KAPITEL 29
»Das ist meine alte Schule.«
»Wow, wie süß«, schwärmt Gabe und betrachtet das
kleine Steingebäude am Ende der Straße. »Wie ein Puppenhaus.«
»Du bist eben aus den Staaten gewöhnt, dass alles
so riesig ist«, erwidere ich mit einem gutmütigen Grinsen. »Nein,
sag nichts - deine Schule war bestimmt groß wie ein
Fußballfeld.«
»Nein, ich war auf der Venice High. Erinnerst du
dich an Grease, diesen Film?«
»Das war deine Schule?«
»Genau.«
»Mann, wie glamourös!«
Gabe bricht in schallendes Gelächter aus.
»Was ist daran so lustig?«
»Glaub mir, die Venice High ist alles andere als
glamourös.«
Wir gehen weiter den steilen Hang hinauf und kommen
am Postamt vorbei, an dem überall Blumenampeln hängen. »Du meinst,
Port Isaac ist aufregender als Hollywood?«, frage ich und deute auf
eine getigerte Katze, die auf dem Fensterbrett döst, und auf eine
kleine alte Frau, die mit ihrer Einkaufstasche die Straße
entlanggeht.
»Irgendwann musst du kommen und es dir selbst
ansehen. Ich habe ein freies Zimmer.«
»Führ mich bloß nicht in Versuchung.«
»Aber zuerst muss ich ein paar Wohnungsregeln
aufstellen …« Er grinst, während ich bei der Erinnerung an meine
mehrseitige Liste erröte.
»Und hier habe ich meinen ersten Kuss bekommen«,
verkünde ich und zeige auf eine ausladende Eiche am Rand eines
Felds. »Er hieß Seb Roberts, und ich war 13.«
»Was für ein irrer Ort für einen ersten Kuss.
Meinen habe ich im Arbeitszimmer im Haus meiner Eltern bekommen,
und meine Mom hat mich dabei erwischt. Da saß ich also, mit den
Händen unter Hopey Smiths T-Shirt. Junge, Junge, mir war noch nie
etwas so peinlich.«
Ich lache, ehe mich ein Anflug von Traurigkeit
überkommt. »Ich weiß noch, wie ich nach Hause laufen und meiner
Mutter alles über Seb erzählen wollte, aber sie war im Jahr vorher
gestorben …«
Gabe drückt meine Hand. »Hey, tut mir leid, ich
habe nicht nachgedacht.«
»Ist schon gut«, beruhige ich ihn. »Es sind immer
nur die kleinen Dinge, die die Erinnerungen wachrufen.«
Wir starren die Eiche mit ihrem mächtigen,
knorrigen Stamm an, die seit vielen Jahren an dieser Stelle steht
und auch noch viele Jahre dort stehen wird.
»Stattdessen hatte ich meinen Vater. Er war meine
Ersatzmutter. Ihm habe ich alles anvertraut, das tue ich noch
heute. Das ist der Grund, warum wir uns so nahestehen.«
»Und ist das auch der Grund, warum es zwischen dir
und deiner Stiefmutter Probleme gibt?«
Mittlerweile gehen wir den Hügel wieder
hinunter.
»Wie meinst du das?«
»Drei sind einer zu viel.«
»Nein, das ist es nicht. Sie ist eben nur kein
besonders netter Mensch. Sie ist kalt. Das war sie schon immer. Wir
haben uns nie verstanden.«
»Aber dein Vater muss sie gern haben.«
»Muss er wohl. Auch wenn mir nicht klar ist, warum.
Mum war so voller Leben, sie hat immer gelacht und war lustig.
Rosemary ist ernst und nörgelt ständig an ihm herum, er soll dies
und jenes tun. Das macht mich verrückt.«
»Vielleicht ist das ihre Art, sich um ihn zu
kümmern.«
»Tja, eine ziemlich seltsame Art«, brumme ich.
»Aber genug jetzt von Rosemary.« Ich bleibe vor dem Pub namens
Badgers Arms stehen. »Hat dir der Stadtrundgang Hunger
gemacht?«
»Was für eine Frage. Ich könnte ein ganzes Pferd
verdrücken.«
»Keine Ahnung, ob es das hier gibt«, gebe ich
lachend zurück. »Aber wie wär’s mit einem Ploughman?«
»Was um alles in der Welt ist das?«
»Ah.« Ich öffne die Tür zum Pub und halte sie auf,
damit er eintreten kann. »Das wirst du gleich erfahren.«
Nachdem wir bestellt haben, tragen wir unsere
Gläser mit Apfelwein in den Garten, wo wir meine Familie beim
Mittagessen um einen runden Holztisch versammelt vorfinden.
»Wir haben uns schon gefragt, wo ihr beide
abgeblieben seid«, poltert Lionel mit dem Mund voller Cheddar und
Branston, reißt ein Stück Brot ab und strahlt uns an.
»Wir sind früh aufgestanden, damit Gabe surfen
gehen konnte.« Ich stelle meinen Apfelwein auf dem Tisch ab und
gebe Lionel einen Kuss auf die Wange.
»Und kann es das Meer hier mit Kalifornien
aufnehmen?«, fragt Ed, der hinter dem Sportteil der Sunday
Times auftaucht, der sich laut Titelblatt mit der englischen
Nationalmannschaft beschäftigt.
»Ja, es war irre.«
»Gute Wellen, was?«, meldet sich Miles zu Wort und
bemüht sich, wie ein Experte zu klingen, obwohl ich weiß, dass er
keine Ahnung hat. Er sitzt neben Annabel, beide halten einen Teil
des Zwillingslaufgurts in der Hand. Wie üblich sehen sie reichlich
gestresst aus.
»Kommt schon, rückt zusammen, Leute«, ordnet Lionel
an, der bemerkt hat, dass wir ein wenig unschlüssig vor dem Tisch
stehen.
»Nein, schon gut, wir können uns da drüben
hinsetzen«, sage ich und deute auf ein Paar, das sich gerade zum
Gehen anschickt.
»Unsinn«, widerspricht Lionel. »Eine Familie, die
zusammen isst, sitzt auch zusammen.«
Gehorsam rücken alle ein Stück, so dass neben
Rosemary eine Lücke entsteht. Unglücklich schaue ich auf den freien
Platz. Rosemary ist der letzte Mensch, neben dem ich gern sitzen
möchte, doch zum Glück nimmt Gabe als Erster auf der Bank Platz.
Dankbar lächle ich ihm zu.
»Wir müssen endlich aufhören, uns auf diese Weise
zu treffen«, erklärt er leichthin, worauf Rosemary wie ein
Schulmädchen errötet und sich ihre hellrosa geschminkten Lippen mit
der Serviette abtupft.
»Zwei Ploughmans mit Cheddar«, dröhnt eine Stimme.
Hinter uns taucht eine rotgesichtige Kellnerin mit zwei großen
Tellern in der Hand auf, die wir heranwinken. Sie stellt die Teller
vor uns auf dem Tisch ab.
Nachdenklich starrt Gabe auf den Teller herunter.
»Was ist das?«, fragt er und spießt eine eingelegte Zwiebel mit der
Gabel auf.
»Probier es. Du wirst es mögen.«
Tapfer nimmt er einen Bissen. Schweigen breitet
sich am Tisch aus, während alle auf seine Reaktion warten. Wir
lauschen den Kaugeräuschen, ehe er sagt: »Iiiihh, und so was esst
ihr freiwillig?«
Alle lachen. Sein Gesichtsausdruck ist göttlich.
Ich lache so schallend, dass ich mir sogar mit der Serviette die
Tränen abwischen muss, als ich plötzlich eine Stimme höre.
»Heather?«
Ich bekomme den Schock meines Lebens.
»James?«
Das Lachen bleibt mir im Hals stecken. »Was um
alles in der Welt machst du denn hier?«, japse ich, ehe ich eilig
hinzufüge: »Ich dachte, du bist in Paris.«
»Ich habe einen früheren Rückflug bekommen.«
»Aber wie …?«
»Ich hatte die Adresse, also bin ich gleich
hergefahren. Als du nicht dort warst, dachte ich mir, du bist
bestimmt im Pub. Mittagessen am Sonntag und so …«
Wieder breitet sich Schweigen am Tisch aus, doch
ich spüre die Blicke hin und her flitzen. Mit einem Mal wird mir
bewusst, wie das Ganze wirken muss - Gabe, meine Familie und ich
sitzen hier zusammen, lachen, und alles sieht so behaglich aus.
Eigentlich sollte ich nicht hier am Tisch sitzen, sondern
aufspringen und James um den Hals fallen. Ich sollte entzückt sein,
dass er den weiten Weg auf sich genommen hat, um mich zu sehen. Und
ich sollte ihn voller Begeisterung meiner Familie vorstellen.
Ich springe auf und werfe die Arme um ihn. »Leute,
das ist James. Mein Freund«, füge ich hinzu. Beim Wort »Freund«
bleiben meine Augen kurz an Gabe hängen, ehe ich verlegen den Blick
abwende.
»Sehr erfreut«, murmeln die anderen am Tisch, aber
keiner von ihnen begrüßt James mit demselben Enthusiasmus, mit dem
sie am Abend zuvor Gabe in ihrer Runde aufgenommen haben. Selbst
Rosemary, von der ich gedacht hatte, sie würde ihn mit Fragen
bombardieren, ist so mit Gabe beschäftigt, dass sie James kaum
beachtet.
»Willst du vielleicht etwas zu essen bestellen?«,
frage ich als Versuch, Wiedergutmachung zu leisten, doch James
schüttelt den Kopf.
»Nein, ich habe schon gegessen. Ich hole mir
einfach an der Bar etwas zu trinken. Möchte noch jemand
etwas?«
»Noch ein Glas Merlot«, erwidert Lionel gut
gelaunt.
»Ich komme mit«, biete ich ihm an.
»Nein, schon gut, bleib ruhig sitzen und iss
weiter«, wiegelt James ohne jeden Sarkasmus ab, dennoch trifft mich
die Bemerkung.
»Wenn du sicher bist …«
»Absolut«, erwidert er, dreht sich um und geht
steif beinig über den Rasen in den Pub.
»Ich kann nicht glauben, dass du mir nichts davon
gesagt hast, dass du herkommst.« Ich halte mein Haar im Nacken
zusammen, damit der Wind es nicht zerzausen kann, und wende mich
James zu. Wir haben die anderen zurückgelassen und gehen Hand in
Hand den felsigen Küstenstreifen über dem Strand entlang. Derselbe
Stand, an dem ich vor wenigen Stunden noch mit Gabe gestanden
habe.
»Ich wollte dich überraschen.«
Das ist ihm allerdings gelungen.
»Ich hatte ein schrecklich schlechtes Gewissen,
weil ich in letzter Minute absagen musste.«
»Schon gut. Mach dir keine Gedanken. Gabe hat mich
ja mitgenommen.«
»Das habe ich gemerkt«, erwidert er tonlos, und
seine Miene lässt keinen Zweifel daran, wie wenig begeistert er
davon ist, dass ich bei meinem Mitbewohner Sozia gespielt
habe.
»Na ja, ich dachte eben, als Kalifornier surft er
bestimmt gern, und da er noch nie in Cornwall war und …« Ich
unterbreche mich, als mir auffällt, dass ich mich verteidige.
»Obwohl ich auf dem Motorrad etwas Angst hatte.«
»Kann ich mir vorstellen.« Seine Züge werden
weich.
»Aber mach dir keine Sorgen, auf dem Rückweg
fährst du in einem Range Rover. Mit Sitzheizung und allem.«
Enttäuschung durchzuckt mich. Die Fahrt auf dem
Motorrad mag beängstigend gewesen sein, aber sie war auch
unglaublich aufregend.
»Außerdem habe ich ein paar Broschüren über
toskanische Villen mitgebracht, die du dir unterwegs vielleicht
ansehen willst. Du hast doch gesagt, du hättest dir schon immer
gewünscht, eines Tages eine zu besitzen. Natürlich ist es nicht
dasselbe, aber ich habe mir überlegt, ob wir uns diesen Sommer
vielleicht eine mieten könnten.«
Verblüfft starre ich ihn an. Offenbar denkt er an
alles. Ich kann mich zwar nicht daran erinnern, aber ich muss es
wohl irgendwann erwähnt haben. Er zieht mich an sich und legt die
Arme um mich. »Vorsorglich habe ich sogar schon in Florenz eine
reserviert, von der du begeistert sein wirst.«
Trotz seiner guten Absichten kann ich eine gewisse
Verärgerung nicht leugnen. Schlagartig gehört meine Fantasie, in
irgendeiner toskanischen Villa herumzulümmeln, nicht mehr mir
allein, sondern ist ein Teil von James und seinen Broschüren. »Bist
du sicher, dass es O.K. für dich ist, wenn wir heute Abend noch
nach Hause fahren?«, wechsle ich das Thema. »Das Problem ist, dass
ich morgen früh einen Termin mit Lady Charlotte habe und nach Hause
muss.« Ich verdrehe die Augen. »Diese Hochzeit hat was von einem
Albtraum.«
»Hey, das ist völlig O.K. Ich muss auch arbeiten.
Ich wollte nur herkommen und deine Familie kennen lernen.«
»Aber ich habe ein schlechtes Gewissen, weil du den
ganzen langen Weg hergefahren bist.«
»Versprochen ist versprochen«, sagt er leise und
bringt mich mit einem Kuss zum Schweigen. »Außerdem hast du mir
gefehlt.«
Erst jetzt, als ich ihn das sagen höre, wird mir
bewusst, dass er mir keineswegs gefehlt hat. Ehrlich gesagt, hatte
ich ihn bis vorhin, als er aufgetaucht ist, vollkommen vergessen.
Aber das liegt nur daran, dass ich so mit meiner Familie und Gabe
beschäftigt war und so … sage ich mir. Entschlossen schiebe ich
meine Zweifel beiseite und erwidere seinen Kuss. »Du mir
auch.«
»Du fährst jetzt schon?« Es ist später Nachmittag,
und Lionel umarmt mich zum Abschied in dem kleinen Garten vor dem
Haus. »Kannst du nicht noch ein bisschen bleiben? Heute ist
Quizabend im Forrester’s. Wie wär’s, wenn wir hingehen und den
Laden mal wieder so richtig aufmischen?«, fragt er hoffnungsvoll.
Ich drücke ihn an mich und lächle entschuldigend.
»Klingt toll, aber ich muss nach London zurück.
Die Arbeit«, füge ich hinzu und schneide eine
Grimasse.
»Es war reizend, Sie kennen zu lernen, Mr.
Hamilton.« Förmlich streckt James die Hand aus.
Lionel beachtet ihn nicht. »Ich habe einen hübschen
reifen Brie und eine Flasche Shiraz, die ich schon lange aufspare«,
fährt er fort und tut so, als hätte er nichts mitbekommen. Das
macht er immer, wenn Leute etwas zu ihm sagen, das er nicht hören
will. Normalerweise, wenn Ed ihn damit nervt, dass er eine Diät
anfangen oder mehr Sport treiben solle. »Die könnten wir hinterher
köpfen, um unseren Sieg zu feiern.«
»Lionel«, ermahnt Rosemary ihn und legt ihre
knochige Hand auf seinen Oberarm. »Hast du nicht gehört, was
Heather gesagt hat? Sie muss morgen arbeiten. Die Leute hören nicht
auf zu heiraten, nur weil du einen hübschen Brie hast.« Sie lächelt
James an und ergreift seine Hand. »Es war nett, Sie endlich kennen
zu lernen, James. Wir hatten uns schon gefragt, ob Sie vielleicht
nur ein Produkt von Heathers übermäßig reger Fantasie sind.«
Ich verdrehe die Augen, doch James sagt nur
lächelnd zu mir, er warte im Wagen auf mich, und geht zum Range
Rover, während Gabe seine Sachen in den kleinen Satteltaschen an
seinem Motorrad verstaut. Er hebt den Kopf und wirft mir einen
mitfühlenden Blick zu.
»Eigentlich heiratet morgen gar niemand. Erst in
ein paar Wochen findet eine große Society-Hochzeit statt«, erkläre
ich Rosemary stolz. Ich weiß zwar, dass es eigentlich ein Geheimnis
bleiben sollte, aber ich kann der Versuchung nicht widerstehen.
»Die Tochter des Herzogs und der Herzogin von Hurley.«
»Du meinst, Lady Charlotte?«, fragt Rosemary
sichtlich beeindruckt. »Ich habe letzte Woche die Modeaufnahmen von
ihr in der O.K.! gesehen.«
»Meinst du nicht die Lady?«, hakt Annabel
verärgert nach.
»Oh, ja, natürlich, Liebes«, korrigiert sich
Rosemary eilig.
»O.K., es war mir ein echtes Vergnügen,
Leute.«
Gabe, der inzwischen seine Lederkluft trägt, umarmt
sämtliche Mitglieder meiner Familie, einschließlich Ed. Annabel und
die Zwillinge stürzen sich mit ausgestreckten Armen auf ihn. »Ich
sehe dich zu Hause in der Wohnung«, sagt er zu mir, während ich
mich an Lionel wende. »James wartet. Ich sollte gehen.« Ich lege
die Arme um ihn und küsse ihn auf die Wange. »Aber wir sehen uns
bald wieder.«
»Aber ja.« Er lächelt, doch in seinen Augen
glitzert es verdächtig, und er fingert mit seinem Taschentuch
herum, wie immer, wenn ihm etwas nahegeht. »Rosemary und ich
bleiben den Rest der Woche hier, aber ich rufe dich an.«
James fährt mit dem Range Rover vor. Ich steige auf
der Beifahrerseite ein und lasse das Fenster herunter, während mein
Vater, der Ed und mir nach dem Tod meiner Mutter geschworen hat,
niemals Auf Wiedersehen zu uns zu sagen, mir wie gewohnt
zuwinkt.
»See you later, alligator«, sagt er wie
immer leise.
»In a while, crocodile«, gebe ich wie immer
zurück.
Ich schnalle mich an und winke so heftig, wie ich
nur kann, während wir in einer Wolke aus Staub und Abgasen die
Einfahrt hinunterrasen. Ich winke, bis mein Handgelenk
schmerzt.