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Nach der willkommenen Abkühlung zog sich Dev an und blätterte auf dem Handy entgangene Anrufe durch. Einer war von Maggie, zwei von Glen. Seine Sekretärin hatte die Nachricht hinterlassen, dass alle Termine verschoben seien, Glen hatte jedes Mal aufgelegt, ohne etwas zu hinterlassen.

Statt sich zu kämmen, fuhr er sich mit den Fingern durch die feuchten Haare und gab die Nummer des Arztes ein, während er nach unten ging. Das Sicherheitssystem zeigte keine Störung, Katya musste also noch im Haus sein. Nach dem Telefonat würde er nach ihr suchen, nahm er sich vor, ging in die Küche und holte den Mixer heraus.

„Dev?“ Glen war in der Leitung. „Wo warst du?“

„Beschäftigt.“ Er stellte die Milch auf den Tresen. „Worum geht’s?“

„Ein Shine-Hüter hat in Des Moines ein Kind gefunden. Scheint sich um einen reinen Telepathen zu handeln.“

Dev erstarrte. „Ganz sicher?“ Außerhalb des Medialnet waren reine Telepathen äußerst selten – nach ihrem Auszug waren die Vergessenen Verbindungen mit Menschen und Gestaltwandlern eingegangen, und ihre Kinder waren Mischlinge. Ihre Fähigkeiten hatten bemerkenswerte Wandlungen durchgemacht, aber es waren auch welche verloren gegangen. Als Erstes verschwand die Reinheit bestimmter Fähigkeiten – einige Mediale im Netz konnten ohne große Anstrengung weltweit telepathisch in Verbindung treten. Bislang war kein Nachkomme der Vergessenen dazu in der Lage gewesen.

„Ziemlich sicher“, sagte Glen. „Den Hüter kennst du – Ayran hat selbst geringe telepathische Fähigkeiten, er hat sich telefonisch mit Tag und Tiara beraten. Alle drei meinen, der Junge zeige klare Anzeichen starker telepathischer Fähigkeiten.“

Tag und Tiara hatten die stärksten telepathischen Kräfte im Schattennetz – dem neuronalen Netzwerk, das nach der Abkehr vom Medialnet von den Rebellen geschaffen worden war –, aber auch sie konnten nur innerhalb der Vereinigten Staaten senden. Was natürlich auch schon beeindruckend war. „Kann man ihn retten?“ Dev musste diese Frage stellen, obwohl sie ihm das Herz schwer machte. Es war schrecklich für ihn, einen der ihren zu verlieren, so schrecklich, dass die Rachegefühle ihn gnadenlos gemacht hatten.

„Der Junge war in einem staatlichen Waisenhaus.“ Glen klang angespannt. „Die Eltern sind bei einem Autounfall umgekommen. Die Großeltern scheinen niemanden darüber informiert zu haben, dass der Vater ein Nachkomme der Vergessenen war. Das arme Kind wurde deshalb den größten Teil seines Lebens wegen seiner offensichtlichen Schizophrenie mit Medikamenten vollgepumpt.“

Wut stieg in Dev auf. Das Wissen hätte nie verloren gehen dürfen. Nachdem sich die vom Rat verfolgten Vergessenen über die ganze Welt verstreut hatten, war ihnen ans Herz gelegt worden, genauestens Buch zu führen, damit die latenten Gene keine schlimmen Folgen für ihre Kinder hätten. „Die Mutter muss auch eine von uns gewesen sein, falls der Junge tatsächlich ein reiner Telepath ist.“

„Ayran hat das zurückverfolgt. Die Urgroßmutter seiner Mutter gehörte zu den Rebellen.“ Glen fluchte leise. „Der Junge hat eine schwache Konstitution, Dev. Er wird dich brauchen – du hast leicht Zugang zu diesen Kindern. Wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich sagen, du hast empathische Fähigkeiten.“

Dev wusste, dass die Kinder genau das Gegenteil in ihm wahrnahmen – den Kampfhund, der dafür sorgte, dass nichts und niemand ihnen zu nahe kam. „Ich werde kommen.“

„Was ist mit Katya? Soll ein anderer sie im Auge behalten?“

„Nein. Sie wird mich begleiten.“ Reiner Instinkt, wilde Besitzgier hatte aus ihm gesprochen. Innerlich zuckte er bei dieser Feststellung zusammen, mehr und mehr löste sich seine kalte Beherrschung auf.

Aber Glen widersprach nicht. „Aufgrund der Medikamente wird der Junge noch mindestens zwei Tage nicht ansprechbar sein, vorher brauchen wir dich hier nicht.“

Nach ein paar weiteren Informationen beendete Dev das Gespräch und stellte seine Sinne auf die Suche nach Katya ein. Diese im Vergleich weniger starke Fähigkeit war ein interessanter Nebenzweig der Telepathie. Er konnte ein gewisses Gebiet absuchen, genau feststellen, wer sich wo befand und, falls er eine emotionale Verbindung zu der Person hatte, sogar ihre Stimmung erraten.

Katya saß vorne im Sonnenzimmer.

Ihre Stimmung teilte sich ihm nicht mit, ihre Geheimnisse blieben ihm verschlossen.

Er knallte ein Glas auf den Tresen, goss Milch in den Mixer und gab eine Mischung aus Vitaminen und Proteinen dazu. „Katya!“

Eine Minute später stand sie im Türrahmen. „Ja.“

„Welches Obst?“

Einen kurzen Moment glaubte er, sie würde ihm sagen, dass sie keinen Hunger hatte, dann hätte es eine unschöne Szene gegeben – das Bedürfnis, für sie zu sorgen, saß wie eine geballte Faust in seiner Magengrube und wollte befriedigt werden. Zum Glück kam sie herein und nahm eine Mango.

Er hielt ihr ein Messer hin. „Schälen und kleinschneiden.“

Dann nahm er eine zweite Mango und tat es ihr gleich. Er war fertig, ehe sie auch nur die halbe Mango geschnitten hatte … denn sie leckte dauernd an ihren Fingern. Als sie wieder den Finger in den Mund steckte und genüsslich daran saugte, reagierte sein Körper. „Katya!“

Sie wurde rot, hatte ihn missverstanden. „Es schmeckt so gut.“

Er konnte nicht anders. Hielt ihr ein saftiges Stück Mango an die Lippen und sagte: „Mund auf.“

Sie sah ihm in die Augen und gehorchte. Ihre weichen, feuchten Lippen berührten seine Fingerspitzen, als er sie fütterte, noch nie hatte er etwas ähnlich Erotisches gespürt. „Gut?“, fragte er heiser.

Sie nickte, das blonde Haar leuchtete in der Sonne. „Wo ist das Eis?“ Eine ganz normale Frage, aber so, wie sie ihn ansah, war es das nicht.

Er rief sich in Erinnerung, dass sie unter anderem noch vor Kurzem bewusstlos gewesen war, und schlug die Tür zu einer Begierde zu, die jeden Schwur und jedes Versprechen in ihm zu unterminieren drohte. „Ich hole das Eis.“ Er tat alles in den Mixer, rührte und goss ihr dann ein Glas ein. „Sie werden jetzt auch ein Stück Brot essen.“

„Ich bin eigentlich nicht hungrig.“

„Pech gehabt.“

Das Glas schlug mit einem lauten Knall auf dem Tresen auf. „Was wollen Sie denn machen, wenn ich nicht esse?“

„Sie auf einen Stuhl binden und abwarten, bis sie endlich kooperieren. Dann werde ich Sie füttern.“ Er schob das Brot über den Tresen und holte Belag heraus. „Schmieren Sie sich selbst eins, oder soll ich die Auswahl übernehmen?“

Diesmal funkelte sie ihn wütend an. „Nur weil Sie größer und stärker sind, brauchen Sie sich noch lange nicht wie ein Tyrann aufzuführen.“

„Nur weil Sie eine Frau sind, nehme ich Ihnen noch lange nicht jeden Unsinn ab.“

Sie klatschte sich Butter auf ein Brot und griff dann nicht etwa nach Schinken oder Käse, sondern nach der Himbeermarmelade. „Schweigen Sie“, sagte sie, als er den Mund öffnete.

Er hob eine Augenbraue und holte aus dem Küchenschrank ein Glas Erdnussbutter mit Crunchies heraus. „Passt gut dazu.“

Sie sah ihn skeptisch an, nahm aber das Glas entgegen. Wortlos machte er sich auch ein Brot und trug es dann zusammen mit ihrem Smoothie zum Tisch. Katya folgte ihm etwa eine Minute später, nachdem sie Marmelade und Erdnussbutter absichtlich langsam zurückgestellt hatte – wohl in der Hoffnung, er hätte bereits fertig gegessen, wenn sie käme.

Sie sah nicht auf, während sie aß.

Er wurde absichtlich ignoriert. Grinsend lehnte er sich auf seinem Stuhl zurück und streckte seine Beine bis weit zu ihr hinüber.

Katya hatte ein Leben als Wissenschaftlerin geführt. Sie erinnerte sich zwar kaum noch daran, aber sie wusste, dass sie ruhig und reserviert gewesen war, ganz unabhängig von Silentium. Doch gerade eben hatte sie beinahe die Beherrschung verloren. Und nun spürte sie den Impuls, Devs Füße beiseite zu treten, die er mit voller Absicht unter ihren Stuhl geschoben hatte.

Breite Schultern, lange Beine – ein arrogantes Muskelpaket. Kein Wunder, dass er sie hochbrachte. Aber – sie legte ihr Brot auf den Teller, ihr Mund war wie ausgetrocknet. „Warum dringt nichts von meinen Gefühlen ins Medialnet?“ Warum wusste kein anderer Medialer, dass sie Silentium verriet?

„Sie sagten doch, Sie säßen in einer Falle.“ Die feinen Haare auf ihren Armen stellten sich bei seinen eiskalt gesprochenen Worten auf. „Sinnvollerweise funktioniert der Schild nicht nur als Käfig. Er verbirgt sie auch – je weniger Personen von der Existenz eines trojanischen Pferdes erfahren, desto mehr Schaden kann es anrichten.“

„Warum bleiben Sie dabei so ruhig?“ Sie beugte sich vor, auf der Suche nach Antworten auf all ihre Fragen. „Nach allem, was Sie wissen, könnte doch mein Auftrag sein, Sie zu töten.“ Ein Schauder lief ihr über den Rücken. „Gut möglich, dass es genau das ist.“

Ein sorgloses Schulterzucken. „Ich bin nicht so leicht umzubringen.“

„Seien Sie nicht so überheblich. Schließlich bin ich Telepathin.“

Stille.

Sie blinzelte. Schüttelte den Kopf. „Genau, ich habe mittlere telepathische Fähigkeiten und ähnlich starke im medizinischen Bereich. Kaum fünf auf der Skala.“

Dev wusste, dass die Medialen auf einer Skala von eins bis zehn ihre geistigen Kräfte maßen. Kardinalmediale lagen natürlich darüber. „Senden Sie mir etwas.“

„Dev! Wenn man mich aufspürt –“

„Der Rat weiß bereits, dass wir über Reste geistiger Fähigkeiten verfügen – und ich werde Sie bestimmt nicht gehen lassen.“ Mit leiser Stimme und doch tödlich scharf wie eine Schwertklinge. „Mein telepathisches Vermögen ist sehr begrenzt. Ich würde gern wissen, ob es ausreicht, eine Mediale ‚zu hören‘.“

Sie übermittelte das Erste, was ihr in den Sinn kam. Halten Sie sich denn nicht für einen Medialen?

Dev legte den Kopf ein wenig zur Seite, eine tiefe Falte erschien zwischen seinen Augenbrauen. „Beinahe. Wie ein zu leises Flüstern. Was haben Sie gesagt?“

Sie stellte ihre Frage laut.

„Nein.“ Er presste die Lippen zusammen. „Die Medialen haben sich ohne zu zögern von meinen Vorfahren getrennt – und dann versucht, sie auszulöschen. Was mich betrifft, sind damit sämtliche Bande zerstört worden.“ Er beugte sich so schnell vor, dass sie nicht ausweichen konnte, und fasste sie am Kinn, sanft, aber unerbittlich. „Und Sie? Halten Sie sich für eine Mediale?“

„Ich bin es.“ Doch seine Frage warf auch in ihr Fragen auf, die in ihrer Brust so etwas wie einen Phantomschmerz hervorriefen. „Sie haben mich einfach weggeworfen.“

Bewusst langsam rieb Dev mit dem Daumen über ihr Kinn. „Sie könnten es auch anders sehen.“ Dunkelbraune, fast goldene Augen blickten so konzentriert wie die des Tigers.

„Wie denn?“, flüsterte sie und bemerkte, dass sie sich gegen seine Hand lehnte.

Doch sie konnte sich nicht zurückziehen, konnte nicht die Mediale werden, die sie in ihrer Erinnerung war. Jede Zelle in ihr nahm Devs raue Fingerspitzen wahr, die durch das Sonnenlicht wie gemeißelt wirkenden Gesichtszüge, die schön geschwungene Form seiner Lippen. „Sie haben Sie mir gegeben.“