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Gott schreit, wenn es nötig ist

Entweder sind wir im Begriff,

uns Gottes Wahrheit zu widersetzen,

oder im Begriff, durch seine Wahrheit

geformt und geprägt zu werden.

Charles Stanley

Im Sommer 1991 war ich neununddreißig Jahre alt, hatte einen Ehemann, einen Sohn namens Willie und stand kurz vor der Geburt unseres zweiten Sohnes, Eliot. Ich hatte zwölf Jahre Highschool absolviert, vier Jahre College, vier Jahre Medizinstudium, eineinhalb Jahre Ausbildung in allgemeiner Chirurgie, fünf Jahre Ausbildung in orthopädischer Chirurgie sowie eineinhalb Jahre Spezialausbildung in Unfall- und Wirbelsäulenchirurgie. Mental, emotional und professionell – ja auf jeder Ebene – war ich mehr als bereit, mein »wahres« Leben zu beginnen. Im Rahmen unserer schnell anwachsenden Familie hatte ich das Gefühl, meine eigenen Ziele setzen und über meine Zukunft selbst bestimmen zu können. Ich akzeptierte den Posten als Leiterin der Abteilung für Wirbelsäulenchirurgie an der University of Southern California, da ich die Lehre ebenso schätzte wie die Vielfalt der chirurgischen Fälle, die im universitären Bereich gang und gäbe sind.

Die Atmosphäre dort war aufregend, stimulierend und wohltuend für das Ego. Meine Stelle gewährte mir über mehrere Jahre ein hohes Maß an Befriedigung, und mein Leben schien auf vernünftige Weise ausgeglichen. Mit Hilfe von Dawn, unseres entzückenden, mit im Haus wohnenden Kindermädchens, die sich tagsüber um die Kleinen kümmerte, konnten Bill und ich unter der Woche ungehindert unseren Berufen nachgehen. An den Abenden und Wochenenden widmeten wir uns ausschließlich den Kindern und genossen jede Minute mit ihnen. Da wir am Meer wohnten, nahmen wir sie oft mit zum Strand oder zum Segeln. Wir grillten am Strand, besuchten Museen und brachten ihnen das Fahrradfahren bei. Bills Eltern, die in der Nähe wohnten, kamen regelmäßig vorbei, und die Kinder liebten sie. Übers Wochenende reisten wir oft mehrere Stunden zu unserer Blockhütte in den Bergen nördlich von Los Angeles. Dort fuhren wir Kajak, bauten Forts mit den Kindern, gingen schwimmen und entspannten uns einfach. Ich würde sagen, dass sie mit der Art und Weise, wie unser Familienleben sich entwickelte, überaus zufrieden waren.

In beruflicher Hinsicht war ich aufgefordert, zu unterrichten, meine praktischen Kenntnisse zu vertiefen, Forschung zu betreiben, wissenschaftliche Aufsätze zu veröffentlichen, an Sitzungen teilzunehmen und jeden Tag über zwei Stunden zwischen Wohnort und Universität zu pendeln. Mit den Jahren verlangten mir all diese Aufgaben einen immer höheren Tribut ab. Anstatt meine beste Zeit und Kraft dafür einzusetzen, meine Beziehung zu Gott sowie meine Ehe zu pflegen und meine Kinder noch intensiver zu fördern, überkam mich das Gefühl, dass die Arbeit den größten Teil meines Lebens beanspruchte.

Die Kinder entwickelten sich immer mehr zu den Menschen, die sie künftig sein würden, und ich wollte diesen Prozess nicht bloß aus der Ferne beobachten. Meine tägliche Pendlerfahrt ins Zentrum von Los Angeles hatte auch zur Folge, dass ich selten – und niemals kurzfristig – an ihren schulischen Aktivitäten teilnehmen konnte. Zugleich blieb mir kaum Zeit und Kraft, über die Rolle nachzudenken, die Gott in meinem Leben spielte, oder darüber, inwieweit es seinem Plan entsprach. Zwar hatte ich mich verpflichtet, Gott in meinem Denken, Fühlen und Tun einen Platz in der ersten Reihe einzuräumen, aber offenbar wurde ich diesem Anspruch nicht wirklich gerecht.

Meines Erachtens ist das eine Tatsache, vor der heute viele junge Leute und zumal junge Familien stehen. Mein Pastor hatte einmal geschrieben, und ich zitiere ihn hier frei: »Ständig werden wir bombardiert von anderen, die ein Stück von uns haben wollen – unsere Zeit, unsere Talente und Kräfte. Manchmal haben wir diese Forderungen einfach satt und empfinden dann Gottes Ruf nur als eine zusätzliche Belastung, wo wir uns doch bereits völlig überlastet fühlen.«

Ein weiteres Problem – zahlreiche Frauen werden es bestätigen – ist das der berufstätigen Mütter. Heute wird ihnen mitgeteilt, dass sie alles schaffen und zugleich wunderbare Ehefrauen, großartige Mütter und fabelhafte Menschen sein können. Sie haben sich eingeredet, dass sie »Superfrauen« sein können und sein sollen, und genau so müssten sie auch tatsächlich sein, um jede Aufgabe zu meistern.

Doch die Wirklichkeit besteht immer aus Kompromissen. Ein Tag hat nur vierundzwanzig Stunden, und die Frau muss zwischen beruflichen Pflichten, familiären Bedürfnissen und persönlichen Wünschen Prioritäten setzen, um herauszufinden, wo und wie sie Opfer bringt. Diese Wahl zu treffen ist schwierig, da sich das Gleichgewicht ständig verschiebt, während man von der einen Lebensphase in die andere übergeht. Ich denke, es ist ebenso wesentlich wie heilsam, solche Gewichtungen von Zeit zu Zeit zu überprüfen und nötigenfalls Änderungen vorzunehmen.

Im Frühjahr 1993, nach der Geburt unseres dritten Kindes Betsy, begann ich über den weiteren Verlauf meines Lebens nachzudenken. (Was sonst kann man in den langen Stunden des nächtlichen Stillens tun?) Bei meinen früheren Erfahrungen – dem Autounfall, den ich als Teenager überlebt hatte, meinem Dienst in der mexikanischen Krankenstation, dem Tauchgang in den Florida Springs, wo ich fast ertrunken wäre, und bei anderen Ereignissen – sah ich deutlich Gottes Fingerabdrücke und Einflussnahme. So beschäftigte mich erneut die Frage, ob ich tatsächlich in Einklang war mit Gottes Plan. Zwar gingen wir zur United Methodist Church, angezogen von dem dort nachdrücklich verkündeten Bekenntnis zu Menschenrechten, Gerechtigkeit, Umweltschutz und Frieden in der Welt, aber das schien mir nicht zu genügen. Das geistig-seelische Wohlergehen meiner Kinder hatte für mich obersten Vorrang, und deshalb sollten sie nicht nur Gottesdienste besuchen, sondern auch eine persönliche Verbindung zu einem lebendigen Gott eingehen und diese tagtäglich erfahren.

Mir wurde bewusst, dass mein Leben allmählich aus dem Gleichgewicht geriet. Einerseits kam ich zu der Überzeugung, dass mir die akademische Tätigkeit nicht den Freiraum ließ, um die gewünschten Prioritäten zu setzen, andererseits machte mir die profane Atmosphäre in der Universität immer mehr zu schaffen. Ich wollte die verschiedenen Aspekte meines Lebens nicht nur aufeinander abstimmen, sondern harmonisch miteinander verbinden. Meine geistige Sehnsucht passte nicht zu dem Verlangen nach Ehre, Macht und/oder Geld, das die meisten Mitglieder der Fakultät zu haben schienen.

Doch obwohl ich mich zunehmend isoliert fühlte, fiel es mir schwer, meine Stelle aufzugeben. Ich wusste, was ich in diesem Umfeld erwarten konnte, war mir aber nicht sicher, ob die Situation anderswo besser wäre. Wie für viele Menschen ist auch für mich eine bekannte Situation, wie lästig sie sein mag, oft angenehmer und leichter zu akzeptieren als die Angst vor dem Unbekannten.

Im Rückblick kann ich erkennen, in welcher Weise und wie häufig Gott mich gerufen und aufgefordert hat, die Richtung meines Lebens zu ändern. Da ich nicht auf ihn hörte, musste er schreien.

Weitere Chirurgen kamen an unsere Fakultät, wodurch die Arbeitsatmosphäre für mich noch weniger vereinbar war mit der Vision, die ich von meinem Leben hatte. Im Jahre 1996 stellte der Dekan einen Chirurgen ein, der meiner Abteilung zugeordnet wurde. Ich äußerte Zweifel hinsichtlich seiner Qualifikationen, aber der Dekan ließ sich durch dessen gute Referenzen irreführen. Der neue Mann, der kurz vor der Pensionierung stand, hatte einen eindrucksvollen Lebenslauf, doch ich fand ihn träge und langweilig. Wir passten überhaupt nicht zusammen, und ich sah mich kaum in der Lage, die notwendige Arbeitszeit mit ihm zu verbringen.

Bald danach verbrachten wir unsere Familienferien im nördlichen Michigan. Bills Großvater war professioneller Cellist, der jeden Sommer an der Interlochen Arts Academy unterrichtete, und so hatten während dieser Zeit auch Bills Mutter, er selbst und seine Brüder die Annehmlichkeiten der dortigen Gegend genossen. Um diese Tradition fortzusetzen, reisten Bill und ich mit seinen Eltern und unseren Kindern nach Interlochen, wo wir uns köstlich amüsierten, im See schwammen, Heidelbeeren pflückten, die Sanddünen hinunterrollten und oft zusammen lachten.

Eines Nachmittags machten wir unterwegs Halt, um die neu eröffnete Traverse City Pie Company zu besichtigen. Ich hatte herausgefunden, dass die Besitzerin namens Denise eine meiner Freundinnen auf der Highschool gewesen war. Wir beide gehörten damals dem Schwimmteam an, und sie teilte den christlichen Glauben meiner Familie. Während Bill mit den Kindern zum kleinen Landhaus zurückfuhr, blieben Denise und ich in der Sonne sitzen, um miteinander zu plaudern und Pastete zu essen. Wir schwelgten in Erinnerungen, erzählten uns Geschichten aus unserem Leben und redeten über viele Dinge, besonders über meine innige, auf der Highschool geknüpfte Verbindung zu Jesus Christus.

Nachdem Denise mich zurückgebracht hatte, sann ich über meinen liebevollen Ehemann nach, unsere prächtigen Kinder und über Peter, unser viertes Kind, das gerade in meinem Schoß Gestalt annahm. Ich dachte an mein Gespräch mit der Freundin und an meine brennende Sehnsucht, die verschiedenen Ebenen des Lebens wirklich in Einklang zu bringen. Offenbar hatte ich bisher viel über meine Spiritualität nachgegrübelt, über mein starkes Bedürfnis, Gott und die Familie ganz oben auf meine Prioritätenliste zu setzen, aber eher wenig dafür getan.

Dieser Teil der Geschichte kommt den meisten wahrscheinlich bekannt vor … Sie wissen, wovon ich spreche … Man denkt über einen bestimmten Aspekt nach, nimmt sich vor, ihn zu ändern, aber es funktioniert nicht, man versucht es erneut und scheitert abermals … So geht es immer weiter. Zu unser aller Glück ist Gott äußerst geduldig. Er hört nicht auf, uns zu rufen, ja schreit sogar, wenn es sein muss, und heißt uns dann stets willkommen, liebevoll, ohne zu urteilen.

Obwohl ich mich wie der verlorene Sohn fühlte, der um eine zusätzliche Chance bat, erneuerte ich in jenem Augenblick meine innere Verpflichtung, ein um Christus zentriertes Leben zu führen und den Erfordernissen meiner Familie Vorrang zu geben vor denen meines Berufes.

Ich hatte keine Ahnung, was dies für mich bedeutete, bis ich, nach Los Angeles zurückgekehrt, einer ungewöhnlich langweiligen Sitzung in meinem Fachbereich beiwohnte. Anstatt auf die monotone Tagesordnung zu achten, dachte ich über jedes anwesende Mitglied der Fakultät nach und vergegenwärtigte mir, was ich über sein Leben wusste. Im Gegensatz zum Dekan waren die meisten Männer geschieden, sie hatten Affären, tranken übermäßig viel, und ihre Kinder schlugen sich mit eigenen Problemen herum. Dann betrachtete ich mein Leben und gelangte zu dem Schluss, dass meine Zukunft nicht in dieser Atmosphäre stattfinden sollte.

Als ich an jenem Abend endgültig die Entscheidung traf, die Universität zu verlassen, ergriff mich ein Gefühl von Trauer und zugleich eine überschwängliche Freude. Ich wusste, dass mir der Abschied vom Dekan schwerfallen würde, weil ich großen Respekt vor ihm hatte, ihn sehr schätzte und daher nicht enttäuschen wollte. Doch die Vorstellung, von meinen beruflichen Zwängen frei zu sein, versetzte mich in Hochstimmung. Mit dem dringenden Wunsch, meine Stelle aufzugeben, rief ich am nächsten Morgen den Dekan an und fragte ihn, wie schnell ich von meinen Pflichten entbunden werden könne.

Ich verließ die Universität innerhalb eines Monats, schloss mich dem Orthopädenteam meines Mannes an und war Gott zutiefst dankbar, dass er mich anschrie, nachdem ich seine Rufe überhört hatte. Im Rückblick konnte ich die Reihe von Ereignissen und »Zufällen« erkennen, bei denen Gott mich immer eindringlicher gerufen und dadurch schließlich zu dieser Entscheidung gedrängt hatte.

Einmal Himmel und zurück: Der wahre Bericht einer Ärztin über ihren Tod, den Himmel, die Engel und das Leben, das folgte
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