KAPITEL 11
»Er ist Standup-Comedian.«
Sobald Gabe am nächsten Morgen die Wohnung
verlässt, rufe ich Jess an, um ihr die schreckliche Nachricht zu
überbringen. Trotz ihres Katers, der sie mit einem Päckchen
Kopfschmerztabletten ans Bett fesselt, bringt sie genug Energie
auf, um mein Entsetzen zu teilen - daran erkennt man eine wahre
Freundin. »Du machst Witze!«
»Nein, das fällt in seinen Zuständigkeitsbereich.«
Ich klemme mir den Hörer unters Ohr, halte mit einer Hand meine
Schüssel mit den Frühstücksflocken fest und nehme mit der anderen
die Milch aus dem Kühlschrank. »Er ist ein verdammter, beschissener
Standup-Comedian.«
Gedämpftes Lachen dringt aus dem Hörer. »Klopf,
klopf«, neckt sie mich schwach.
»Oh, bitte nicht.« Ich lasse mich auf den Stuhl am
Küchentisch sinken, der vor Zeitschriften, ungeöffneten Briefen und
Gott weiß was sonst noch überquillt. Ich stelle meine Müslischale
obenauf und schiebe mir einen Löffel All Bran Vollkornflocken in
den Mund. »Das ist nicht witzig«, sage ich, den Mund voll kleiner,
brauner, entsetzlich schmeckender Dinger. Gott, ich wünschte, die
überflüssigen Pfunde wären schneller verschwunden. Ich hasse es,
dieses Zeug essen zu müssen.
»Das sind diese Typen nie«, erklärt sie mit einem
kehligen Lachen. »Das ist ja das Problem.«
»Also, ist er immer noch dein Plan B?«, frage ich,
noch immer kauend.
»Nein, er ist nicht das, was ich suche.« Das klingt
fast, als rede sie von einer IKEA-Lampe. »Er ist zu
amerikanisch.«
»Na und?«
»Heather, ich suche nach einem richtigen Freund.
Ich will keine Fernbeziehung. Hast du Green Card nicht
gesehen?«
»Aber hat Gérard Depardieu nicht einen Franzosen
gespielt?«
»Er spielt in jedem Film einen Franzosen«, gähnt
Jess.
»So wie Hugh Grant in jedem Film den stammelnden
englischen Fatzke gibt. Aber das ist nicht der Punkt. Der Punkt
ist, dass ich systematisch an das Ganze herangehe und mir keine
neuen Probleme aufhalsen will, indem ich mich mit irgendwelchem
Einwanderungskram herumschlagen muss. Und vergiss nicht die
kulturellen Unterschiede.«
Ich liebe Jess. Romantisch wie immer. »Ja, das
sagst du jetzt«, murmle ich, kaue niedergeschlagen auf meinen
Vollkornflocken herum und wünschte, ich hätte stattdessen ein
pain au chocolat in der Hand.
»Was willst du tun?«, fragt sie.
»Inwiefern?« Neugierig betrachte ich das kleine
schwarze Notizbuch, das inmitten des Durcheinanders auf dem Tisch
liegt. Es sieht aus wie das Büchlein, in das ich Gabe habe kritzeln
sehen. Ich frage mich, was drinstehen mag.
»Dass Gabe Standup-Comedian ist«, antwortet sie und
hat offenbar Mühe, nicht laut hinauszulachen.
Allmählich habe ich den Verdacht, Jess macht das
Ganze auch noch Spaß. »Heißt es nicht immer ›Ich müsste lachen,
wenn es nicht zum Weinen wäre‹?«, sage ich abwesend, strecke den
Arm aus und schlage das Notizbuch auf. Na ja, ein kleiner Blick
kann doch nicht schaden.
»Absolut«, bestätigt Jess. »Und du musst
lachen.«
Auf der ersten Seite steht mit blauer Tinte in
seiner geschwungenen Handschrift: »Meine
Top-Ten-Schwiegermutterwitze«. Abrupt ziehe ich die Hand weg. Wenn
ich genauer darüber nachdenke …
In den folgenden Tagen bleibe ich von jeglicher
Art Schwiegermutterwitz verschont, da ich meinen neuen
Wohnungsgenossen kaum zu Gesicht bekomme. Tatsache ist - abgesehen
von einem gelegentlichen »Hi, wie geht’s?«, wenn ich nach Hause
komme und er gerade geht, ist es fast, als wäre er nie eingezogen.
Fast, aber natürlich nicht ganz.
Einige Kleinigkeiten tauchen auf. Eine
Gewürzsammlung in der Küche, ein Karton Sojamilch im Kühlschrank,
ein neuer Luffaschwamm von der Größe eines Baguette in der Dusche.
Und noch etwas - aber das hat nichts mit seiner Wilco-CD zu tun,
die ich neben der Stereoanlage gefunden habe, oder mit seinem
grellbunten Strandtuch, das ordentlich zusammengelegt neben dem
Waschbecken liegt. Es ist ein Gefühl.
Wochenlang habe ich mich vor dem Gedanken
gefürchtet, einen Fremden in der Wohnung zu haben, habe die
Vorstellung verabscheut, ein Mann, der nicht Daniel ist, könnte in
meiner Badewanne liegen, doch alle meine Befürchtungen waren
unnötig. Es ist angenehm, einen anderen Menschen um sich zu haben.
Ehrlich gesagt, ist es sogar mehr als das: Es ist schön.
Aus irgendeinem Grund fühlt sich die Wohnung anders
an. Ich fühle mich anders. Und nicht nur, weil ich abends
nicht mehr wach liege und mir Sorgen über Dinge wie
Zwangsversteigerung mache oder mich mitten auf der Straße Ängste
wegen Billy Smith und diesen dämlichen Le-Creuset-Töpfen
heimsuchen. Es ist, als hätte Gabe mit seiner Anwesenheit
sämtlichen Geistern der Vergangenheit den Garaus gemacht. Trotz des
Schocks, dass ich mit einem Standup-Comedian zusammenlebe, bin ich
glücklicher. Positiver. Schlanker.
Am Donnerstag gehe ich nach der Arbeit bei Boots
vorbei, um ein Päckchen Wattepads zu kaufen, als ich eine dieser
elektronischen Waagen bemerke. Aus einem Impuls heraus beschließe
ich, mich zu wiegen. Und nun stehe ich da und starre verblüfft auf
die Digitalanzeige.
Nein, das kann nicht stimmen. Mit gerunzelter Stirn
sehe ich noch einmal hin. Ich habe über zwei Kilo abgenommen? Seit
Monaten habe ich versucht, das Gewicht loszuwerden, das ich seit
Weihnachten mit mir herumschleppe. Ich war Joggen - zwei Mal -,
habe mir ein Yoga-Video gekauft mit der festen Absicht, es mir zu
Hause anzusehen, und ich habe mein pain au chocolat zum
Frühstück aus der französischen Pâtisserie an der Ecke einer Schale
Vollkornflocken geopfert, die wie Pappe schmecken. Das kann man
wohl kaum als massive Änderung der Lebensgewohnheiten bezeichnen,
aber - puff - mit einem Mal sind die Pfunde verschwunden. Es ist
erstaunlich. Unglaublich. Unheimlich.
Ich ziehe den Computerausdruck aus dem Schlitz,
trete von der Waage, gehe zur Kasse, vor der sich ausnahmsweise
keine Schlange gebildet hat, und lege mit einem Anflug von Freude
die Wattepads auf das Band. Ja, das muss es sein. Ich wusste doch,
dass es eine vernünftige Erklärung gibt. Ich meine, es ist
schließlich nicht so, dass Gewicht wie durch Zauberhand über Nacht
verschwindet, oder?
Ich strahle die Kassiererin an und hole meine
Geldbörse aus der Handtasche. Der Heidekrautzweig fällt heraus. Wie
ist der denn dort hineingekommen? Ich bin mir ganz sicher, dass ich
ihn zu Hause liegen gelassen habe.
»Das macht £ 1.25«, sagt sie.
»Oh, ja … tut mir leid.« Ich schiebe das Heidekraut
in meine Tasche und zähle das Wechselgeld. Was auch immer die
Erklärung für meine Gewichtsabnahme sein mag, mein Wunsch hat sich
erfüllt: keine All Brans mehr.
Bester Laune verlasse ich den Laden, überquere die
Straße und gehe eilig durch Notting Hill. Ich bin mit meinem Bruder
Ed im Wolsey Castle, einem Pub um die Ecke, verabredet und wie
üblich spät dran. Ich beschleunige meine Schritte. Ed ist ein
echter Pünktlichkeitsfanatiker, und ich habe keine Lust, mir einen
seiner Vorträge anzuhören, bevor ich Gelegenheit hatte, mir einen
Gin Tonic zu bestellen. Obwohl ich gespannt bin, was er mir zu
sagen hat. Gestern hat er mich angerufen und gemeint, er müsse
»über etwas mit mir reden«, was in Ed-Sprache so viel heißt wie
»ich muss dir wieder mal die Leviten lesen« - wobei sein
Lieblingsanfangssatz »Wieso hast du noch keine private
Rentenversicherung abgeschlossen?« lautet, was Ihnen eine
Vorstellung von Ed geben sollte.
Doch als ich in die von Läden und Restaurants
gesäumte Straße einbiege, erblicke ich etwas, das mich abrupt
stehen bleiben lässt. Pinkfarben, mit Satin und einer herrlichen
offenen Spitze: das wunderschönste Paar Schuhe, das ich je gesehen
habe und das hier im Schaufenster steht und nur darauf wartet, dass
ich vorbeikomme.
Ich trete zurück, um einen Blick auf das Schild
über dem Laden zu werfen - Sigerson Morrison. Das Herz sackt mir in
die Hose. Ich liebe diesen Laden, weil er randvoll mit den
exquisitesten Schuhen ist. Die dein Budget definitiv
sprengen, meldet sich eine strenge kleine Stimme in meinem
Kopf. Enttäuschung überkommt mich. Trotzdem, ein Blick kann ja
nicht schaden. Ich beuge mich vor. Und dann sehe ich das Schild.
»Minus 75 Prozent«.
Mein Magen schlägt einen Purzelbaum. Ich bin nicht
kaufsüchtig, aber manchmal überkommt mich schlagartig das
Bedürfnis, bei H&M mit einem Arm voller Klamotten in der
Umkleidekabine zu verschwinden. Und, ja, oft muss ich nicht
einmal etwas kaufen, sondern es genügt schon, es zurücklegen zu
lassen. Schätzungsweise liegt es am Gefühl des Besitzens, an der
tröstlichen Gewissheit, dass einem etwas gehören könnte, wenn man
es haben wollte - ohne die damit verbundene Verpflichtung.
Wahrscheinlich ist es ein klein wenig so, als wäre man
verlobt.
Aber mit Schuhen ist es etwas anderes. Schuhe sind
meine wahre Schwäche. In Kleidern kann der Hintern zu üppig
aussehen, die Brüste zu klein, der Bauch zu dick, aber ein
anständiges Paar Schuhe sieht immer gut aus, unabhängig davon, ob
man gerade eine halbe Schachtel Schokoladenkekse verdrückt hat oder
nicht. Das Ganze hat nur einen Nachteil - es ist nicht ganz billig.
Aber es ist halt nichts umsonst auf der Welt, wie Lionel immer
sagt.
Aber es ist Ausverkauf, flüstert die Stimme
in meinem Kopf. Minus 75 Prozent.
Ich sehe auf die Zeitanzeige auf meinem Handy. Ich
bin spät dran. Ed wird schon warten. Ich zögere, dann lege ich die
Hand auf den Türgriff. Ach, was soll’s, es dauert doch nur fünf
Minuten.
Im Inneren des Ladens ist der Teufel los. Eine
Horde Frauen sucht drängelnd nach der richtigen Größe, rutscht auf
Händen und Knien herum, reißt Schuhe aus den Regalen, schubst und
stößt und rempelt. Dutzende benutzter Probierstrümpfe liegen
verstreut auf dem Fußboden herum, Seidenpapier hängt aus leeren
Schuhschachteln, und gehetzt wirkende Verkäuferinnen flitzen
zwischen den Kundinnen hin und her, die sich vor den Spiegeln
drängen und leise schimpfend darauf warten, bis sie endlich an die
Reihe kommen.
Heiliger Strohsack! Frauen können so was von
erbarmungslos sein. Männer töten für ihr Land, Frauen tun es für
ein Paar türkisfarbene, mit Glitzersteinen besetzte
Riemchensandalen.
Ich quetsche mich durch die Schuhregale und mache
mich auf die Jagd nach den atemberaubenden pinkfarbenen Stilettos
in meiner Größe. Doch als ich endlich vor dem Regal mit der Zahl
»38« stehe, sehe ich, dass es bis auf ein limonengrünes Paar
Mary-Jane-Schuhe mit Riemchen und runder Kappe, die zu nichts
passen, leer ist. Wieder breitet sich Enttäuschung in mir aus.
Besonders beim Anblick des Regals für Größe 41, wo ein ganzes
Dutzend der pinkfarbenen Schuhe steht. Ich nehme einen in die Hand
und frage mich, ob er passen könnte, wenn ich eine Einlegesohle
hineingeben oder ein Paar …
»Kann ich Ihnen helfen, Madam?«
Eine Verkäuferin hat sich auf mich gestürzt. Es ist
eines dieser arroganten Exemplare, wie man sie häufig in
Designershops sieht, die einen von oben bis unten mustern und den
Drang in einem wecken, etwas zu kaufen, nur um ihnen zu beweisen,
dass man es kann. Was, wie mir schlagartig aufgeht, wahrscheinlich
ihre Verkaufsstrategie darstellt.
»Äh, nein«, erwidere ich und ertappe mich dabei,
dass ich den Schuh nicht nur in meine Armbeuge gelegt habe, sondern
ihn sogar streichle. »Ich habe … mich nur … ein bisschen
umgesehen.«
»Die sind toll, nicht?«, sagt sie mit
Verschwörerstimme.
»Und fünfundsiebzig Prozent heruntergesetzt.« Sie
verdreht die Augen, als könnte sie es nicht fassen.
»Oh, äh, ja … ganz toll«, stimme ich zu. Der Schuh
ist mittlerweile zu DEM SCHUH geworden, dem schönsten,
einzigartigsten, perfektesten Schuh, den man in seinem ganzen Leben
gesehen hat.
»Soll ich Ihnen den zweiten bringen, damit Sie sie
anprobieren können?«
Mit einem bedauernden Lächeln stelle ich den Schuh
in das Metallregal zurück. »Ich fürchte, Sie haben meine Größe
nicht mehr.«
»Welche haben Sie denn?«
Wie die meisten Verkäuferinnen auf Provisionsbasis
gibt sie nicht so schnell auf. Aber nicht einmal sie kann ein
Wunder vollbringen, denke ich resigniert. »38.«
Kaum ist die schicksalhafte Zahl über meine Lippen
gekommen, verzieht sie das Gesicht, und ein Schleier legt sich auf
ihre umsatzhungrigen Augen. »Oh je, das ist die gängigste
Größe.«
»Macht nichts«, erwidere ich mit einem lässigen
Achselzucken. »Das passiert mir ständig.«
»Aber haben Sie diese tollen Stiefel hier gesehen?
Die gibt es noch in 38.« Sie schnappt ein potthässliches
Stiefelpaar aus der vorvorletzten Saison und lässt es hoffnungsvoll
vor meinem Gesicht hin und her baumeln. »Äh, nein, danke«, lehne
ich beleidigt ab und wende mich zum Gehen. Ach, komm schon, es
ist doch nur ein Paar Schuhe, Heather. Als ich zur Tür gelange,
versuche ich, nicht zum Schaufenster hinüberzusehen, doch in der
letzten Sekunde kann ich es mir nicht verkneifen, noch einen Blick
auf sie zu werfen und wehmütig zu seufzen.
Ich wünschte, sie hätten ein Paar in meiner
Größe.
»Entschuldigen Sie, Madam.«
Ich wirble herum. Es ist dieselbe Verkäuferin, nur
dass sie nun mit vor Aufregung gerötetem Gesicht vor mir steht.
»Sie haben Glück. Ich habe das allerletzte Paar gefunden. Jemand
hatte es in die falsche Schachtel gelegt.« Sie zieht das Schuhpaar
hinter ihrem Rücken hervor. »Größe 38«, stößt sie triumphierend
hervor.
»Oh … wow«, stammle ich. Ich kann es kaum
glauben.
Aber selbst im Ausverkauf kannst du sie dir
nicht leisten, flüstert die Stimme. Niedergeschlagenheit
überkommt mich. Es stimmt. Meine Kreditkarte ist zerschnitten
worden, und ich habe gerade noch £ 25 in der Tasche. Verdammt,
ich wünschte, sie wären billiger.
Ich will sie gerade der Verkäuferin zurückgeben,
als ihre Stimme an mein Ohr dringt. »… aber ich fürchte, sie haben
einen kleinen Kratzer am Absatz. Natürlich fällt es keinem auf, und
Sie können sicher sein, dass nicht einmal Sie ihn sehen, wenn Sie
die Schuhe anhaben. Natürlich gehen wir mit dem Preis noch ein
wenig runter … Noch mal 50 Prozent auf den reduzierten
Preis.«
Moment mal. Sagt sie da wirklich, was ich sie sagen
zu hören glaube?
»24.99 £!«, stößt sie atemlos hervor.
Wenige Minuten später stehe ich an der Kasse, sehe
zu, wie sie sie einpackt, und höre jemanden flüstern: »Ohhh, die
Glückliche, dabei wollte ich die Schuhe doch so gern.« Ein tiefes
Glücksgefühl breitet sich in mir aus, als die Verkäuferin mir die
Tüte von der Größe einer Werbetafel reicht.
»Und einen Penny zurück«, zwitschert sie und reicht
mir mein Wechselgeld.
Doch ich stehe schon mit einem Fuß vor der Tür. Als
ich fröhlich meine Tüte schwenkend und mit einem breiten Grinsen
auf dem Gesicht die Straße entlanggehe, unterdrücke ich das
Bedürfnis, mich kneifen zu müssen. Ich bin nicht abergläubisch,
aber allmählich beschleicht mich das Gefühl, der Heidekrautzweig
bringt mir tatsächlich Glück.