KAPITEL 2
Ein Meer aus farbenfrohen Hüten mit Straußenfedern
und hauchzarter Seide, die in der Brise des Deckenventilators
erzittern, empfängt uns, als wir eintreten. Der Raum ist voller
Menschen. Die Gäste sitzen Schulter an Schulter, rutschen in der
stickigen Hitze unbehaglich auf ihren Stühlen herum und tauschen
den neuesten Familienklatsch aus. Einer Hand voll Kinder ist
langweilig geworden, und sie spielen Fangen zwischen zwei hohen
Blumengestecken, die wie zwei Rausschmeißer in Liliengestalt die
Tür flankieren. Irgendwo weint ein Baby.
Niemand bekommt mit, wie Brian und ich
hereinkommen, außer natürlich der Standesbeamte, der uns am
vorderen Ende des Raums erwartet. Er trägt ein grellbuntes Hemd und
offene Sandalen und eilt mit erleichtertem Blick auf uns zu. Besser
gesagt, trottet.
»Du meine Güte, Gott sei Dank«, flüstert er
halblaut.
»Ich hatte schon Angst, es gibt hier bald einen
Aufstand.« Er kratzt sich an seinem Ziegenbärtchen und verdreht
theatralisch die Augen.
»Keine Sorge, die Kavallerie ist ja hier.« Brian
zieht einen kleinen schwarzen Gegenstand aus der Tasche, hält ihn
vor sich und schwenkt ihn in verschiedene Richtungen.
Der Standesbeamte starrt ihn fragend an. »Was ist
das?«
»Ein Lichtmesser«, erwidere ich, während mein Blick
auf eine Ansammlung von Koffern in der Ecke des Raums fällt. Ich
öffne den Reißverschluss einer schwarzen Tasche, nehme ein Stativ
heraus und stelle es auf. »Wir müssen erst die Lichtverhältnisse
prüfen.«
Der Standesbeamte nickt. »Verstehe.«
»Als offizieller Hochzeitsfotograf ist es meine
Aufgabe, dafür zu sorgen, dass das glückliche Paar die Fotos
bekommt, die es sich immer gewünscht hat«, wirft Brian ein, greift
nach der Kamera und sucht ein Objektiv aus. »Die Erinnerung
verblasst …«
Das ist mein Stichwort. »… ein Foto dagegen bleibt
ein Leben lang«, stimme ich ein.
»Das ist das Motto von Together Forever«, fährt
Brian mit unüberhörbarem Stolz in der Stimme fort, während er mir
den Objektivdeckel reicht und die Kamera auf den Standesbeamten
richtet. »Das habe ich mir selbst ausgedacht.«
»Ehrlich?« Der Standesbeamte mustert ihn
zweifelnd.
»Ich dachte, das sei ein alter Spruch …«
Der Auslöser ertönt mit einem vernehmlichen
Klicken, worauf der Standesbeamte erschrocken zusammenfährt. »Du
meine Güte!« Mit weit geöffnetem Mund wie ein Fisch steht er da und
blinzelt, geblendet von der Helligkeit des Blitzes. In diesem
Moment richtet sich die Aufmerksamkeit der Hochzeitsgesellschaft
auf uns. Alle haben sich auf ihren Stühlen umgedreht und starren
uns mit gespannter Erwartung an.
Schweigen breitet sich im Raum aus. Aber mir ist
klar, dass sie nicht auf uns - schließlich sind wir nur die
Hochzeitsfotografen -, sondern hinter uns starren, auf die Türen,
die sich nun öffnen, während jemand die Play-Taste des
Kassettenrekorders drückt. Saxophonklänge erfüllen den Raum, und
Whitney Houston schmettert »I Will Always Love You«. Während der
Standesbeamte zu seinem Tisch zurückeilt, nehmen Brian und ich
unsere Position ein. Los geht’s.
Ich warte gespannt. Das ist der Augenblick, wenn
die Braut ihren großen Auftritt hat und man zum ersten Mal das
Brautkleid zu Gesicht bekommt. Mein Lieblingsmoment. Schließlich
träumen die meisten von uns irgendwann im Leben einmal davon, was
wir bei unserer Hochzeit tragen wollen. Mit sechs habe ich am
liebsten mein weißes Nachthemd angezogen, Mums alten
Hochzeitsschleier angelegt und so getan, als würde ich Barney,
meinen Teddy, heiraten. Eines Tages fiel ich im Garten in den
Schlamm, worauf meine Mum mich tröstete und meinte, ich sähe
trotzdem wunderschön aus - da alle Bräute an ihrem Hochzeitstag
wunderschön aussähen. Erst seit ich diesen Job habe, ist mir klar,
dass Mum geflunkert hat.
Denn, ja, eine Menge Bräute haben in ihrem
Hochzeitskleid schön ausgesehen, aber ich habe auch riesige weiße
Baisergebilde gesehen, bei deren Anblick man sich am liebsten die
Hand vor die Augen gehalten hätte. Ich habe Familienerbstücke
gesehen, die besser auf dem Dachboden geblieben wären, und so eng
geschnürte Korsetts, dass die Braut buchstäblich daraus hervorquoll
wie eine Eiskugel aus einer Waffeltüte. Ganz zu schweigen von den
neckischen Schleiern, den altmodischen Diademen und den sieben
Meter langen, mit Pailletten bestickten Schleppen. Glauben Sie mir,
ein gefundenes Fressen für jede Stilberaterin. Andererseits sollte
ich lieber den Mund halten. Immerhin steckt zwischen meinen Zehen
Klopapier.
Die Brautmutter gibt ein lautes Schluchzen von
sich, während die älteren Verwandten unter zahlreichen »Ooohs« und
»Aaahs« ihre Bewunderung kundtun. Ein unterdrücktes Kichern
entschlüpft dem Jungen, der vorhin Fangen gespielt hat, ehe sich
die Finger seines Vaters wie ein Schraubstock um sein Ohr
legen.
Und ein erschrockenes Japsen entringt sich meiner
Kehle.
Nur diesmal nicht wegen meiner Blasen an den
Füßen.
Vor mir steht eine Braut in einem grellrosa Kleid
im Flamenco-Stil, die alt genug ist, um meine Mutter sein zu
können. Obwohl … falsch. Meine Großmutter.
»Sie sehen atemberaubend aus, meine Liebe«,
flüstert Brian und schießt ein Foto nach dem anderen.
Was soll ich sagen - der Mann ist ein Profi.
»Das Kleid ist ein Traum … nur ein bisschen nach
links … absolut umwerfend … Und jetzt ein hübsches Lächeln für die
Kamera …«
Bewundernd sehe ich ihm zu, während ich ihm einen
neuen Film reiche. Brian macht das schon so lange, dass er jedes
Mal vom Hochzeitsfieber gepackt wird. Es spielt keine Rolle, ob sie
groß oder klein sind, traditionell oder modern, er liebt sie alle.
Mit Anfang 20 war Brian mit einem Model namens Phoebe verheiratet,
doch nach ein paar Jahren ließen sie sich in aller Freundschaft
scheiden (ich weiß nicht, ob es vor oder nach seinem Coming Out
war), und seitdem folgte eine lange Reihe gescheiterter Aff
ären.
Was ihn jedoch nicht daran hindert, ein wahrer
Romantiker zu sein. Stattdessen hat ihn diese Tatsache nur noch
romantischer werden lassen. Beim Anblick des Brautstraußes auf der
Haube eines Rolls Royce bekommt er jedes Mal feuchte Augen. Er kann
den Hochzeitsmarsch nicht hören, ohne sich mit dem Ärmel die
tränenfeuchten Wangen abzuwischen, und muss sich von der
Brautmutter ein Papiertaschentuch leihen, um sich während des
Ehegelübdes die Nase zu putzen. Ehrlich gesagt, befindet sich
dieser Mann jedes Mal in einem Zustand völliger Auflösung. Bei der
Stelle, wo es »bis dass der Tod uns scheidet« heißt, muss er nach
draußen gehen und frische Luft schnappen.
Was bedeutet, dass ich einspringen muss. Offiziell
bin ich seine Assistentin, aber normalerweise mache ich den
Großteil der Aufnahmen. Trotz des ungeschriebenen
gesellschaftlichen Gesetzes, dass Frauen beim Anblick Neugeborener,
Hundebabys, niedlicher Kleinkinder und - als Krönung - Hochzeiten
in Begeisterungsstürme zu verfallen haben, ruft all das keinerlei
Reaktion in mir hervor. Das bedeutet nicht, dass ich grundsätzlich
gegen Hochzeiten bin. Ganz im Gegenteil - ich bin begeistert von
der Vorstellung, mich Hals über Kopf in einen Mann zu verlieben und
für den Rest meines Lebens mit ihm glücklich zu sein. Ist das nicht
jeder? Aber seit einiger Zeit frage ich mich, ob es dieses »für den
Rest meines Lebens glücklich« tatsächlich gibt. Ich meine,
vielleicht sollte es eher in ein »für den Moment glücklich« oder
»glücklich, bis mir langweilig wird« umformuliert werden. Oder, im
Falle von mir und meinem Ex-Freund, in »glücklich, bis er das
Mädchen aus der Marketingabteilung flachlegt«. Nicht dass ich
verbittert wäre oder so was.
Heftiges Schnäuzen hinter mir holt mich in die
Gegenwart zurück, und ich sehe Brian sich die Nase putzen. Seine
Augen sind rot und verquollen, und er versucht, sich auf die Braut
und den Bräutigam zu konzentrieren, die gerade ihr Ehegelübde
sprechen. Beruhigend tätschele ich ihm den Rücken, reiche ihm ein
frisches Taschentuch und nehme ihm die Kamera ab. Ich hebe sie an
und zoome das glückliche Paar heran.
»Priscilla Klein, du sollst wissen, dass ich,
obwohl ich schon acht Mal verheiratet war, weiß, dass diese Ehe für
immer halten wird …«
»David Wolstenhume, ich gelobe, dass ich dich immer
lieben und ehren werde, selbst wenn du wieder reinmusst …«
Was mich zu meinem nächsten Wunsch bringt.
• Ich werde niemals im pinkfarbenen
Flamencokleid hei raten. Und keinen Mann, der mit einem Fuß im
Gefäng nis steht.
Der Blitz flammt auf, als ich die beiden
fotografiere.
Sehen Sie? Ich tue es schon wieder …
Als alles vorbei ist, packen wir die Kameras ein,
und Brian bietet mir an, mich bis zur U-Bahn mitzunehmen. Aber
leider gibt es auf der Straße eine Baustelle, so dass sich der
Verkehr über die gesamte Marylebone Road staut und wir mittendrin
stecken.
Ich lege meine nackten Füße aufs Armaturenbrett und
kurble das Fenster herunter. Brian fährt einen Minivan, auf dessen
Seiten Together Forever in schwungvoller, hochzeitlich
anmutender Schrift prangt. Eigentlich wollte er einen Hintergrund
aus Konfetti, aber der Schriftsetzer berechnete sein Honorar auf
Stundenbasis, und offenbar ist Konfetti eine zeit- und
arbeitsintensive Angelegenheit, also entschied Brian sich
stattdessen für ein silbernes Hufeisen und Hochzeitsglocken.
Brian hat sein Geld nicht immer als
Hochzeitsfotograf verdient. Früher gehörte er zu den großen
Paparazzi, die überall in der Welt herumreisen und Prominente bei
schicken Filmpremieren ablichten, aber mit dem Tod von Prinzessin
Diana hat sich alles verändert. Brian ist ein glühender Monarchist.
Er hat sämtliche Hochzeiten der Royals auf Video, trinkt seinen Tee
am liebsten aus einer Tasse zum 25-jährigen Thronjubiläum der Queen
und hat sogar geweint, als die königliche Jacht Britannia
außer Dienst genommen wurde. Bei Dianas Tod war er am Boden
zerstört. Als Teil der Paparazzi-Branche fühlte er sich in gewisser
Weise mitverantwortlich, also schmiss er alles hin, verkaufte seine
Zoom-Linsen und seine Trittleitern und rief Together Forever ins
Leben.
An dieser Stelle kam ich ins Spiel.
Ich hatte gerade einen Fotolehrgang auf dem College
absolviert und bewarb mich auf seine Annonce als Assistentin. Es
war nicht unbedingt das, was ich mir vorgestellt hatte - damals war
ich von Kopf bis Fuß in Schwarz gekleidet und schoss stimmungsvolle
Aufnahmen von mit Graffiti bedeckten Hausmauern -, aber ich dachte,
es wäre nur vorübergehend. Nur so lange, bis ich ein wenig mehr
Erfahrung gesammelt hatte, mein Studiendarlehen zurückzahlen und
eine Mappe zusammenstellen konnte, um mich als freie Fotografin zu
versuchen. Sechs Jahre später bin ich immer noch hier.
Sechs Jahre! Unglaublich. Nicht dass ich mich nicht
nach anderen Jobs umgesehen hätte, aber Kontakte, Beziehungen und
der große Durchbruch sind eben alles in dieser Branche. Und der
Zeitpunkt für meinen Durchbruch ist noch nicht gekommen. Ich sage
mir ständig, dass es irgendwann so weit sein wird. Eines Tages
werde ich die neue Annie Leibovitz sein, werde in schicken Galerien
ausstellen und es auf die Titelseiten der Hochglanzmagazine und
Zeitungen schaffen …
Äh, hallo, Erde an Heather.
»Und wie fandest du die Hochzeit?«, fragt
Brian.
Ich sehe ihn an, wie er, übersät von Konfetti und
mit der Zigarette in der Hand, am Steuer sitzt, auf dem er den
Evening Standard aufgeschlagen hat.
»Interessant«, erwidere ich vage - ein klein wenig
wie nach einem Kinobesuch, wenn man sich nicht sicher ist, ob der
Film dem anderen gefallen hat oder nicht. »Und du?«
Er schnippt die Asche aus dem Fenster und
nickt.
»Hmmm … anders …«, gibt er ebenso vage
zurück.
»Was das Kleid angeht, weiß ich nicht so recht …«,
taste ich mich behutsam vor.
»Ich schätze, sie hat ihre Kastagnetten
vergessen.«
Ich kichere, worauf er in sein heiseres
Raucherlachen ausbricht.
»Wir sind wirklich gemein.« Er versucht, sich
zusammenzureißen. »So schlimm war es nun auch wieder nicht.«
»Doch, war es.« Ich lächle, was die Schranken
endgültig fallen lässt. Das ist eine Art Tradition bei uns - so,
wie wenn man mit seinem Freund eine Party besucht hat und auf dem
gesamten Nachhauseweg über alle anderen Gäste herzieht.
»Hast du die Brautjungfern gesehen? Sie waren
unglaublich.«
»Vor allem die kleine Blonde, die unbedingt ihre
Hasenohren tragen wollte.«
»Und der Trauzeuge des Bräutigams, der die Ringe
verloren hat. Er sah völlig fertig aus.«
»Und bekam vor Aufregung sogar Ausschlag.«
»Und musste sich überall kratzen.«
»Ich habe beobachtet, wie er die Hände in der Hose
hatte.«
»Nein, hast du nicht.«
»Ich schwöre bei Gott. Ich habe es
aufgenommen.«
»Mann, das wird ein hübsches Foto.«
Brian und ich schütteln uns vor Lachen. Die
Absurdität unseres Jobs beschert uns eine Art von Unterhaltung, wie
sie komischer nicht sein könnte.
»Also, wann müssen wir morgen da sein?«, frage ich
und wische mir die Tränen ab. »Ich verspreche, diesmal komme ich
nicht zu spät. Ich werde mir einen neuen Wecker zulegen.«
»Keine Sorge. Bleib liegen und hol deinen
Schönheitsschlaf nach.«
Ich verziehe das Gesicht. »Aber es ist Wochenende«,
erinnere ich ihn. Für Menschen in der Hochzeitsbranche sind
Wochenenden stets die hektischsten Tage.
»Ich weiß. Aber ich gebe dir einen Tag frei.«
»Einen Tag frei?«, wiederhole ich ungläubig. »An
einem Samstag?« Während mir die Bedeutung von Brians Worten
aufgeht, werde ich von einem spontanen Hochgefühl erfasst, wie man
es nur bekommt, wenn man feststellt, dass man am nächsten Tag nicht
zur Arbeit gehen muss. Ich kann mich nicht erinnern, wann ich das
letzte Mal ein ganzes Wochenende für mich hatte. Toll. Ich kann
lange ausschlafen. Ich kann im Garten hinter dem Haus in
Klatschzeitschriften blättern. Ich kann sogar das ganze Wochenende
im Bett verbringen, mir Videos ansehen und Pizza liefern lassen …
Ganz allein.
Schlagartig verliert dieser Gedanke seinen Zauber.
Wochenenden sind etwas für Paare. Es ist, als verwandle sich die
Stadt mit einem Mal in Noahs Arche - die Leute schlendern zu zweit
durch den Park, sitzen an Zweiertischen im Café, teilen sich einen
Eimer Popcorn im Kino. Normalerweise verbringe ich die Wochenenden
gemeinsam mit meiner besten Freundin Jess. Der Großteil unserer
alten Clique ist inzwischen gebunden, und als Singles finden wir es
angenehmer, zu zweit unterwegs zu sein. Aber sie arbeitet als
Stewardess und hat am Wochenende einen Flug nach Delhi und
zurück.
»Bist du sicher? Samstag ist doch immer der Tag, an
dem wir am meisten zu tun haben«, wende ich also ein.
»War«, korrigiert Brian. »In letzter Zeit
ist nicht allzu viel los.«
Das stimmt. Mir ist aufgefallen, dass das Geschäft
in den letzten Monaten ein wenig nachgelassen hat, habe mir aber
keine allzu großen Gedanken darüber gemacht. Doch nun sehe ich
Brian mit hängenden Schultern und einer Furche auf der Stirn von
der Breite des Grand Canyon am Steuer sitzen. Etwas stimmt
nicht.
»Du wirst in Zukunft noch mehr freie Wochenenden
haben«, fährt er fort.
»Das Geschäft läuft nicht gut, stimmt’s?«
Eine unheilvolle Stille breitet sich im Wageninnern
aus.
»Tja, darüber wollte ich mit dir reden …« Seufzend
wendet sich Brian mir zu, und ich spüre, wie Unbehagen in mir
aufkeimt. Es stimmt eindeutig etwas nicht. »Ich will nicht, dass du
in Panik gerätst …«
Ich gerate in Panik.
»… weil du eine wunderbare Assistentin und eine
sehr begabte Fotografin bist …«
Oh Gott, ich werde gefeuert. »… und weil ich sehr
gern mit dir zusammengearbeitet habe.«
Habe? Hat er habe gesagt? In der
Vergangenheitsform? Mein Magen sackt in Richtung meiner
blasenbesetzten Zehen. Bis zu diesem Augenblick habe ich mich noch
nie mit dem Gedanken auseinandergesetzt, meinen Job zu verlieren.
Ich war viel zu beschäftigt damit, mich über ihn zu beschweren und
mir zu wünschen, mir liefe etwas Besseres über den Weg. Nun, im
Angesicht der Arbeitslosigkeit, erkenne ich all seine wunderbaren
Seiten. In bequemen, weiten Kleidern und Sandalen zur Arbeit gehen
zu dürfen, Canapés mit Räucherlachs und Hochzeitstorte zum
Mittagessen, einen Boss wie Brian … »Bitte feuere mich nicht!«,
platze ich heraus.
»Dich feuern?«, stößt er mit spitzer Stimme
verblüfft hervor. »Gütiger Himmel, nein. Warum sollte ich die beste
Assistentin feuern, die ich je hatte?«
»Aber ich dachte …«, stammle ich verwirrt.
»Aber es könnte sein, dass ich dich gehen lassen
muss.« Der Mut verlässt mich. Brian benimmt sich wie ein Freund,
wenn er einen sitzen lässt und behauptet, es läge nicht an einem
selbst, sondern an ihm, in der Hoffnung, man fühle sich dadurch
besser. Es spielt keine Rolle, wie sie es sagen - das Ergebnis ist
immer dasselbe. Er verlässt dich.
»Ich versuche dir damit zu sagen, dass ich mir die
Bücher angesehen habe. Das Geschäft läuft nicht besonders gut -« Er
drückt seine Zigarette im Aschenbecher aus und nimmt eine Dose
Raumspray aus dem Handschuhfach, »deshalb wäre es, ehrlich gesagt,
vielleicht besser, du würdest dich nach einem anderen Job umsehen,
Heather.« Er starrt mich an und versucht, meine Reaktion
einzuschätzen.
»Ist es so schlimm?«, frage ich ruhig.
»Schlimmer.« Er erfüllt das Wageninnere mit einer
anständigen Portion Ozeanbrise, legt die Dose zufrieden ins
Handschuhfach zurück und wendet sich wieder mir zu.
»Die Bank verlangt die Rückzahlung meines
Darlehens.«
Schlagartig sieht Brian aus wie ein Mann, auf
dessen Schultern die Last der Welt ruht. Die Tränensäcke unter
seinen Augen erscheinen noch schwerer, die Furchen links und rechts
seines Mundes schneiden sich kratertief in seine Wangen, und er hat
etwas Resigniertes an sich, das ich noch nie an ihm beobachtet
habe. »Vielleicht wird es ja wieder besser«, werfe ich ein, in dem
Versuch, ein wenig Optimismus an den Tag zu legen. Ich hatte keine
Ahnung, wie kurz er vorm Bankrott steht, und fühle mich entsetzlich
- nicht wegen mir, sondern wegen Brian. Mag sein, dass ich meinen
Job verliere, aber für ihn steht alles auf dem Spiel,
einschließlich seines Zuhauses, das er als Sicherheit für das
Geschäft angegeben hat.
»Könnte sein«, meint er und zwingt sich zu einem
Lächeln, »vielleicht kriegen wir durch ein Wunder eine riesige
Hochzeit, mit der ich alle Schulden abbezahlen kann, was?«
»Ja, vielleicht«, stimme ich mit einem
entschlossenen Lächeln zu.
Er stellt das Radio an und widmet sich wieder
seiner Zeitung, während das Lächeln auf meinem Gesicht verebbt.
Besorgnis schiebt sich wie eine dunkle Wolke drohend über mich und
wirft einen düsteren Schatten über meine Zukunft. Im Geiste ziehe
ich meine Liste hervor und füge noch einen Punkt hinzu:
• Ich wünschte, es könnten wirklich Wunder
gesche hen.