22
Inspiration für andere
Ich danke dem Herrn von ganzem Herzen
und erzähle alle deine Wunder.
Ich freue mich und bin fröhlich in dir
und lobe deinen Namen, du Allerhöchster …
Psalm 9,2-3
Einige Monate später, als mein körperlicher Zustand sich gebessert hatte und mir etwas mehr Bewegung gestattete, wurde ich gebeten, in mehreren örtlichen Kirchen vor Gruppen zu sprechen. Es bestand großes Interesse an meiner Geschichte, und ich war beglückt, über die wundersamen Eingriffe Gottes in mein Leben zu berichten. Seitdem sind Teile dieser Geschichte von vielen Leuten bei ganz unterschiedlichen Gelegenheiten weitererzählt worden. Eine Tonaufnahme meiner ursprünglichen Schilderung zirkuliert bis zum heutigen Tag. Ich betrachte dieses ungebrochene Interesse als Beweis für die Sehnsucht der Menschen, sich durch die Möglichkeit eines göttlichen Eingriffs inspirieren zu lassen und daran zu glauben.
Oft ist es schwierig zu glauben, dass ein allmächtiger Gott sich um jeden Einzelnen kümmern oder die Bereitschaft aufbringen könnte, in unser Leben direkt einzugreifen. Ich bin Wissenschaftlerin. Ich verstehe Zahlen und Statistiken. Ich bin skeptisch und ein bisschen zynisch. Auf diesem Planeten gibt es so viele Geschöpfe Gottes, und jeder von uns ist so klein. Ich frage mich, wie irgendein Individuum im Vergleich zum Universum bedeutsam sein kann und wie Gott imstande sein soll, uns persönlich zu kennen, geschweige denn uns innig zu lieben und sich nötigenfalls für uns einzusetzen.
Ein Wissenschaftler kann die Zeit, den Raum und die Dimension Gottes ebenso wenig erklären wie die Änderungen, die darin stattfinden. Ich kann solche Vorgänge gewiss nicht begreifen, habe sie jedoch am eigenen Leib erfahren und akzeptiere daher, dass jeder von uns ein ganz besonderes und geschätztes Kind Gottes ist. Wir sind Menschen und besitzen nicht die Fähigkeit, Gott zu verstehen oder Einblick zu gewinnen in das, was er kann. Ein simples Beispiel soll dies verdeutlichen: Mangelt es einem Elternteil mit vielen Kindern je an Liebe? Schätzt er ein Kind weniger, nur weil er andere Kinder hat? Oder liebt er etwa jenes Kind, das ihn gelegentlich wütend macht, weniger? Die Antwort auf all diese hypothetischen Fragen lautet natürlich Nein.
Je mehr wir lieben, desto mehr Liebe haben wir zu geben. So verhält es sich auch mit der Liebe, die Gott uns entgegenbringt. Sie ist unerschöpflich.
Gott kennt zweifellos jeden von uns. Das Verb »kennen« ist hier in einem absoluten, vollkommenen und reinen Sinn gemeint: Wie eine Näherin ihr Kleid kennt, wenn sie aus den Samen die Baumwolle gezogen, die Fasern zu Fäden gesponnen, den Stoff gewebt und die Teile zusammengenäht hat, um ein Kleid zu schneidern. Oder wie ein Schreiner den Stuhl kennt, den er in Handarbeit aus einem Baum gefertigt hat, den er selbst gepflanzt, gehegt und schließlich gefällt hat. So kannte auch Gott jeden Menschen, bevor er ihn in den Leib seiner Mutter schickte.
Meine Schilderung inspirierte andere und gab ihnen nicht nur Hoffnung, sondern auch die Freiheit, ihre eigenen Geschichten zu erzählen. Ich weiß nicht, wie viele Leute inzwischen direkt oder telefonisch Kontakt mit mir aufgenommen und um einige Minuten meiner Zeit gebeten haben. Jede Person beginnt das Gespräch fast mit den gleichen Worten: »Ich möchte Ihnen etwas erzählen, das mir passiert ist … Ich habe noch nie mit jemandem darüber geredet, denn wahrscheinlich würde niemand mir glauben.« Dann berichtet sie mir von dem außergewöhnlichen Erlebnis, Engeln, anderen göttlichen Boten oder Geistern begegnet zu sein. Und jede fühlt sich nach ihren Ausführungen befreit und durch die Unterhaltung mit mir bestätigt.
Das menschliche Gehirn kann sich gut an bestimmte Ereignisse erinnern, oft aber nicht an genaue Details. Wenn man Leute bittet, ihre Hochzeit, die Geburt ihres Kindes oder eine andere wichtige Begebenheit in ihrem Leben zu beschreiben, sind einzelne Nuancen verblasst, und die Geschichte hat sich mit der Zeit wahrscheinlich ein wenig verändert. Denken Sie nur an die Erzählungen der Fischer, in denen der gefangene Fisch immer größer wird, oder an das altbekannte Spiel »Stille Post«, bei dem ein Satz von einem Ohr ins andere geflüstert wird. Die letzte Person in der Reihe spricht dann den Satz laut aus, der von seiner ursprünglichen Fassung oft stark abweicht. Selbst lebhafte Träume bleiben uns selten länger als ein paar Minuten im Gedächtnis.
Ich war Zeugin von Erfahrungsberichten mit wirklich bemerkenswerten und schlüssigen Aspekten, welche die Gegenwart oder den Eingriff Gottes beinhalten und selbst nach langen Zeiträumen unverändert bleiben. Wer eine derartige Erfahrung gemacht hat, erinnert sich stets deutlich und lebhaft an die Einzelheiten des Vorfalls wie auch an die dabei empfundenen Gefühle, als wären sie gerade erst aufgetaucht.
Bei fast jedem, der mit mir gesprochen hat, beginnt die Geschichte mit einer traumatischen Situation. Das ist durchaus einleuchtend, denn leider kommen solche intensiven spirituellen Verbindungen meist nur unter entsetzlichem Druck zustande. Meines Erachtens kann jeder im Grunde die gleiche Erfahrung machen wie ich damals, aber offenbar werden wir unter »normalen« Umständen zu sehr abgelenkt durch die Welt ringsum. Diese Zerstreuungen verschwinden jedoch schlagartig, sobald wir in einer äußerst bedrohlichen Lage sind; dann können wir genau das erkennen, was am wichtigsten ist: unsere Beziehung zu Gott.
Im Alltag ist es meist schwierig, Ablenkungen zu vermeiden und dadurch die Erfahrung mit Gott zu ermöglichen. Paul Hayden, mein Pastor, vergleicht dies mit den Frequenzen im Radio. Wir müssen unsere Seele auf die »richtige Frequenz« einstellen, um die Botschaften zu hören, die Gott uns sendet.
Als ich eines Tages so weit genesen war, dass ich in meine orthopädische Praxis zurückkehren konnte, erschien dort eine Frau, die ich kenne, die aber keinen Termin vereinbart hatte. Sie wusste, dass es mein arbeitsreichster Tag in der Woche war, bestand jedoch auf einem Gespräch. Um diesen Teil der Geschichte zu verstehen, muss man sich vergegenwärtigen, was wir zusammen erlebt haben. Denn kurz nach der Eröffnung meiner Praxis in Jackson Hole war der Mann dieser Frau zu mir gekommen, um sich behandeln zu lassen. Er unterzog sich einer größeren Operation, die ich ausführte und die keinerlei Komplikationen nach sich zog. Sein Genesungsprozess im Krankenhaus verlief reibungslos, er fühlte sich großartig, sodass ich am dritten Tag nach dem Eingriff seine Entlassung vorbereitete.
Ohne mein Wissen hatten mein Patient und seine Frau vor dieser Operation den Bischof der Latter-Day-Saints-Kirche aufgesucht und seinen Segen empfangen. Der Geistliche sagte zu der Frau, sie werde das aufgeben müssen, was sie am meisten liebe, und zu dem Mann, Gott sei sehr zufrieden mit ihm, der Schleier zwischen dieser Welt und der nächsten sei sehr dünn und er werde bald eine Wahl treffen müssen.
Vor der Operation hatten beide über ihre Deutung dieses Segens gesprochen und waren zu dem Schluss gelangt, der Ehemann müsse wählen zwischen dem weiteren Leben auf der Erde und dem körperlichen Tod. Als zutiefst gläubige Menschen wussten sie, dass er sich für Gott entscheiden würde.
Am vierten Tag nach dem Eingriff fiel mein Patient im Badezimmer plötzlich tot um. Später erzählte mir seine Frau, dass er an jenem Tag ständig mit Engeln gesprochen habe, die seinen Ausführungen zufolge bei ihnen im Zimmer saßen. Er fragte immer wieder, ob sie die Engel sehen könne, und war enttäuscht, als sie den Kopf schüttelte. Er versicherte ihr, wie sehr er sie liebe und als Ehefrau schätze, aber dass er nun die Engel begleiten müsse und sie, seine Frau, besuchen werde.
In Anbetracht dieser Umstände und der Tatsache, dass die Frau mehrere Stunden gefahren war, um mich zu treffen, konnte ich ihr die Bitte um eine kurze Unterredung nicht abschlagen. Wir gingen nach draußen, nahmen im Innenhof Platz, und sie entschuldigte sich mehrmals für die Unterbrechung meines Arbeitstages, hatte mir aber etwas höchst Wichtiges mitzuteilen. Sie war nämlich sehr besorgt, dass mir etwas Schlimmes widerfahren werde, weshalb sie mich unbedingt warnen müsse. Nach dem Tod ihres Mannes habe dessen Geist sie manchmal zu Hause besucht und ihr Anweisungen gegeben. Seit vielen Monaten habe sie ihn nicht mehr gesehen, doch letzte Nacht sei er ihr im Traum erschienen.
Bei diesem übernatürlichen Besuch war ihr Mann aufgeregt und glücklich. Er sagte zu ihr, dass ich in einen schrecklichen Unfall verwickelt gewesen sei und dass er den himmlischen Vater gefragt habe, ob er einer von denen sein könne, die zu meiner Rettung ausgesandt werden. Seine Bitte wurde erfüllt, und so war er überaus froh, mich auf meiner Reise zu begleiten und aufzumuntern. Die Frau hatte nichts gewusst von meinem Kajakunfall in Chile, konnte aber den Hergang, der nur den Anwesenden bekannt war, genau beschreiben. Nachdem sie ihre Ausführungen beendet und mich inständig gebeten hatte, vorsichtig zu sein, erzählte ich ihr die Geschichte meines Unfalls. Zwar war sie schockiert über die Vergangenheitsform, nicht jedoch über die Geschichte selbst, da ihr Mann viele Details darin schon genannt hatte.