_r1.html
pott_9783641016982_oeb_c19_r1.html
pott_9783641016982_oeb_c20_r1.html
pott_9783641016982_oeb_c21_r1.html
pott_9783641016982_oeb_c22_r1.html
pott_9783641016982_oeb_c23_r1.html
pott_9783641016982_oeb_c24_r1.html
pott_9783641016982_oeb_c25_r1.html
pott_9783641016982_oeb_c26_r1.html
pott_9783641016982_oeb_c27_r1.html
pott_9783641016982_oeb_c28_r1.html
pott_9783641016982_oeb_c29_r1.html
pott_9783641016982_oeb_c30_r1.html
pott_9783641016982_oeb_c31_r1.html
pott_9783641016982_oeb_c32_r1.html
pott_9783641016982_oeb_c33_r1.html
pott_9783641016982_oeb_c34_r1.html
pott_9783641016982_oeb_c35_r1.html
pott_9783641016982_oeb_c36_r1.html
pott_9783641016982_oeb_c37_r1.html
pott_9783641016982_oeb_c38_r1.html
pott_9783641016982_oeb_c39_r1.html
pott_9783641016982_oeb_c40_r1.html
pott_9783641016982_oeb_c41_r1.html
pott_9783641016982_oeb_c42_r1.html
pott_9783641016982_oeb_c43_r1.html
pott_9783641016982_oeb_c44_r1.html
pott_9783641016982_oeb_c45_r1.html
pott_9783641016982_oeb_c46_r1.html
pott_9783641016982_oeb_c47_r1.html
pott_9783641016982_oeb_bm1_r1.html
pott_9783641016982_oeb_ack_r1.html
pott_9783641016982_oeb_cop_r1.html