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Schreibzwang
Deine Ohren werden hinter dir
das Wort hören: »Dies ist der Weg; den geht!
Sonst weder zur Rechten noch zur Linken!«
Jesaja 30,21
Unser Haus ist voller Leben, geprägt von hektischer Betriebsamkeit. Jeder von uns hat verschiedene Interessen und Projekte, wodurch der Alltag aufregend, abwechslungsreich und befriedigend ist, wenn auch nicht immer vorhersehbar. Im Frühjahr 2009 hatte ich das Gefühl, den zahlreichen Erwartungen, die Gott in Bezug auf mein Leben hegt, entsprochen zu haben, und war mit mir im Reinen. Mein Mann erfreute sich bester Gesundheit, unsere drei jüngeren Kinder waren rege und glücklich und entwickelten sich zu wunderbaren Menschen. Und auch Willie, unser ältestes Kind, blühte förmlich auf.
In der Phase nach seinem achtzehnten Geburtstag führte er ein fröhliches, wenngleich ungestümes Leben. Er hatte eine großartige Saison im Skilanglauf, gewann seine siebte und achte Meisterschaft im Bundesstaat Wyoming (ein Rekord, der ihm einen Artikel in der Zeitschrift Sports Illustrated unter der Rubrik »Faces in the Crowd« [Gesichter in der Menge] eintrug). Außerdem erweiterte er die von ihm gegründete, dem Gemeinwohl dienende Umweltorganisation, um sein Programm »Gegen die Untätigkeit« durchzusetzen, und gewann dafür die Unterstützung vieler örtlicher Unternehmen. Er war fest davon überzeugt: Indem man Leute dazu ermuntert, eine bewusste, umweltgerechte Entscheidung zu treffen – beispielsweise im Stau den Automotor auszuschalten –, werden sie auch über ihre anderen Entscheidungen genauer nachdenken. Selbst kleine Entscheidungen können in ihrer Gesamtheit einen Unterschied bewirken. Er glaubte, jeder von uns sei eine »winzige Welle der Hoffnung«, wie Robert Kennedy es 1966 in seiner Rede an der Universität von Kapstadt, Südafrika, formuliert hatte:
Es sind die unzähligen Akte der Hoffnung und des Glaubens, welche die Menschheitsgeschichte prägen. Jedes Mal, wenn ein Mensch für ein Ideal eintritt oder handelt, um das Los der anderen zu verbessern, oder die Ungerechtigkeit bekämpft, sendet er eine winzige Welle der Hoffnung aus; diese Wellen, aus einer Million verschiedener Zentren der Energie und des Wagemuts hervorgegangen, überlagern sich und bilden zusammen einen Strom, der die mächtigsten Mauern der Unterdrückung und des Widerstands niederreißen kann.
Willie war fasziniert vom politischen Prozess, den er als ein Mittel zum gesellschaftlichen Wandel betrachtete. 2008 wurde er, erst achtzehn Jahre alt, von den Mitgliedern unserer Gemeinde zu einem der Delegierten von Wyoming gewählt und zur Versammlung der Demokratischen Partei in Denver, Colorado, entsandt. Seine Aufrichtigkeit, seine Energie und sein nie versiegender Strom von Ideen im Sinne einer verantwortungsbewussten Lebensweise und friedlicheren Welt waren in hohem Maße ansteckend. Er arbeitete leidenschaftlich daran, die bestehenden Verhältnisse zu ändern, und inspirierte jene in seiner Nähe, Probleme in Angriff zu nehmen, sich zu engagieren und dabei zu besseren Menschen zu werden. Es spielte für ihn keine Rolle, was den Einzelnen umtreibt; er wollte einfach, dass die Leute zur Tat schreiten und einen Unterschied bewirken. Ich bewunderte seine Leidenschaft und hätte von dem Mann, zu dem Willie sich entwickelte, nicht entzückter sein können.
Trotz meiner durchaus berechtigten Zufriedenheit war mir klar, dass ich zumindest noch eine große Aufgabe zu bewältigen hatte, bevor ich wirklich gelöst in Gottes Gegenwart ruhen konnte: Ich sollte meine Lebensgeschichte durch das gesprochene und das geschriebene Wort mit anderen teilen. Die zahlreichen Erfahrungen meines Lebens, meines Todes und meiner Rückkehr ins Leben waren mir zuteilgeworden, damit ich Menschen helfe, nicht mehr zu zweifeln und einfach zu glauben – nämlich dass das geistige Leben wichtiger ist als das körperliche; dass Gott in unserem Dasein und unserer Welt gegenwärtig und am Werk ist; dass jeder von uns ein wunderbarer Teil der äußerst vielschichtigen Schöpfung ist; und dass es so etwas wie »Zufall« nicht gibt.
Ich wusste schon, was ich tun sollte, hatte jedoch nicht den Wunsch, es zu tun.
In den Jahren nach meinem Kajakunfall befolgte ich mühelos Gottes Anweisung, stets frohgemut zu sein, unaufhörlich zu beten und in allen Situationen Dankbarkeit zu zeigen. Meine Erfahrungen mit Gott waren in jedem Atemzug spürbar (ich nannte sogar mein neues Fahrrad »Lebensatem«). Nie hörte ich auf, für die Segnungen zu danken, die ich empfangen hatte; aber ich war nicht in der Stimmung, darüber zu schreiben. So verstärkte sich das Schuldgefühl, dass ich meine Aufgabe nicht erfüllte, sie eher als Pflicht denn als Privileg ansah und den Erwartungen, die Gott mir gegenüber zu hegen schien, nicht gerecht werden konnte. Der Druck, meine Geschichte niederzuschreiben, wurde immer größer, doch ich verbannte dieses Projekt ans Ende der Liste mit Dingen, die ich erledigen musste oder wollte … die Garage aufräumen, die nicht mehr benutzten Kleidungsstücke aus dem Schrank herausnehmen, die Weihnachtskarten rechtzeitig verschicken, mit meiner eigenen Familie häufiger in Verbindung treten, die Fotos in die Alben kleben usw.
Da ich zum Zaudern neige, ging mein Leben wie gewohnt weiter, bis ich schließlich im Frühjahr 2009 während der frühen Morgenstunden ziemlich unerwartet von dem übermächtigen Drang geweckt wurde, meine Geschichte in Worte zu fassen. Er verzehrte mich völlig. Jeden Morgen sprang ich dann um vier oder fünf Uhr (die einzigen Stunden, in denen ich ungestört schreiben konnte) aus dem Bett und wunderte mich, wie mühelos die Worte aus mir heraus und auf den Bildschirm des Computers flossen. Mehrere Stunden lang schrieb ich fieberhaft, um anschließend die routinemäßigen Tätigkeiten zu verrichten und die Familie auf Schule und Arbeit vorzubereiten. Innerhalb einer Woche war der erste Entwurf beendet. Ich fühlte mich ausgelaugt, feilte aber noch an einigen Passagen, ehe die Motivation mir dann erneut abhanden kam.
Es war für meine Familie eine ereignisreiche Phase, weshalb ich das Manuskript einige Monate vernachlässigte und mich voll und ganz auf die üblichen Aktivitäten konzentrierte. Peter beendete gerade sein zweites Jahr auf der Übergangsschule für die Zwölf- bis Dreizehnjährigen, Betsy ihr erstes Jahr auf der Mittelstufe, und Eliot dachte über seine Studienfächer nach, während er die Abschlussprüfung an der Highschool vorbereitete. Willie lebte vorübergehend in Washington, D.C., und genoss all das, was die Stadt zu bieten hat. Bill und ich arbeiteten weiter in unserer orthopädischen Praxis und versuchten, die Zeitpläne aller Familienmitglieder miteinander in Einklang zu bringen.
Willie beendete seinen Aufenthalt in Washington und kehrte nach Wyoming zurück, um Eliots Abschlussprüfung am 29. Mai 2009 mit uns zu feiern.
Am darauffolgenden Wochenende würden die Brüder Jackson Hole verlassen, um ihr nächstes Abenteuer zu beginnen, nämlich quer durchs Land zu fahren, dann im nördlichen Maine zusammenzuwohnen und sechs Monate lang am Skitraining des Maine Winter Sports Club teilzunehmen.
Am Tag vor ihrer Abreise stellte Willie mir allgemeine Fragen zum Testament. Er wollte wissen, wer es aufsetzt, welche Gründe dafür sprechen und ob er das seine machen solle. Außerdem war er brennend daran interessiert, ob ich für ihn eine Lebensversicherung abgeschlossen hätte und – auf meine Mitteilung hin, derlei sei mir nie in den Sinn gekommen – wie ich dies nachholen könne. Er ließ mir wirklich keine Ruhe damit. Obwohl es mich seltsam berührte, eine solche Unterhaltung mit einem kerngesunden Neunzehnjährigen zu führen, versicherte ich ihm, mich darum zu kümmern.
Ich bin innerlich ausgeglichen und habe mich nie besonders aufgeregt, wenn eines meiner Kinder ein neues Projekt begann oder sich in ein Abenteuer stürzte. Ich habe mich immer für sie gefreut und gewusst, dass wir ungeachtet der Umstände in Verbindung bleiben würden. Doch an diesem Morgen, als meine beiden Jungs nach Maine aufbrachen, war es anders. Willies Subaru war bis oben hin vollgeladen mit dem größten Teil ihrer weltlichen Habe, und als ich beobachtete, wie sie ihre letzten Vorbereitungen trafen, stiegen mir Tränen in die Augen. Ich weiß nicht genau, warum, aber es erinnerte mich an den Moment, als ich Willie zu seiner ersten Vorschulklasse brachte. An jenem Tag, der jetzt in ein anderes Leben zu gehören scheint, gab er mir einen Kuss, wandte sich dann selbstbewusst von mir ab und betrat das Klassenzimmer. Während ich ihn seiner Zukunft entgegenschreiten sah, überwältigte mich die symbolische Bedeutung dieser Szene, und ich war derart erschüttert, dass ich fast auf dem ganzen Heimweg weinte.
Beim Abschied versicherte ich ihnen immer wieder, wie sehr ich sie liebe, forderte sie auf, vorsichtig zu fahren, mich von unterwegs anzurufen … eben das zu tun, was Mütter in solchen Augenblicken gemeinhin empfehlen. Während der Umarmung brach ich in Tränen aus und konnte meine Söhne fast nicht loslassen. Ich erinnere mich, Willie ein bisschen länger als üblich gehalten, ihm direkt in die Augen geschaut und noch einmal bekräftigt zu haben, wie innig ich ihn liebe und was für ein außergewöhnlicher junger Mann er geworden war. Ich sagte zu beiden, wie stolz Bill und ich auf sie seien und welch großartiges Abenteuer sie zusammen erleben würden.
Sie fuhren los, und obwohl ich dann jeden Tag mehrmals mit ihnen telefonierte, fühlte ich mich äußerst unwohl. Vielleicht wartete ich beklommen auf eine Zukunft, die ich bereits vorhergesehen hatte.