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Das Herz klopfte ihr bis zum Hals, als sie die Tür öffnete, Mantel und Schuhe hätten ihre Absicht sofort verraten. Und sie wollte auf keinen Fall wieder eingesperrt werden. Geduckt schlich sie durch die Diele und sah durch die offene Tür in ein Zimmer.

Dev.

Sein Kopf lag auf dem kleinen Schreibtisch, sein Haar war zerzaust. Sie hätte weitergehen sollen, aber sie musste erst zu ihm. Sein Puls schlug kräftig. Die Erleichterung war wie warmer Regen auf der Haut.

Sie küsste ihn auf die Wange, die rauen Stoppeln luden zum Verweilen ein, aber sie riss sich los. Beim Hinausgehen entdeckte sie die Betäubungspistole im Halfter und blieb stehen. Sie hatte nicht die Absicht, jemanden zu verletzen, aber falls Tag oder Tiara aufwachten, würde sie etwas zur Abschreckung brauchen. „Sei nicht sauer“, flüsterte sie und nahm die Waffe an sich.

Tag saß auf der Couch im Wohnzimmer, ein Science-Fiction-Streifen flimmerte auf dem Bildschirm. Tags Augen waren geschlossen und sein Kopf lag auf der Rückenlehne.

Auf dem Tisch stand ein leerer Kaffeebecher.

Tags vollkommene Bewegungslosigkeit erschreckte Katya, und sie legte ihre Finger an seinen Hals.

Er stöhnte und drehte sich auf die Seite.

Wie eingefroren wartete sie darauf, dass er aufwachte und Alarm schlug. Aber nach einigem Hin und Her schlief er wieder fest. Erleichtert vergewisserte sie sich mit ihren geistigen Sinnen, dass es dem Kind gut ging. Tags Schilde hielten – er verfügte über große telepathische Kräfte. Da sie nicht wusste, ob die Schilde auch hielten, wenn er noch tiefer in die Bewusstlosigkeit abdriftete, legte sie eigene Schilde darüber. Dann durchsuchte sie unter tausend Entschuldigungen Tags Brieftasche und nahm das Bargeld heraus.

Die nächste Hürde war die Alarmanlage.

„Hilf mir“, flüsterte sie, ohne zu wissen, wen sie darum bat.

Eine Tür auf dem Flur ging auf.

„Tag?“, fragte Tiara mit schläfriger Stimme. „Ich dachte, ich hätte –“ Sie erstarrte, als sie den Injektor in Katyas Hand sah. Die schönen braunen Augen, die in vielen Schattierungen von Gold und Bernstein schimmerten, erfassten beunruhigt den betäubten Mann auf dem Sofa.

„Es geht ihm gut“, sagte Katya. „Ich wollte keinem etwas tun – ich will nur fort.“

„Das kann ich nicht zulassen“, sagte Tiara leise, die Arme locker an der Seite.

Katya war auf der Hut. Tiara musste irgendwo eine Waffe haben. Außerdem war sie Telepathin. Mit ihren eigenen geistigen Kräften blockte Katya den Angriff ab. Patt. „Wissen Sie was, Tiara?“

„Was denn?“

„Wenn ich diese Betäubungspistole auf jemand anderen richte“, flüsterte Katya, „sie zum Beispiel Tag an den Kopf halte, werden Sie alles tun, was ich will.“

Tiara hielt den Atem an.

„Aber bitte zwingen Sie mich nicht dazu.“ Das war eine Bitte. „Ich möchte keine solche Bestie werden.“

„Damit kommen Sie nicht durch.“ Tiara änderte ihre Strategie. „Dev wird Sie wieder einfangen.“

Katya lächelte zaghaft. „Dann können Sie mich ja ruhig gehen lassen.“

„Katya, ich weiß doch, dass Sie nicht auf mich schießen werden“, sagte Tiara ohne Umschweife. „Das hat doch alles keinen Sinn.“

„Die Waffe ist nicht stark eingestellt“, sagte Katya. „Wollen Sie den Jungen wirklich schutzlos zurücklassen, wenn ich Sie betäuben müsste?“

Tiara fluchte leise. „Sie sind bei weitem nicht so hilflos, wie Sie aussehen.“

„Vielen Dank. Wenn ich Sie nun zur Alarmanlage bitten dürfte.“ Katya achtete darauf, genügend Abstand zu Tiara zu halten. „Geben Sie den Code ein.“

Tiara stellte keine weiteren Fragen.

Katyas Lippen zuckten. „Haben Sie eben einen stillen Alarm ausgelöst? Macht nichts – solange kein lautes Signal ertönt, wenn ich die Tür öffne.“

„Warum kümmert Sie das überhaupt?“ Tiara hob eine perfekt geschwungene Augenbraue. „Ich bin doch schon wach.“

„Ich will dem Jungen keine Angst einjagen.“

Ein Seufzer. „Ich hatte gerade angefangen, Sie zu mögen, Katya. Und nun wollen Sie fliehen und bedrohen mich mit einem Injektor.“

„Öffnen Sie die Tür“, sagte Katya, denn Tiara wollte offensichtlich Zeit gewinnen.

Ohne ein weiteres Wort gehorchte die Telepathin. Kein Signal ertönte. Tiara ging hinaus auf die Veranda und stieg die Stufen hinab. Katya folgte ihr. Da Tag sich nicht mehr in unmittelbarer Gefahr befand, würde Tiara bestimmt gleich zur Waffe greifen. „Tut mir leid“, sagte Katya und drückte ab.

„Oh nein!“ Tiara fiel auf die Knie und zuckte unkontrolliert. „Wie unsportlich.“ Sie sprach langsam und abgehackt.

Katya steckte die Pistole in ihre Manteltasche und griff Tiara unter die Arme. „Ich weiß. Sie können später über mich fluchen.“ Jetzt musste sie die Halbbetäubte zu einem der Wagen bringen.

Tiara wollte sich wehren, doch der Schuss hatte ihr Nervensystem lahmgelegt. Was aber nichts daran änderte, dass sie größer und schwerer als Katya war. Die war schweißgebadet, als sie mit der Vergessenen endlich an dem Geländewagen angekommen war, der dem Haus am nächsten stand. Sie nahm Tiaras Hand und presste ihren Daumen auf das Schloss.

Die Tür schwang zur Seite.

Katya zog Tiara auf den Fahrersitz und legte deren Daumen auf das Zündschloss. Der Motor sprang schnurrend an.

„Allein bekommen Sie den nicht wieder in Gang“, murmelte Tiara, deren Blick schon wieder klarer wurde.

„Ich darf ihn bloß nicht ausgehen lassen.“ Katya legte die Shine-Mitarbeiterin auf den Boden und nahm ihr das Handy ab. „Ich habe die schwächste Dosierung benutzt – in weniger als fünf Minuten sind Sie wieder auf dem Damm. Bis dahin sorge ich dafür, dass die Schilde des Jungen halten.“

Tiara lächelte. „Dev wird Sie gehörig in den Hintern treten.“

Überrascht blieb Katya stehen. „Die Betäubung hat doch nicht etwa eigenartige Auswirkungen bei Vergessenen?“

„Zum Teufel, nein.“ Tiara sprach wieder deutlicher. „Aber allmählich macht mir die Sache Spaß.“

Katya schüttelte den Kopf angesichts dieser seltsamen Art von Humor, stieg in den Wagen und fuhr vorsichtig auf die Zufahrt zu. Nach etwa hundert Metern hielt sie unter einem großen Baum und blieb dort stehen. Niemand würde sie hier bemerken. Wenn es wirklich stillen Alarm gegeben hatte, waren sie bereits unterwegs.

Als sie spürte, dass Tiara sie bei dem Jungen ablöste, glitt sie zurück in ihren Kopf, bevor die Vergessene zum Angriff übergehen konnte. In null Komma nichts schossen zwei Wagen auf das Haus zu. Katya wartete, bis sie in die Zufahrt eingebogen waren, dann warf sie das Handy – samt darin befindlichem GPS-Sender – aus dem Fenster und fuhr, als ob der Teufel hinter ihr her wäre.

Das Navigationssystem führte sie aus der einsamen Gegend auf eine trotz der nächtlichen Stunde stark befahrene Hauptstraße. Nach zwanzig Minuten bog sie auf den mit Megalastern besetzten Parkplatz eines Diners ein. Die Luftkissengespanne hatten spezielle automatische Leitsysteme und fuhren meist drei bis vier Mal schneller als normale Fahrzeuge.

Mit einem tiefen Seufzer stellte Katya den Motor aus. Sie war gestrandet. Aber wie sie Dev kannte, hatte der Wagen ein Ortungssystem. Sie legte den Injektor unter den Sitz, damit niemand zu Schaden kam.

Die Gespräche verstummten, sobald sie das Lokal betreten hatte, aber jetzt konnte sie nicht mehr zurück. Tiara hatte wahrscheinlich schon die Verfolgung aufgenommen. Katya straffte die Schultern und sah sich um. Die meisten Kunden waren Männer.

Wieder brach ihr der Schweiß aus. In das Fahrzeug eines vollkommen Fremden zu steigen, war nicht besonders schlau, aber ihr blieb keine andere Wahl. Und sie war eine Telepathin. Niemand würde sie je wieder zu einem Opfer machen. Sie lächelte zaghaft und trat an den Tresen.

„Soll ich dir ’nen Kaffee bestellen?“ Das Angebot kam von einem Mann Mitte zwanzig, der rechts neben ihr stand.

„Ein Orangensaft wäre mir lieber“, sagte sie, er schien „in Ordnung“ zu sein. Auf ihren Instinkt war hoffentlich Verlass.

Er lächelte, um seine Augen tanzten Lachfältchen. „Dann gib ihr ’nen Saft. Nimm’s mir nicht übel, Mädchen, aber du könntest ein wenig zulegen.“

Sofort hatte sie Bilder von Dev im Kopf, der ihr Smoothies machte und Granola-Riegel in die Taschen steckte. „Ich geb mir Mühe. Vielen Dank.“ Sie nahm den Saft und trank einen Schluck. „Sie fahren nicht zufällig nach Norden?“

Der Trucker sah sie enttäuscht an. „Nein, nach Süden, so’n Pech aber auch. Jessie!“

Eine Frau mit einem langen blonden Pferdeschwanz sah am anderen Ende des Tresens auf. Ihr Gesicht war voller Sommersprossen. „Was ist los?“

„Fährst du nach Norden?“

„Könnte sein.“ Die Frau sah Katya an. „Willst du mit?“

„Wenn ich darf.“

Jessie zuckte die Achseln und stand auf. „Ich muss los. Kannst mir Gesellschaft leisten.“

Katya dankte dem Mann für den Saft und folgte Jessie. Die Truckerin sagte kein Wort, bis sie im Führerhaus des silbernen Laster saßen, dessen Armaturenbrett eher an das Cockpit eines Flugzeugs erinnerte.

„Nicht besonders klug, da reinzuschneien“, sagte Jessie, als sie auf dem Highway waren. „Die meisten Jungs sind in Ordnung. Aber es gibt schon ein paar, die für das Mitnehmen von Frauen eine Gegenleistung erwarten.“

„Ist mir klar“, sagte Katya ganz ehrlich. Denn trotz des frischen, unverbrauchten Gesichts schien Jessie jemand zu sein, die Lügen zehn Meilen gegen den Wind roch. „Aber ich wollte den Überwachungskameras der Reisebüros entgehen.“

Nachdem sie den Laster auf den Leitstrahl gefahren hatte, stellte Jessie die automatische Steuerung ein. Das Lenkrad fuhr ein und der Computer beschleunigte auf eine Geschwindigkeit, die niemand mehr per Hand hätte beherrschen können. „Läufst du vor jemandem davon?“ Ein besorgter Blick. „Hat er dich schlecht behandelt, Schätzchen?“

Er hielt sie in den Armen. Wünschte ihr mit einem Kuss schöne Träume. „Nein. Aber ich muss etwas erledigen.“ Einem ihrer Dämonen ins Gesicht sehen.

„Geht in Ordnung.“ Jessie schob ihren Sitz zurück und legte die Füße aufs Armaturenbrett. „Magst du Jazz?“

„Ich werde –“ Dev biss sich auf die Zunge und starrte die grinsende Tiara an. „Du hast sie einfach gehen lassen?“

„He, sie hat mich schließlich betäubt“, sagte sie gekränkt. „Und ich habe auch den Wagen bei diesem Diner aufgespürt, obwohl sie das unverschämte Glück hatte, ausgerechnet die Karre mit dem defekten Ortungssystem zu erwischen.“

Messer bohrten sich in Devs Magen, als er daran dachte, mit wem Katya wohl weitergefahren war, was ihr passiert sein konnte. „Hat Lucas schon zurückgerufen?“ Das Alphatier der Leoparden hatte mit den Leuten sprechen wollen, denen das Lokal gehörte, nachdem Dev bei seinen Nachforschungen nur auf eisiges Schweigen gestoßen war.

In diesem Augenblick klingelte Devs Handy. Er klappte es auf und sah sich die Nummer an. „Haben Sie was, Lucas?“

„Sie sitzt in einem Laster Richtung Norden“, berichtete der Leopard. „Jessie Amsel fährt ihn.“

„Eine Frau.“

„Ja.“

Doch das musste nicht heißen, dass Katya außer Gefahr war. „Ich habe Kontakte zur Trucker-Gewerkschaft“, sagte Dev. „Werde mir dort die genaue Route besorgen.“

„Sie sind vor etwa vier Stunden losgefahren.“

„Dann sollte ich mich beeilen.“ Er legte auf, rief seinen Kontaktmann an und hielt fünf Minuten später eine Kopie der Route in den Händen. Er kniff die Augen zusammen und gab eine weitere Nummer ins Handy ein. „Michel? Kann ich dich um einen Gefallen bitten?“

„Dafür schuldest du mir was, Cousin.“ Er konnte beinahe hören, wie Michels Mundwinkel nach oben zuckten. „Worum geht’s?“

Dev erklärte es ihm. „Kannst du das für mich tun?“

„Es verstößt gegen die Regeln, aber ich nehme mal an, du wirst meinen Arsch schon retten, falls man mich einlocht.“

„Vielen Dank.“

„Heb dir das für später auf. Selbst wenn sie den Laster nicht wechselt, wird es schwer. Der Verkehrsfunk meldet keinerlei Staus oder Störungen bis zur Grenze. Falls ich sie nicht zu fassen bekomme, bevor sie in Kanada ist, sind mir die Hände gebunden.“

Nachrichtenprotokoll Erde 2:
Station Sunshine

18. August 2080: Offizielle Meldung: Zehn Mitarbeiter des Wissenschaftlerteams sind nach einer Erkundungsfahrt ins Lazarett eingeliefert worden. Anscheinend haben sie auf dem Rückweg im Dunkeln die Orientierung verloren.

Keiner aus dem Team hat die Hilfe der Basisstation angefordert oder erinnert sich daran, was dort draußen vorgefallen ist. Alle werden im Lazarett bleiben, bis der Vorfall aufgeklärt ist.