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Tod auf dem Fluss
Und ob ich schon wanderte im finstern Tal,
fürchte ich kein Unglück;
denn du bist bei mir,
dein Stecken und Stab trösten mich.
Psalm 23,4
Im Wildwasser wird ein Kajakfahrer sowohl durch die Spritzdecke als auch die beengte Sitzposition im Boot festgehalten. Die Spritzdecke ist eine Neoprenhülle, die sich um die Hüfte schmiegt, über den Rand der Luke gezogen wird und verhindert, dass Wasser ins Innere dringt. Am vorderen Ende der Spritzdecke befindet sich die sogenannte »Griffschlaufe«. Wenn es notwendig ist, das Boot zu verlassen, kann man daran ziehen, um die Spritzdecke von der Luke zu lösen und sich dann mit den Beinen aus dem Boot zu stoßen.
Als mir klar wurde, dass ich unterhalb des Wasserfalls eingeklemmt war, geriet ich nicht in Panik und schlug auch nicht um mich, sondern bot alle meine Kräfte auf, um mit Hilfe der üblichen Techniken aus dem Boot zu kommen. Immer wieder versuchte ich mit aller Kraft, die Griffschlaufe zu erreichen, aber die Macht des Wassers, die meine Arme nach vorn riss, war zu groß und mein Ansinnen lächerlich. Ich versuchte, die Fußruder zu betätigen, das Boot zu schaukeln. Ich dachte an meine Familie und versuchte verzweifelt, den Kopf aus dem Wasser zu heben und nach Luft zu schnappen. Doch schnell kam mir die Einsicht, dass ich über mein Leben und meine Zukunft nicht mehr bestimmen konnte.
In der Vergangenheit hatte Gott mich mehr als einmal gerettet, also wandte ich mich auch jetzt an ihn und bat um seinen göttlichen Eingriff. Ich forderte nicht meine Rettung. Ich wusste, dass er mich liebte und einen Plan für mich hatte. Ich bat nur darum, dass sein Wille geschehe. In dem Augenblick, da ich ihn anrief, überkam mich ein Gefühl von absoluter Ruhe und Frieden sowie die sehr körperliche Empfindung, in jemandes Armen gehalten, gestreichelt und getröstet zu werden. Ich fühlte mich, wie sich ein Säugling fühlen muss, wenn er an der Brust seiner Mutter gewiegt und liebkost wird. Außerdem war ich mir völlig sicher, dass ungeachtet des Ausgangs alles in Ordnung sein würde.
Ich dachte an meinen Mann und meine Kinder, an die Longs und an mein Leben auf der Erde. Ich besann mich auf meine Beziehung zu Gott. Ich war dankbar, dass er mich hielt, und bewunderte die physische Intensität dieses Gefühls. Mühelos erinnerte ich mich an ein lange vergessenes Gedicht, das im Haus einer Kindheitsfreundin an der Wand gehangen hatte. Bei jedem meiner Besuche hatte ich es geistesabwesend gelesen. Nun aber verstand ich die Worte. Es handelte sich um das Gedicht Footprints in the Sand (Fußabdrücke im Sand) von Carolyn Joyce Carty. Mittlerweile habe ich mehrere Kopien davon gerahmt und an die Wände meines Hauses und meines Büros gehängt. Fast jeden Tag lese ich diese Verse.
Obwohl ich fühlte, dass Gott anwesend war und mich hielt, war ich mir meiner Umgebung und meiner Notlage vollauf bewusst. Ich konnte die Strömung spüren, die an meinem Körper zerrte, und den Druck des Wassers, der auf mir lastete. Ich konnte zwar nichts sehen und hören, bemerkte aber alles, was rings um mich und in mir geschah. Ich war zufrieden und ruhig und bestaunte Gottes Gegenwart.
Als ich mich nicht mehr bemühte zu atmen, glaubte ich zu sterben. Die Gedanken kehrten zu meinem Mann und meinen Kindern zurück, und während ich noch überlegte, wie sie ohne Ehefrau und Mutter zurechtkämen, wurde mir auf tiefgründige Weise versichert, dass sie auch nach meinem Tod stets wohlauf wären.
Unter Wasser ausharrend, betrachtete ich mein Leben und analysierte es – seinen Verlauf, meine Entscheidungen, die Freuden und die Gewissensbisse. Ich ließ sämtliche Stationen Revue passieren. Schließlich fiel mir auf, wie sehr ich mich langweilte. Es ermüdete mich, nachzudenken und abzuwarten. Ich war bereit, die Reise fortzusetzen, was immer das bedeuten mochte.
In der Gewissheit, dass ungeachtet des Ausgangs alles in Ordnung sei, wurde ich ungeduldig und drängte Gott: »Beeil dich!«