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Ein Abenteuer in Chile
Auch weiß der Mensch nicht,
wann seine Stunde kommen wird.
Der Prediger Salomo 9,12
Im Januar 1999 ließen Bill und ich unsere Kinder in der Obhut des Kindermädchens und flogen aus dem herrlichen Winter in Wyoming dem wunderbaren chilenischen Sommer entgegen. Seit Peters Geburt war das unsere erste Reise zu zweit, und wir freuten uns auf ein großartiges Abenteuer. Wir landeten in Temuco, das etwa sieben Stunden südlich von Santiago liegt und ungefähr eine Stunde nördlich von unserem Zielort Pucón.
Pucón ist ein Ferienort am Ufer des tiefen und schönen Lago Villarica, im Schatten des 2840 Meter hohen Vulkans Villarica. Er liegt inmitten der Region IX Araukanien, des Lake District. Das ganze Gebiet ist übersät mit Vulkanen, deren Gletscher die zahlreichen Flüsse mit klarem, frischem Wasser versorgen, aus dem die Seen entstanden sind.
Wir teilten ein gemietetes Haus mit der Familie Long, die damals aus Tom und Debbi bestand, Kenneth, ihrem zwanzigjährigen Sohn, und dessen Frau Anne, dem achtzehnjährigen Chad sowie dem sechzehnjährigen Tren.
Mit Tom verbrachten wir eine aufregende Woche, während der wir Kajak fuhren und im Wildwasser spielten. Bill und ich waren bereits erfahrene Kajakfahrer, aber wir arbeiteten weiter an unseren Eskimorollen, unseren Techniken in reißendem, steil abfallendem Wasser, und paddelten durch mehrere knifflige Stromschnellen in atemberaubender Landschaft. Außerdem übten wir unser Spanisch ein, nahmen die einheimische Kultur in uns auf, begeisterten uns für den See, die Stadt und die traumhafte Umgebung. Die Abende vergingen mit Gesprächen vor einem hoch auflodernden Feuer, nachdem wir zunächst in die Stadt geschlendert waren, um Eis zu essen. Der Aufenthalt war äußerst erholsam, und so stellten wir betrübt fest, dass das Ende unserer Reise rasch näher rückte.
Wir machten Pläne für unseren letzten Tag, an dem wir auf dem Fuy Kajak fahren wollten. Tom, Kenneth, Chad, Anne, ein junger Chilene, der in diesem Sommer für die Longs arbeitete, und erstmals auch einige Amerikaner waren mit von der Partie.
Der Fuy ist ein Fluss in der südchilenischen Region Los Ríos, der auf der Nordseite des Pirihueico-Sees entspringt, seine gewundene Bahn durch die Ausläufer des Vulkans Choshuenco zieht, um sich dann mit dem Neltume zu verbinden und den Llanquihue zu bilden, der schließlich in den Gletschersee Panguipulli mündet. Wie schon gesagt, Bill und ich sind erfahrene Kanuten, die in den Vereinigten Staaten etliche reißende Flüsse gemeistert haben. Wir freuten uns auf die Abfahrt vom oberen Teil des Fuy, der für seine tropische Schönheit ebenso bekannt ist wie für seine stattliche Reihe von Wasserfällen mit einer Höhe zwischen drei und sechs Metern, die ein aufregendes Abenteuer versprachen, das zu bewältigen wir jedoch durchaus in der Lage waren.
Zunächst fuhren wir zu dem Dorf Choshuenco (625 Einwohner) nahe dem Ufer des Panguipulli, dann weiter zu der Stelle am Fluss, wo man die Kajaks bestieg. Eine abgeschiedene, kaum bewohnte Gegend, dichter Wald, keinerlei Infrastruktur. Wenn man einmal auf dem Fluss war, gab es keine Möglichkeit mehr, das Paddel ruhen zu lassen oder aus dem Wasser zu kommen. Nachdem Bill an jenem Morgen ziemlich unerwartet mit Rückenschmerzen aufgewacht war, beschloss er, auf die Kajakfahrt zu verzichten.
Obwohl es einer dieser typischen sonnigen und warmen chilenischen Tage war, hatte ich hinsichtlich des Ausflugs ein ungutes Gefühl. Da ich kein sehr geselliger Mensch bin, nahm ich an, mein unterschwelliges Unbehagen habe mit der Gruppe neuer Leute zu tun. Auch Anne fühlte sich – wie sie hinterher gestand – ziemlich unwohl, ohne genau zu wissen, warum. Vor Ort erklärte sie sich das so: Sie kannte den Fluss nicht wirklich, wir stiegen in die Boote später als geplant und waren in dieser Konstellation noch nie zusammen gefahren. Jedenfalls verspürte sie eine nicht näher bestimmbare innere Anspannung.
Bill setzte uns an der besagten Stelle ab, wo wir die anderen Amerikaner trafen, die scherzhafte Bemerkungen darüber machten, dass man mich leicht erkennen könne, weil ich anstatt der üblichen Paddeljacke in unauffälligerem Ton die leuchtend rote Trockenjacke meines Mannes trug. Die vor uns liegenden Wasserfälle riefen erwartungsgemäß eine gewisse Unruhe hervor angesichts möglicher »Bruchlandungen«, die einem das Rückgrat brechen konnten. Aber man befinde sich ja in guter Gesellschaft, hieß es, denn die Chirurgin sei sofort zur Stelle, um die Wirbelsäule wieder zusammenzuflicken. Als wir die Kajaks zu Wasser ließen, rief Chad meinem Mann zu: »Keine Sorge, wir bringen dir deine Frau heil zurück, und sie wird keinen Zentimeter kürzer sein.« (Damit meinte er humorvoll, dass meine Wirbelsäule durch keinerlei Sturz zusammengestaucht würde.) Kurz darauf fuhr Bill im Pick-up los, um ein sonniges Fleckchen zu suchen, wo er die Zeit mit Lesen verbringen würde. Am späteren Nachmittag wollte er uns bei der Anlegestelle abholen.
Als unsere Gruppe auf dem Fluss fuhr, schien zwischen den Kajakfahrern keine klare Ordnung zu bestehen, aber ich versuchte, jedem von ihnen so fern wie möglich zu bleiben. Da sie offenbar nur beschränkte Fähigkeiten und kein Gespür für Grenzen hatten, war ich zunehmend besorgt. Das verdrängte ich jedoch, denn das Wetter war schön, und die Wasserfälle vor uns versetzten mich in einen Zustand freudiger Erregung.
Schon bald näherten wir uns dem ersten höheren Gefälle und hielten an einer seichten Stelle inne, um zu besprechen, wie wir es angehen sollten. Auf der rechten Seite des Flusses war ein schmälerer Kanal und auf der linken ein breiterer Hauptkanal. Wir beschlossen, Ersteren zu benutzen, weil er keine Windungen aufwies und besser einzuschätzen war. Eine reißende Strömung schoss über das mittlere, extrem steile Gefälle, unterhalb dessen heftige Wirbel tobten.
Die erste Fahrerin steuerte den Kanal auf der rechten Seite an, näherte sich ihm aber zu sehr mit der Breitseite, sodass ihr Kajak zwischen zwei große Felsblöcke neben dem Gefälle geschleudert wurde. Obwohl dort zunächst eingeklemmt, konnte sie sich befreien und schließlich in den Bereich ruhigeren Gewässers hinabtreiben. Ich hatte bereits die seichte Stelle verlassen, konnte jedoch die Vorwärtsbewegung nicht stoppen, als ich auf ihren Kajak zufuhr, der die gewählte Route blockierte, und paddelte notgedrungen weiter nach links.
Als ich meinen Weg fortsetzte, schoss plötzlich jene Kajakerin, die hinter mir war und die ich zu meiden versucht hatte, an mir vorbei. Sie drehte sich um die eigene Achse und fuhr dann rückwärts über das zentrale Gefälle. Ich ahnte nicht, dass ihr Boot unterhalb davon zwischen Felsen steckenblieb. Wie ich später erfuhr, gelang es ihr, auszusteigen und zu einem Felsen im ruhigeren Gewässer zu schwimmen. Jedenfalls hatte ich in solch misslicher Lage nur wenige Optionen und paddelte einfach weiter. Sobald ich zum höchsten Punkt des Wasserfalls aufstieg, sah ich das Unheil kommen und wusste, dass ich ein Problem haben würde. Ein großes Problem.
Durch diesen Kanal flossen enorme Mengen Wasser, die das Wasser unten in eine chaotisch wilde Bewegung versetzten. Die aufgepeitschten Wellen erzeugten einen gewaltigen Sog, aus dem es keinen Ausweg gab. Ich holte tief Luft und stürzte den Wasserfall hinunter – und hinein in das, was ein großes Abenteuer werden sollte.
Trotz der Masse und der Wucht des herabschießenden Wassers bestand keine Hoffnung, dass es den Kajak der anderen Fahrerin wegspülen würde. So tauchte der meine unter den Rumpf und wurde zwischen ihm und den Felsen in der Tiefe eingekeilt. Sofort umschloss mich die reißende Flut. Ich saß aufrecht im Boot, konnte aber dem Wasserfall ebenso wenig entrinnen wie dem Kajak über mir. Ich kam mir vor wie eine Stoffpuppe. Mein Oberkörper wurde auf das Vorderdeck geschleudert, die Arme wurden hilflos flussabwärts gezogen.
Chad trieb den Hauptkanal entlang. Das Wasser dort war so tief, dass er beim Überqueren des Gefälles nichts sah und spürte und über die beiden Boote unter Wasser (also auch über mich) hinwegfuhr. Anne wiederum paddelte in den Kanal rechts, stieß gegen den feststeckenden Kajak, der sich durch den Aufprall löste, und erreichte ruhigeres Gewässer.
Unten angekommen, bemerkten Chad und Anne die erste Fahrerin, die im Wasser schwamm, und ihr Boot, das aus dem rechten Kanal trieb. Dann sahen sie überrascht eine zweite Schwimmerin – ihr Boot befand sich über dem meinen –, konnten dieses aber natürlich nicht sofort lokalisieren.
Rasch paddelte Chad zu einer seichten Stelle, um die Situation besser beurteilen zu können. Er erblickte also die erste Fahrerin, deren Kajak infolge des Zusammenstoßes mit Annes Kajak fortgerissen worden war und nun am Ufer lag. Außerdem entdeckte er die zweite Fahrerin, die in der Mitte des Flusses auf einem Felsen saß, nicht aber ihr Boot. Erst bei genauerer Beobachtung erspähte er dessen rote Farbe unter der Wasseroberfläche des Hauptkanals.
Zu jenem Zeitpunkt war es für Anne und Chad schwer, den Verbleib jedes Teilnehmers zu klären, denn unsere Gruppe war geteilt. Einige befanden sich unterhalb des Gefälles, andere oberhalb. Es dauerte einige Minuten, in denen die Anwesenden mehrmals abgezählt wurden, bis Anne überzeugt war, dass sowohl ich als auch mein Boot fehlten. Mit Notfallsituationen vertraut, setzte sie ihre Stoppuhr in Gang.