37
„Dev?“ Katya biss zart dem Mann ins Ohr, der mit seinem ganzen Gewicht auf ihr lag und sie so ganz und gar wie eine Decke umgab. Wer musste da noch atmen? „Dev?“
Diesmal grunzte er.
Lächelnd küsste sie ihn auf die angenehm raue Wange. „Ich mag Sex.“
Sie sah die Andeutung eines Lächelns, und ihre Mundwinkel hoben sich. Sie musste ihn berühren, strich mit der Ferse über sein Bein und mit der Hand über den muskulösen Arm. „Wann können wir das wieder machen?“
„Du reagierst aber nicht wie eine Mediale.“ Es klang, als habe er sich verschluckt.
„Vielleicht würden sie auch ihre Meinung ändern, wenn sie mit dir ins Bett gehen würden.“ Sie runzelte die Stirn. „Dev?“
„Ich weiß, du magst Sex. Lass mir ein paar Minuten Zeit“, beschwerte er sich lachend.
„Nein.“ Genüsslich sog sie seinen Geruch ein, Schweiß und ein herber männlicher Duft. „Hast du vor, mit anderen zu schlafen?“
Er kniff so fest in ihre Brustwarze, dass sie zusammenzuckte. „Das hast du von deiner dummen Fragerei.“
Sie lächelte. „Das tat weh.“
„Du hast es herausgefordert.“
„Und bekomme ich jetzt Ärger?“ Sie biss ihn noch einmal ins Ohr.
Seine Hand lag auf ihrer Brust. „Wenn du so weitermachst, kommst du gar nicht mehr zum Schlafen.“
„Das hört sich gut an.“
Stöhnend stützte er sich auf den Unterarmen ab. „Keinen Sex mehr heute Nacht. Wir duschen und schlafen. Im Morgengrauen müssen wir aufbrechen.“
Sie zog sich an ihm hoch, küsste ihn auf die Brust und presste sich gegen sein beinahe schon wieder steifes Glied. Er ließ sie fluchend gewähren, aber nur kurz. „Duschen, marsch, marsch.“ Diesmal gab er nicht nach. Zog sie unter die heiße Dusche und dann wieder ins Bett.
„Schlaf.“ Ein Befehl, seine Arme schlossen sich beschützend und ja, auch sehr besitzergreifend um sie – er schob seinen Oberschenkel zwischen ihre Beine, ohne ihn würde sie nirgendwo hingehen.
Zum ersten Mal war der innere Zwang, nach Norden zu gehen, nicht mehr ihr vorherrschender Gedanke. Und auch die heiße Leidenschaft zwischen ihnen stand nicht länger im Vordergrund. Sondern die Zärtlichkeit, mit der er sie auf den Nacken küsste, seine feste Umarmung. Er sorgte für sie, stellte sie überrascht fest.
Es fühlte sich seltsam an, Wärme stieg in ihr auf und ließ ihre Glieder schwer werden. Aber es gelang ihr dennoch, ihre Beine zu befreien und sich umzudrehen, damit sie den Kopf unter sein Kinn und die Hand auf sein Herz legen konnte. Sofort schob er seinen Schenkel wieder zwischen ihre Beine. Sie lächelte und kuschelte sich an ihn. Schlief friedlich und ohne zu träumen.
Sechs Stunden später war das wunderbare Zwischenspiel nur noch eine Erinnerung. Im Wageninneren war es warm, aber Katya zog die Jacke enger zusammen, als Dev entschlossen aus der Lodge fuhr. Die Furcht, die in seinen Armen verschwunden war, hielt sie nun wieder fest in ihren Klauen. Ihr war nicht klar, ob sie von einer Ahnung herrührte, wohin sie sie beide führte … oder von ihrer Angst, der Zwang in ihr habe keinen anderen Grund als Albträume und Lügen.
„Hör auf zu grübeln.“ Der kühle Befehl des Direktors von Shine.
Seine Stärke gab ihr Kraft. „Fällt mir schwer“, sagte sie. „Etwas ruft nach mir, obwohl ich noch nie vorher in dieser Gegend gewesen bin.“
„Hat man dich vielleicht hier gefangen gehalten?“
„Könnte sein. Aber … es ist alles so fremd.“ Der Anblick der schneebedeckten Felder in der unbewohnten Gegend jagte ihr kalte Schauer über den Rücken, aber nicht, weil er sie an die Folter erinnerte.
Tatsächlich war die Welt hier draußen wunderschön. Wie mit Diamanten bedeckt glitzerte der Schnee in der Morgensonne. Der Himmel war so blau, dass es unmöglich schien, dass unter ihm etwas Böses geschehen könnte. Aber – „In meinem Kopf sind nur Schatten“, flüsterte sie.
Der unsentimentale, klar denkende Soldat in Dev sagte ihm, er solle umkehren, weil Katya ihn womöglich in eine Falle lockte, aber er fuhr weiter. Heute würde er seinem Instinkt folgen, der ihm mehr als einmal das Leben gerettet hatte. Die Frau neben ihm – seine Frau – brauchte das, und er würde es ihr nicht vorenthalten.
„Verrate mir etwas“, sagte er, als sie schwieg und aus dem Fenster starrte.
Sie zuckte zusammen, als hätte er sie aus einer Trance geholt. „Was denn?“
„Du hast von deinen Eltern gesprochen, magst du mir etwas über sie erzählen?“ Sie sollte nicht mehr an das drohende Dunkel denken, dem sie unerbittlich näher kamen. Es würde nicht mehr lange dauern. Schon heute Abend, spätestens morgen früh wären sie am Ziel angelangt.
„Also gut“, sagte sie nach einer langen Pause. „Meine Eltern hatten ein gemeinsames Elternschaftsübereinkommen getroffen, und wir lebten zusammen. Sie haben sich immer miteinander abgesprochen, bevor sie eine Entscheidung über meine Zukunft trafen.“
„Hört sich nicht schlecht an.“ Auf jeden Fall weit besser, als er erwartet hatte.
„Es war ein gutes Leben.“ Sie verschränkte die Arme vor der Brust und sah ihn an. „Aber mehr auch nicht. Als ich mit achtzehn auszog, änderte sich nichts, außer dass ich selbst die Entscheidungen fällen durfte.“
„Ich dachte, Loyalität in der Familie würde bei Medialen großgeschrieben.“
„Das stimmt, aber es ist eine kalte Art von Loyalität. Einen Monat, nachdem ich volljährig geworden war, haben meine Eltern – die seit meinem achtzehnten Geburtstag nicht mehr zusammenlebten – den Vertrag über ihre gemeinsame Elternschaft aufgelöst, und ich kann mich nicht erinnern, je einen von ihnen wiedergesehen zu haben.“ Sie zuckte die Achseln. „Sie hatten ihr Ziel erreicht, ihre Aufgabe erfüllt. Ich habe natürlich Verbindungen zu beiden Familien. Aber mit einundzwanzig musste ich mich für die Zugehörigkeit zu einer entscheiden.“
„Warum?“
„Weil Mediale nur absoluter Loyalität vertrauen“, sagte sie. „Ich musste mich offiziell für die mütterliche oder väterliche Seite entscheiden.“
„Und welche hast du gewählt?“, fragte Dev, den der Blick auf die Kräfte faszinierte, die Katya geformt hatten.
„Die väterliche“, antwortete sie. „Die Familie meines Vaters engagiert sich in wissenschaftlicher Forschung, die meiner Mutter konzentriert sich auf wirtschaftliche Dinge. Es war sinnvoller, die Seite zu wählen, bei der ich meine Fähigkeiten am besten einsetzen konnte.“
„Und deine Mutter hatte nicht das Gefühl, ausgebootet worden zu sein?“
„Natürlich nicht – meine Gene stammen doch nur zur Hälfte von ihr. Aber da sie mich gleichermaßen erzogen hatte, musste mein Vater sie auszahlen, denn seine Familie profitierte von meiner Ausbildung und meinen Fähigkeiten.“
Dev blinzelte verständnislos. „Er hat dich ihr abgekauft?“
„Eine ganz normale Transaktion im Medialnet.“ Sie holte tief Luft. „Ganz ohne Emotionen, ein rein pragmatisches Geschäft. Kein Streit, keine Unstimmigkeiten. Alles ist in den Elternschafts- und Zeugungsverträgen genau festgelegt.“
Dev konnte sich ein solch kaltes Leben und solche kühl kalkulierten Beziehungen nicht vorstellen. „Dann musstest du also der Familie deines Vaters einen finanziellen Beitrag entrichten?“
„Ja. Es gibt einen zentralen Investmentfonds. Ich habe ganz gut verdient – wir hatten eine gute Anlagestrategie.“ Sie streckte die Beine aus und legte die Hände auf die Knie. „Ich frage mich, was sich durch meinen Tod geändert hat. Wahrscheinlich nicht sehr viel – meine Arbeit für den Rat hat meiner Familie zwar mehr Einfluss im Medialnet beschert, aber nur marginal. Mich zu verlieren, hat sicher keine großen Wellen geschlagen.“
Es machte ihn wütend, dass sie dabei so ruhig bleiben konnte. „Es wird aber ziemlich hohe Wellen schlagen, dass du noch lebst.“
Sie sah ihn überrascht an. „So kann man das vielleicht auch sehen. Kann ich dich fragen …?“ Sie zögerte.
„Was willst du wissen?“
„Etwas über deine Kindheit.“
Seine Hände umklammerten das Lenkrad. „Was denn?“ Seine Stimme klang rau wie Strandkiesel.
Sie schwieg etwa eine Minute. „Du willst nicht darüber reden.“
„Nicht heute.“ Überhaupt nicht, wenn er ehrlich war.
„Gibt es noch etwas anderes, das – ach, nein.“ Sie schüttelte den Kopf. „Ich wollte nach deinen Schwächen fragen.“
„Kam die Frage von dir?“
Ihre Augen waren leer. „Das ist es ja gerade. Ich weiß es nicht.“
Während Dev und Katya immer tiefer in die Einöde von Alaska hineinfuhren, brachte Lucas Sascha zu Cruz.
„Ich könnte genauso gut selbst fahren“, stellte sie fest, nur um zu sehen, wie er reagieren würde.
Er sah sie mit zusammengekniffenen Augen an. „Willst du mich absichtlich ärgern?“
„Es gelingt mir offensichtlich.“ Sie lächelte. „Aber ernsthaft, Mr. Alphatier, die Schwangerschaft macht mich nicht zu einer Invalidin.“
„Behandle ich dich etwa so?“
„Nein.“ Das musste sie zugeben. Da Lucas mit einer Großbaustelle beschäftigt war, musste sie sich sogar noch mehr um die Angelegenheiten des Rudels kümmern als zuvor. „Aber du machst dich kaputt – ich hätte allein zu Cruz fahren können, meinetwegen in Begleitung eines Wächters. Dann hättest du dir heute Morgen die Änderungen in den Verträgen anschauen können.“
„Das kann ich auch tun, während du mit dem Jungen beschäftigt bist.“ Er nahm ihre Hand. „Ich werde meine Meinung nicht ändern, das weißt du doch.“
„Aber ich muss es wenigstens versuchen.“
„Warum? Um mich irre zu machen?“
„Nein, weil ich dich auf die Zeit mit dem Baby vorbereiten muss.“ Er war stets überbehütend. „Ein kleiner Leopard fühlt sich unter dauernder Bewachung nicht besonders wohl.“
Er seufzte tief. „Ich bin das Alphatier des Rudels. Glaubst du, ich weiß das nicht?“
Sie hüllte ihn auf der geistigen Ebene mit ihrer Liebe ein, ein unsichtbarer Kuss.
Auf seinem Gesicht erschien ein Lächeln, das sie auch noch in tausend Jahren lieben würde. „Sascha, Schätzchen, ich weiß, ich bin schrecklich, aber sieh’s mir nach. Ich versuche ja, loszulassen – unser Kind wird bestimmt genauso wild wie Roman und Julian, das verspreche ich dir.“
Sie musste lachen, als ihr all die Sachen einfielen, die die beiden Jungen anstellten, und warf Lucas eine Kusshand zu. „Als ich gestern bei ihnen war, wollten sie kein Wort mit mir reden.“
„Rome und Jules?“ Er war vollkommen überrascht. „Das ist kaum zu glauben – wenn sie älter wären, würden sie mit mir um dich kämpfen.“
„Tammy“ – die Mutter der Zwillinge – „meinte, sie schmollten, weil sie herausbekommen hätten, dass ich schwanger bin.“
„Ach so. Die Racker sind eifersüchtig.“
Sie nickte, und ihre Lippen verzogen sich zu einem Lächeln, die beiden Jungen hatten schon vom ersten Augenblick an Freude in ihr Leben gebracht. „Ich habe sie in den Arm genommen und ihnen erklärt, ich würde immer ihre Tante Sascha bleiben. Aber sie waren wohl erst wirklich davon überzeugt, als ich ihnen sagte, dass sie ja viel älter als das Baby seien … und darauf aufpassen könnten.“
„Sehr gewitzt.“ Er grinste. „Jules wird sicher ein dominantes Männchen. Auf jemanden aufzupassen, hat einen unwiderstehlichen Reiz für ihn.“
„Und Roman? Der war mindestens genauso begeistert.“
„Man kann es natürlich nicht mit Sicherheit sagen, aber ich glaube, er wird in Tammys Fußstapfen treten. Und für Heiler gibt es nichts Größeres, als auf andere aufzupassen.“
Sascha machte große Augen, Lucas hatte Recht. Roman besaß dieselbe ruhige Kraft wie seine Mutter, allerdings noch verdeckt unter seinem überschäumenden kindlichen Temperament. „Stammen Heiler oft aus derselben Familie?“
Lucas nickte. „Tammys Familie hat mindestens in jeder zweiten Generation einen. Bei der Familie meiner Mutter treten Heiler nicht ganz so oft auf. Und von Zeit zu Zeit taucht jemand völlig überraschend auf.“
Sascha wurde nachdenklich. „Weißt du, es könnte sein, dass Heiler dieselbe genetische Veranlagung haben wie M-Mediale. Über Tammys Familie weiß ich nichts, aber du hast mediale Vorfahren.“
„Möglich.“ Er nahm die Ausfahrt und sah sie an. „Was ist mit dem Jungen, mit Cruz? Kommt er mittlerweile zurecht?“
„Mehr als das.“ Sascha konnte ihren Stolz kaum verbergen. „Er ist wahnsinnig intelligent, Lucas. Wenn ich ihm einmal etwas zeige, macht es schnapp.“ Sie schnippte mit den Fingern. „Er ist ein Naturtalent.“
„Sehr gut. Je schneller er lernt, sich zu schützen, desto besser.“
„Machst du dir Sorgen wegen des Rats?“
Lucas nickte. „Dev glaubt zwar, dass Shine die Wahrheit über einige der besonders begabten Leute verschleiern konnte, aber er bat uns um besondere Vorsicht.“
„Kann ich ihm nicht verdenken“, sagte Sascha und spürte, wie Ärger in ihr aufstieg. „Nach dem, was sie mit Noor und Jon gemacht haben.“
„Wir sind beinahe da, Schätzchen.“ Er strich mit den Knöcheln seiner Hand über ihre Wange. „Hattest du nicht gesagt, Cruz brauche Stabilität?“
Sie nickte, holte tief Luft und fing an, ihre Gefühle langsam wieder zu ordnen. Etwas anderes machte ihr noch Sorgen. „Als wir Cruz das erste Mal besucht haben, habe ich auch Katya gespürt.“ Sie hatte versucht, sich fernzuhalten, aber ihre Fähigkeit war so sehr ein Teil von ihr, dass sie unweigerlich Gefühle von anderen mitempfand – besonders wenn sie so stark wie in diesem Fall waren. „Sie hält so viel zurück, es muss ihr körperliche Schmerzen bereiten.“
Lucas nahm sich Zeit für eine Antwort. „Sie ist sehr stark“, sagte er schließlich. „Ihr Wille ist hart wie Granit.“
„Dev ist auch sehr stark.“
Grüne Pantheraugen sahen sie an. „Das hast du auch gemerkt?“
„Der Funke zwischen ihnen ist schwer zu übersehen, aber …“
„Aber?“
Sie ließ den Kopf an die Kopfstütze fallen. „Ich habe Angst um sie, Lucas. Denn ganz egal, wie sehr ich es versuche, ich kann mir einfach nicht vorstellen, dass es ein glückliches Ende mit den beiden nimmt.“