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Die andere Seite der Zeit

Lass mich am Morgen hören deine Gnade;

denn ich hoffe auf dich.

Tu mir kund den Weg, den ich gehen soll;

denn mich verlangt nach dir.

Psalm 143,8

Dank Gottes Gnade und der liebenswürdigen Unterstützung eines uns bekannten Philanthropen im Ort wurden Bill, Peter, ich selbst, der Pastor unserer Familie sowie unsere geschätzten Freunde Dave und Ellen – die in ihrer beruflichen Laufbahn »zufällig« gerade den Punkt erreicht hatten, wo sie alles stehen und liegen lassen konnten, um unvermittelt aufzubrechen – am 21. Juni 2009 gegen Mitternacht in einer privaten Propellermaschine durch die tiefschwarze Nacht Richtung Maine geflogen.

Unsere Tochter Betsy, die gerade Freunde in Vermont besuchte, wurde von ihnen nach Fort Fairfield gefahren. Eliot blieb bei der Familie von Hilary. Nach einer unfassbaren Nacht erwarteten sie uns am Flughafen, als wir am frühen Morgen dort ankamen.

Willie war sofort tot, wurde also nicht ins Krankenhaus eingeliefert. Wir fuhren direkt zum Bestattungsunternehmen und verbrachten lange Morgenstunden damit, das Blut von seinem zerbrochenen Körper zu waschen, ihn mit unseren Tränen und unserer Liebe zu salben.

In dieser ganzen Zeit unvorstellbarer Trauer hielt Gott uns sanft, trug und liebte uns.

Wir besuchten den Unfallort, wo vielerlei Gefühle mich überwältigten, während wir ihn langsam untersuchten und jedes Detail verinnerlichten. Mein erster Eindruck war: Willie ist gar nicht da. Ich konnte keine innere Verbindung zu dem Ort herstellen, keine emotionale Reaktion empfinden.

Es schien, als habe hier einfach Willies Geist diese Welt verlassen. Dann kam mir der Gedanke, dass er für uns die beste Stelle ausgesucht hatte, denn sie war zugänglich, überschaubar und schön. Sein zerdrückter Körper war in einem Bereich mit blühenden wilden Alpenrosen gelandet, der Aussicht gewährte auf das Tal mit seinem gewundenen Flusslauf und den sanft ansteigenden grünen Hügeln.

Ich weiß nicht genau, warum das für mich wichtig ist, aber der Ort, wo Willie starb, war so bemerkenswert, wie man es sich nur wünschen konnte. Gott nahm unseren Sohn, doch da war kein »Sensenmann«. Ich glaube, er hat seinen sanftesten und liebevollsten Engel geschickt, um Willies Seele zu holen und ihn zum Himmel zu geleiten.

Die Tage in Fort Fairfield vergingen wie im Zeitlupentempo, mit einem deutlich veränderten Sinn für die Realität. Unser Glaube, unser Pastor und unsere Freunde leisteten Beistand und vermittelten jene ebenso entschiedenen wie einfühlsamen Unterweisungen, dank deren wir uns aufrecht halten konnten. Ohne diese Menschen und die uneingeschränkte innere Zustimmung, dass all unsere Leben Teil von Gottes umfassendem Plan sind, wäre es nahezu unmöglich gewesen, die Fahrt nach Maine und die nicht minder aufwühlende Heimreise mit Willies Asche zu ertragen.

In Maine waren wir vor Menschen und Telefonanrufen geschützt gewesen. Auf der Rückfahrt aber wuchs unsere Angst, was die nächsten Tage und Wochen bringen mochten. Wir hatten kein Bedürfnis, irgendjemanden zu sprechen oder zu sehen, und wollten einfach nur in unserer isolierten Welt des Schmerzes bleiben. Daher berührte es uns zutiefst, sofort nach der Ankunft durch die ebenso sorgsame wie mitfühlende Unterstützung von Freunden und Nachbarn aus dieser Welt herausgezogen zu werden: Sie hatten unsere vordere Veranda liebevoll mit blühenden Pflanzen geschmückt.

Willie schätzte deren Schönheit ganz besonders, war aber nie ein großer Anhänger von Schnittblumen, weil sie einem vergänglichen Zweck dienen – abgeschnitten und nur für kurze Zeit bewundert, werden sie schließlich weggeworfen wie Müll. Die Entscheidung unserer Nachbarn, hauptsächlich Topfpflanzen zu installieren, ehrte Willie und war für uns ein visuelles Zeichen ihrer Liebe.

Die Topfpflanzen nahmen mir förmlich das Versprechen ab, mit ihnen in der Woche darauf einen Garten anzulegen. Ich musste nur beschließen, an welcher Stelle das geschehen sollte. Unser Anwesen umfasst etwa zweieinhalb Hektar früheren Farmlands. Abgesehen von wilden Gräsern besteht die Vegetation lediglich aus Bäumen, Sträuchern und Flecken mit Ziergräsern, die wir beim Bau des Hauses zur gärtnerischen Gestaltung gepflanzt haben. Diese ist nicht allzu weit gediehen, aber ich habe es immer genossen, auf dem Grundstück herumzuwandern und die Flora zu studieren. Willie und ich teilten dieses Vergnügen oft und erfreuten uns an den vielen Veränderungen in Farbe, Form und Fülle der verschiedenen Gewächse, während die Natur die Zyklen ihrer Jahreszeiten durchlief.

In den Tagen nach unserer Rückkehr aus Maine waren diese Spaziergänge die einzige Tätigkeit, die meinem erschütterten und gebrochenen Geist ein wenig Ruhe bescherte. Dabei versuchte ich wieder einmal, in meinem Leben einen Sinn zu entdecken, überlegte, was ich beim Gedenkgottesdienst für meinen Sohn sagen würde, und prägte mir jeden Teil des Anwesens ein, um seinem blühenden Garten den richtigen Platz zu geben. Als ich eines Morgens an einer kleinen Gruppe von Weidenbäumen vorbeiging, sah ich mit großer Überraschung, dass der Bereich ringsum und zwischen ihnen mit leuchtenden dunkelrosa Blüten wilder Alpenrosen übersät war. Diese Blumen glichen in Farbe, Form und Erscheinung jenen auf dem Feld, wo Willie sein Leben gelassen hatte. Vor dem Besuch des Unfallortes waren sie mir nie aufgefallen – weder hier noch an einer anderen Stelle unseres Grundstücks.

Willie kannte die Geschichte der rosa Blüten an dem Birnbaum, die unmittelbar nach dem Tod meines Stiefvaters aufgetaucht waren. So wusste er auch, wie bedeutsam und ergreifend dieses Ereignis für meine Mutter und mich gewesen war. Außerdem hatte er das Gemälde mit dem Baum, das in meinem Badezimmer hängt, unzählige Male gesehen. Ich bin fest davon überzeugt, dass Willie uns an jenem Tag durch die Rosen eine Botschaft geschickt hat, die seine Wertschätzung, Liebe, Dankbarkeit zum Ausdruck brachte – und auch eine Entschuldigung dafür, dass er uns verlassen hat. Sicherlich erkannte er, dass dies eine der wenigen Kommunikationsformen war, die wir nicht in Zweifel ziehen würden.

Um die Geschichte des Birnbaums zu Ende zu erzählen, sei hinzugefügt, dass er nach fünf Jahren herrlichen Blühens plötzlich vom Blitz getroffen und zerstört wurde. Das war die Botschaft an meine Mutter, in ihrem Leben »ein neues Kapitel aufzuschlagen«. So frage ich mich, ob die wunderbaren Alpenrosen, die wir jetzt auf unserem Anwesen liebevoll hegen und pflegen, eines Tages ebenfalls verschwinden werden.

Einmal Himmel und zurück: Der wahre Bericht einer Ärztin über ihren Tod, den Himmel, die Engel und das Leben, das folgte
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