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Wie immer wurde es schnell dunkel, aber sie waren bereits fertig. Keiner von ihnen stellte die Frage, ob sie bleiben wollten. Dev setzte sich hinter das Steuer und fuhr los. Nach einer Stunde brach Katya das Schweigen. „Ich erinnere mich jetzt an Dinge, zu denen ich vorher keinen Zugang hatte.“
„Noch etwas Ähnliches wie das hier?“
„Nein.“ Sie schwieg lange. „Die Erinnerung an die Zeit, als Noor und Jon im Labor waren, ist fast vollständig zurückgekehrt.“
Er versuchte nicht, ihr die Schuldgefühle auszureden – es würde alles seine Zeit brauchen. Die Frau, die Katya nun war, würde sich diesen dunklen Erinnerungen stellen. Er wählte seine Worte so neutral wie möglich. „Sie scheint keinen Schaden davongetragen zu haben, und er ist sehr stark.“
„Und äußerst begabt“, sagte Katya leise. „Seine Gabe lädt geradezu zum Missbrauch ein.“
„Nicht, wenn man ihm den richtigen Weg weist.“
„Als Kind habe ich oft telepathisch versucht, den anderen in der Krippe meinen Willen aufzuzwingen.“
„Das ist eine ganz normale Entwicklung bei telepathisch begabten Kindern.“ Dev hatte als Kind auch Dinge getan, die nicht ganz in Ordnung waren – er hatte gelernt, mit seinen Stärken umzugehen, hatte ausprobiert. Er hätte es Katya gerne erzählt, hätte ihr gerne die Wahrheit über seine Gaben in Bezug auf Maschinen und Metall mitgeteilt. „Es macht mich verrückt, dass ich nicht offen mit dir reden kann.“ Seine Hände schmerzten, so fest hielt er das Lenkrad umklammert. Er zwang sich, lockerzulassen, und stieß zischend die Luft zwischen den zusammengebissenen Zähnen aus.
„Ich sage mir andauernd, dass sich die Dinge ändern werden, dass ich einen Ausweg finde.“
Ihm fiel ein, was sie ihm über Mings Klauen in ihrem Kopf gesagt hatte. „Du hast noch keine Möglichkeit gefunden, die Programmierung zu lösen?“
„Nein“, sagte sie und umarmte ihn so fest, dass eine Naht ihrer Jacke einriss. „Nicht ohne meinen Verstand zu schädigen. Sie reichen zu tief.“
„Vielleicht ist die Programmierung so stark“, sagte er, Schmerz durchfuhr ihn, als er die Zähne fest zusammenbiss. „Aber es dürfte keinen längerfristigen körperlichen Effekt haben. Schließlich ist es ein psychisches Konstrukt.“
„Dev … es geht nicht um die Programmierung. Die Mauer, hinter der ich mich befinde, ist in meinem Kopf verankert.“
Ein eiskalter Klumpen lag in seinem Magen. „Bist du dir sicher?“ Schweigen. „Sag schon.“
„Ich habe es aus jedem nur denkbaren Winkel betrachtet. Hoffte zuerst, ich hätte einen Fehler gemacht.“ Er hörte schon am Klang ihrer Stimme, dass das nicht der Fall war.
Dev war nicht nur ein Telepath, er wusste auch alles über die neuen und alten Fähigkeiten der Vergessenen. Deshalb wusste er auch verdammt gut, dass etwas, das im Kopf eines Individuums und nicht nur im neuronalen Netz verankert war, den Verstand in Stücke reißen würde, wenn man es unsachgemäß zu entfernen versuchte. Und im Augenblick besaß nur Ratsherr Ming LeBon den Schlüssel zu Katyas innerem Gefängnis.
Er brauchte nicht lange für seine Entscheidung. „Wir müssen Ming finden.“
Katyas Kopf fuhr herum. „Nein, Dev, auf keinen Fall.“
Da sie den ganzen Tag mit Cruz verbracht hatte, war Sascha davon ausgegangen, sie würde aufgrund der Anstrengung schnell einschlafen. Doch lange, nachdem es im Wald ruhig geworden war, lag sie immer noch wach. Sie schmiegte sich an Lucas’ warmen Körper, strich mit den Fingern über seine Brust und versuchte in seinem Rhythmus zu atmen.
Ihr Körper entspannte sich, aber die Gedanken in ihrem Kopf rasten weiter. Sie gab den Versuch auf, einzuschlafen, und wollte aufstehen, um noch ein wenig zu lesen … doch Lucas hielt sie fest, sobald sie von ihm fortrücken wollte. Sie hätte ihn schlafen lassen sollen – strich aber dennoch mit der Hand über seine Wange. „Wach auf.“
Seine Augen waren die einer Raubkatze. „Was ist?“ Schläfrig drückte er sie an sich und legte ihr die Hand auf die Hüfte.
„Ich kann nicht schlafen.“
Seine Hand glitt auf ihren Bauch hoch. „Geht es dir gut?“ Zärtlich und beschützend.
„Ja.“ Sie strich über seinen Oberarm. „Ich bin nur hellwach.“
„Soll ich dich müde machen?“ Ein tiefes Knurren an ihrem Ohr, ein spielerisches Umkreisen des Bauchnabels.
Die Schmetterlinge in ihrem Bauch kannte sie gut. „Ein verführerisches Angebot.“
„Aber du willst lieber reden.“
Ihr Herz ging auf, so tief waren ihre Gefühle für diesen Mann, der sie so genau kannte, sie küsste seine Wange, strich mit den Fingern durch sein Haar. „Meine Beschäftigung mit Cruz … ach, Lucas, er ist so verletzlich, so offen.“
„Dann ist es nur gut, dass du ihn nie verletzen wirst.“
Genau das machte ihr Sorgen. „In dem Buch, das meine Mutter mir geschickt hat, steht, dass E-Mediale auch böse werden können.“
„Nein“, sagte Lucas und richtete sich auf. „Darin steht, E-Mediale sorgen sich manchmal so sehr um andere, dass sie zu wissen glauben, was für jeden richtig ist.“
„Und dann machen sie schlimme Dinge“, ließ sich Sascha nicht beirren. „Was ist zum Beispiel mit dem Empathen, den die Autorin beobachtet hat – er wollte jeden dazu bringen, gut zu sein. Und hat die Leute dadurch in den Wahnsinn getrieben.“
„Ein Einzelgänger – der weder eine Familie noch ein Rudel hatte. Glaubst du wirklich, ich würde zulassen, dass du dich in eine Größenwahnsinnige verwandelst?“ Amüsiert glitzerte es in den Leopardenaugen.
Sie schnitt eine Grimasse. „Es ist mir ernst.“ Doch es war ihm gelungen, die Angst in ihrer Brust zu lösen. „Ich wusste vorher gar nicht, dass ich die Gefühle von Leuten auf diese Weise beeinflussen kann, sie dazu zwingen könnte, ganz bestimmte Dinge zu fühlen.“
Lucas spielte mit ihrem Haar.
„Ich frage mich, warum meine Mutter mir dieses Buch geschickt hat“, murmelte Sascha. „Sollte es mich verunsichern, oder wollte sie mich warnen?“ Bei den meisten Müttern hätte sich diese Frage nicht gestellt, aber ihre Mutter war die Ratsherrin Nikita Duncan.
„Vielleicht ist ihr auch nur klar geworden, was für eine mächtige Verbündete du wärst.“
Sie sah ihn fragend an.
„Weißt du, was das Alphatier in mir für den interessantesten Aspekt hält?“, fragte er, legte sich auf sie und stütze sich auf den Ellbogen ab. „Die Tatsache, dass eine kardinale Empathin in vollem Besitz ihrer Kräfte den Aufstand Tausender im Keim ersticken könnte. Das wäre doch sehr nützlich, wenn man als Ratsmitglied eine Rebellion in den eigenen Reihen zu fürchten hätte.“
Sascha legte ihre Arme um Lucas’ Nacken. „Eldridges Buch zufolge hat diese Fähigkeit jahrzehntelang unzählige Leben gerettet.“
„Stimmt.“
„Aber du glaubst nicht, dass es Nikita darum geht.“
Lucas küsste sie zärtlich. „Ich werde nicht versuchen, die Motive deiner Mutter zu ergründen, Sascha. Aber ich könnte es nicht ertragen, wenn du verletzt würdest – sei vorsichtig, Kätzchen.“
Seine Liebe umgab sie wie ein schützender Kokon. „Keine Angst“, sagte sie und kuschelte sich an ihn. „Sie kann mich nicht mehr so schnell verletzen. Ich will nur wissen, warum sie das ausgerechnet jetzt getan hat.“
„Frag sie doch“, sagte Lucas überraschenderweise. „Vielleicht sagt sie dir nicht die Wahrheit – sehr wahrscheinlich nicht –, aber du kannst doch gut zwischen den Zeilen lesen und kennst dich mit Körpersprache aus.“
„Ja, das sollte ich wohl tun.“ Sie küsste ihn auf die Schulter und wechselte zu einem anderen Thema über, das sie an diesem Tag beschäftigt hatte. „Ich glaube, bei den Vergessenen tut sich etwas.“
„Das spüre ich auch.“ Er ließ seinen Körper auf sie sinken. „Die Bewacher von Cruz – Dev scheint mir nicht nur wegen der Medialen besorgt zu sein. Man munkelt, die eigenen Leute wenden sich gegen ihn.“
„Meinst du, die Vergessenen haben jetzt dieselben Schwierigkeiten, die damals die Medialen Silentium in die Arme gerieben haben?“
„Wenn das so ist … hat Dev einen Haufen Probleme.“
Katya fühlte sich, als hätte sie geredet wie ein Buch. Dev hatte nicht widersprochen – aber er hatte seine Meinung auch nicht geändert. „Bist du wahnsinnig?“, schrie sie schließlich, als sie sich anschickten, ein paar Stunden in dem kleinen Hotel zu ruhen, in dem sie schon letzte Nacht ein paar Stunden verbracht hatten. Sie waren lange gefahren, um die schreckliche Gewalttat in Sunshine möglichst weit hinter sich zu lassen. Doch nachdem Dev gesagt hatte, er wolle Ming aufspüren, war Katya nur noch von einem Gedanken besessen: ihn davon abzuhalten. „Genau das will er doch! Dann kann er dich umso leichter umbringen.“
Dev hob die Decke an, er hatte sich bis auf die Jeans ausgezogen, und sie war in lockere Kleidung geschlüpft. „Rein mit dir, ehe du dir deinen hübschen Hintern abfrierst.“
„Du kannst das doch nicht einfach so abtun, Dev.“
„Rein, hab ich gesagt. Oder ich stopf dich eigenhändig unter die Decke.“
Wut schwappte in ihr hoch. „Behandle mich nicht wie ein Kind!“ Sie griff nach dem nächstbesten Ding – einem Stiefel – und bewarf ihn damit.
Er wich elegant aus. „Das war ziemlich dumm, Baby.“ In ruhigem Ton, aber seine Augen glühten.
Sie war zu wütend, um herauszufinden, ob es auf seiner Seite ebenfalls Wut oder Verlangen war. „Ach wirklich? Und was ist hiermit?“ Sie warf den anderen Stiefel.
Er drehte den Kopf so schnell zur Seite, dass sie die Bewegung gar nicht wahrnahm. Dann griff er nach ihr. Sie wollte ausweichen … aber er drückte sie bereits in eine Ecke. „Bei Gott, Dev, ich bin so wütend auf dich –“
Ein Finger legte sich auf ihre Lippen.
Überrascht hielt sie inne.
„Du gehörst mir“, sagte er ruhig und unerschütterlich. „Für immer.“
Ihr ganzer Körper zitterte bei diesen Worten.
„Nichts und niemand kann dich mir wegnehmen.“ Augen mit goldenen Flecken sahen tief in ihr Herz. „Hast du das verstanden?“
„Ich werde nicht zulassen, dass du dich umbringst“, flüsterte sie. Sie schob seinen Finger von ihren Lippen und legte die Hand auf seine Brust. „Wenn du meinetwegen in eine Falle gehst, wenn du meinetwegen stirbst …“
„Das werde ich nicht. Ich bin doch nicht dumm und stürze mich blind in so etwas. Wir werden uns Informationen über Mings Schwachstellen beschaffen.“ Er strich ihr das Haar aus dem Gesicht. „Trotz seiner Macht kann er sich nicht gegen alles schützen.“
„Er ist böse“, flüsterte Katya, ihre Augen wurden ganz dunkel, als sie sich erinnerte. „Ming besitzt nicht den kleinsten Funken Menschlichkeit. So jemandem wie ihm bin ich noch nie begegnet.“
„Wenn das Gute vor dem Bösen flieht“, sagte er und legte die Hände rechts und links neben ihrem Kopf an die Wand, „dann ist die Welt verloren.“
„Er wird dir den Schlüssel niemals geben.“
„Dann stirbt er.“
„Mings Tod wird mich aber nicht retten“, sagte sie und beugte den Kopf vor. „Selbst wenn wir einen Weg fänden, die Programmierung zu löschen oder auszuschalten, bliebe das geistige Gefängnis noch immer an meinen Verstand gekoppelt und würde von ihm aufrechterhalten.“
„Aber du wärst frei. Im Medialnet weiß niemand außer Ming, dass du noch am Leben bist – du könntest leben, ohne eine Entdeckung fürchten zu müssen.“
„Ja“, sagte sie, aber sie sah nicht allzu überzeugt dabei aus.
Gerade wollte er nachfragen, als sie ihn auf eine sehr weibliche Art küsste – weich, sinnlich und alles andere ausblendend.
Dev schmeckte heiß, fordernd, nach Leidenschaft – Katya sog es in sich ein, verdrängte die Wahrheit, die sich Tag für Tag mehr in ihr Bewusstsein schob. Hier und jetzt, unter der dicken Schneedecke, die sie gegen die Außenwelt schützte, wollte sie nichts anderes sein als eine Frau, die das Glück hatte, in den Armen dieses unglaublich geheimnisvollen Mannes zu liegen.
Als er sie gegen die Wand presste und ihre Aufmerksamkeit erzwang, erschauderte sie und schob ihre Hände in sein Haar. Dunkle Leidenschaft erfüllte sie, wärmte sie von innen. Sie glitt mit den Fingern wie über raue Seide, strich über seine Schultern und die verführerisch kräftige Brust. „Ich fasse dich so gerne an“, sagte sie an seinem Mund und konnte gar nicht aufhören, seinen muskulösen Körper zu berühren. Das krause Brusthaar war köstlich rau – sie hätte nur allzu gerne ihre nackten Brüste daran gerieben. „Ich will mich ausziehen.“
Er biss in ihre Unterlippe. „Das höre ich gerne.“ Leicht dahingesagt, aber seine Augen sprühten vor Leidenschaft. Er konnte zärtlich sein und für sie sorgen, aber sie wusste, dass unter der Oberfläche ein Krieger lauerte – mit einem unbeugsamen Willen.
Ihr Körper bebte, und sie küsste ihn auf Wange und Hals. „Diesmal will ich dir Lust bereiten.“
Er griff fest in ihr Haar. „Das tust du doch schon durch dein Dasein.“
Sie schmeckte ihn auf den Lippen, auf ihrer Zunge, spürte ein Ziehen im ganzen Körper. Auch er stand unter Spannung, ließ sie aber in aller Ruhe seinen Leib erkunden. „Ich verstehe einfach nicht“, flüsterte sie, „wie meine Gattung das alles jemals aufgeben konnte.“ Als Silentium eingeführt wurde, musste es doch Liebende gegeben haben, die vor Leidenschaft füreinander brannten.
„Einige haben es nicht getan.“ Sein heißer Atem streifte ihr Ohr, als er sich vorbeugte. „Für ein paar war der Preis zu hoch.“
Das Pulsieren seiner Halsschlagader war faszinierend, so schnell und voller Verlangen. Nach ihr. Ein Anflug weiblicher Macht schlängelte sich heiß und hungrig in ihr empor. Dev war so stark, dass allein schon das Wissen, sie könne so viel bei ihm auslösen, wie eine Droge war. Ihre Zähne zwickten zart seine Kehle und ihre Fingernägel kratzten leicht über seine Brust, verschonten auch die Brustwarzen nicht.
Er zischte. „Mach das noch mal.“