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Heimkehr
Denn ich bin gewiss, dass weder Tod noch Leben,
weder Engel noch Fürstentümer noch Gewalten,
weder Gegenwärtiges noch Zukünftiges,
weder Hohes noch Tiefes
noch keine andere Kreatur
kann uns scheiden von der Liebe Gottes.
Römer 8,38-39
Die Strömung war stark und zog mir Helm und Schwimmweste weg, ehe sie nach meinem Körper zu greifen begann. Ich saß weiterhin im Boot, die Beine ausgestreckt unter dem Vorderdeck. Von der Taille aufwärts wurde ich durch die Gewalt des Wassers auf das Vorderdeck gedrückt, wo auch die Arme lagen. Während die Strömung mich aus dem Boot zu zerren versuchte, verharrte ich also in gekrümmter Haltung, was für meine Hüften, die es gewohnt sind, sich in diese Richtung zu bewegen, kein Problem war. Aber die Knie mussten sich nach innen drehen und gegeneinanderpressen, um meinen Körper zu befreien.
Dieser Prozess, bei dem ich hellwach und der mir völlig bewusst war, ging relativ langsam vonstatten. Es mag makaber klingen, aber aus der Perspektive einer Orthopädin war ich regelrecht fasziniert, zu spüren, wie die Knochen im Knie brachen und die Bänder rissen. Ich versuchte, meine Empfindungen zu analysieren und genau herauszufinden, welche Teile des Bewegungsapparats betroffen waren. Offenbar fühlte ich keinen Schmerz, fragte mich aber, ob ich schrie, ohne es zu merken. Schnell überprüfte ich meine Reaktionen und kam zu dem Schluss: Nein, ich schrie nicht und verspürte wirklich keinerlei Schmerz. Seltsamerweise befand ich mich in einem glückseligen Zustand. Das ist eine bemerkenswerte Aussage, zumal angesichts der Tatsache, dass ich immer schreckliche Angst vor dem Ertrinken hatte.
Während mein Körper immer weiter aus dem Boot gezogen wurde, war mir, als würde sich meine Seele allmählich vom Körper lösen. Schließlich kam er frei, und die Strömung riss ihn mit sich fort. Das war die letzte Empfindung, die ich in Bezug auf meinen Körper hatte. Ich erinnere mich nicht daran, über den Grund des Flusses zu schrammen, gegen Chad zu stoßen oder ans Ufer gezogen zu werden.
In dem Augenblick, da der Körper hin und her gewirbelt wurde, spürte ich einen »Ruck«. Es schien, als hätte ich endlich meine schwere äußere Schicht abgeschüttelt und meine Seele befreit. Ich erhob mich, durchdrang die Wasseroberfläche, stieg aus dem Fluss. Sogleich begegnete ich einer Gruppe von fünfzehn bis zwanzig Seelen (menschliche Geistwesen, von Gott gesandt), die mich mit solch überschwänglicher Freude begrüßten, wie ich sie noch nie erlebt hatte und mir nie hätte vorstellen können. Es war eine pure Freude auf tiefster Ebene.
Die Seelen bildeten eine Art Empfangskomitee – oder eine große Wolke von Zeugen, die in Hebräer 12,1 beschrieben wird: »Darum auch wir, weil wir eine solche Wolke von Zeugen um uns haben, lasset uns ablegen alles, was uns beschwert … und lasset uns laufen mit Geduld in dem Kampf, der uns verordnet ist …« Das Empfangskomitee schien mich stürmisch anzufeuern, während ich mich der »Ziellinie« näherte.
Obwohl ich nicht alle geistigen Wesen beim Namen nennen konnte (wie zum Beispiel Paul, meinen toten Großvater, Mrs. Sivits, meine alte Babysitterin, Steven, meinen früheren Nachbarn, oder einige andere Personen aus der Vergangenheit), kannte ich doch jedes von ihnen gut, gewiss, dass sie von Gott kamen und mir schon seit Ewigkeiten vertraut waren. Ich gehörte zu ihnen und wusste, dass sie gesandt wurden, um mich durch die Zeiten und Dimensionen zu führen, die unsere Welt von Gottes Welt trennen. Außerdem war mir insgeheim bewusst, dass ihre Aufgabe nicht nur darin bestand, mich zu begrüßen und zu leiten, sondern mir auf meiner Reise beizustehen.
Sie erschienen als gestaltete Formen, aber nicht mit den deutlichen Umrissen unserer irdischen Körper. Ihre Umrisse waren verwischt, da jedes Geistwesen einen strahlenden Glanz verbreitete. Ihre Gegenwart erfüllte all meine Sinne, so als könnte ich sie alle gleichzeitig sehen, hören, riechen, schmecken und fühlen. Ihr Gleißen blendete mich, verlieh mir gleichzeitig aber auch Kraft. Wir redeten nicht mit unseren Mündern, sondern kommunizierten auf eine ganz ursprüngliche Weise, indem wir uns simultan Gedanken und Gefühle übermittelten und uns auch ohne Sprache vollkommen verstanden.
Gottes Wort ist sicherlich nicht auf eine einzige Sprache beschränkt, und so wurde mir eine neue Einsicht bezüglich der biblischen Beschreibung des Pfingstwunders zuteil. In der Apostelgeschichte 2,5-6 heißt es nämlich: »Es waren aber Juden zu Jerusalem wohnend, die waren gottesfürchtige Männer aus allerlei Volk, das unter dem Himmel ist. Da nun diese Stimme geschah, kam die Menge zusammen und wurde bestürzt; denn ein jeder hörte sie in seiner eigenen Sprache sprechen.«
Jetzt begreife ich, wie dies geschehen konnte. Gott braucht keine verbale Sprache, um mit uns zu kommunizieren.
Meine Ankunft wurde fröhlich gefeiert, und während diese Geistwesen und ich uns begrüßten, umarmten und tanzten, herrschte ein Gefühl absoluter Liebe vor. Intensität, Tiefe und Reinheit dieser Wahrnehmungen und Empfindungen waren viel ausgeprägter, als ich es jemals mit Worten ausdrücken könnte – und als alles, was ich auf der Erde bisher erlebt habe.
Verstehen Sie mich nicht falsch … Ich bin in meinem Leben über die Maßen gesegnet worden und habe große Liebe und Freude erfahren. Ich liebe meinen Mann genauso innig wie jedes meiner Kinder, und diese Liebe wird erwidert. Nur ist Gottes Welt unendlich viel farbiger und beeindruckender. Es war, als würde ich eine Explosion der Liebe und der Freude in völlig reiner Form erleben. Um den Unterschied zu verdeutlichen, fällt mir unter den irdischen Dingen nur das Fernsehen ein. Vergleicht man das alte, mit einer Kathodenstrahlröhre ausgestattete Gerät mit dem neuen mit HD-Qualität, so sind hier die Bilder auf fast schmerzliche Weise schärfer, klarer und leuchtender. Das Gleiche trifft auf jene Bilder zu, die ich im Beisein der Geistwesen wahrnahm.
Trotzdem kann ich nicht angemessen beschreiben, was ich sah und fühlte. Wenn ich heute den Versuch unternehme, über meine Erlebnisse zu berichten, wirkt die Schilderung äußerst blass – als würde ich in der dreidimensionalen Welt eine Erfahrung in der vierten Dimension erklären wollen. In unserer gegenwärtigen Sprache gibt es dafür keine geeigneten Begriffe und Formulierungen. Als ich später die Berichte von anderen Leuten über Nahtoderfahrungen und ihre Darstellungen des Himmels las, entdeckte ich darin ähnliche Begrenzungen hinsichtlich des Vokabulars wie in meinen Ausführungen.
In seinem Buch Fast Lane to Heaven (Schnellstraße zum Himmel) schreibt Ned Dougherty über die eigene Nahtoderfahrung: »Plötzlich wurde ich von diesem glänzenden goldenen Licht umhüllt. Es war glänzender als das Licht der Sonne, ja um ein Vielfaches stärker und strahlender als die Sonne selbst. Dennoch blendete oder verbrannte es mich nicht. Stattdessen war das Licht eine Energiequelle, die mein Wesen umströmte.«
Wahrscheinlich erscheint seine Beschreibung ebenso wie die meine jedem Menschen, der diese Art von Erfahrung nicht gemacht hat, einfach unsinnig, aber sie kommt jener wundersamen Wirklichkeit ziemlich nah.
Selbst die Schriftsteller der Bibel hatten Mühe, ihre Begegnung mit Gottes Engel in Worte zu fassen. Matthäus schilderte sie folgendermaßen: »Und seine Erscheinung war wie der Blitz und sein Kleid weiß wie Schnee« (Matthäus 28,3).
Daniel wiederum notierte: »Und am vierundzwanzigsten Tage des ersten Monats war ich an dem großen Strom Tigris und hob meine Augen auf und sah, und siehe, da stand ein Mann, der hatte leinene Kleider an und einen goldenen Gürtel um seine Lenden. Sein Leib war wie ein Türkis, sein Antlitz sah aus wie ein Blitz, seine Augen wie feurige Fackeln, seine Arme und Füße wie helles, glattes Kupfer, und seine Rede war wie ein großes Brausen« (Daniel 10,4-6).
Meine Gefährten und ich waren im Begriff, einen Weg entlangzugleiten, wohlwissend, dass er heimwärts führen würde – in das ewige Zuhause. Wir kehrten zurück zu Gott und waren sehr aufgeregt. Die anderen konnten ihre grenzenlose Begeisterung kaum für sich behalten, erpicht darauf, meine Rückkehr anzukündigen und dieses Ereignis mit sämtlichen Bewohnern des Himmels zu feiern.
Während ich die Schönheit ringsum in mich einsog und mit meinen Gefährten die Freude auskostete, spähte ich zurück auf die Szene am Flussufer. Mein Körper sah aus wie die Hülle einer zufriedenen alten Freundin, der gegenüber ich tiefes Mitgefühl empfand – und Dankbarkeit dafür, dass ich sie hatte benutzen dürfen.
Ich betrachtete Tom und seine Söhne, die furchtbar traurig und verletzlich wirkten. Ich hörte, wie sie mich riefen und anflehten, einen Atemzug zu machen. Ich liebte sie und ertrug es nicht, sie in solcher Verzweiflung zu sehen. Also bat ich meine himmlischen Gefährten, ein wenig zu warten, derweil ich in meinen Körper zurückkehrte, mich hinlegte und einen Atemzug tat. Im Glauben, dass dies genüge, verließ ich den Körper wieder und setzte meine Heimreise fort.
Wir schwebten einen Weg entlang, der zu einer großartigen, lichtdurchfluteten Halle führte, weiträumiger und prächtiger als alles, was ich mir auf der Erde vorstellen kann. Ihr Glanz erstrahlte in allen Farben von unfassbarer Schönheit. Wenn Menschen über ihre Nahtoderfahrungen berichten, »das weiße Licht zu sehen« oder »dem weißen Licht zuzustreben«, meinen sie damit wohl ihre Annäherung an den Glanz dieser Halle. Unser Vokabular reicht einfach nicht aus, um solch eine Erfahrung auf verständliche Weise zu beschreiben. Vielleicht sprach Jesus deshalb oft in Gleichnissen.
Ich spürte, wie meine Seele zum Eingang gezogen wurde, nahm den strahlenden Glanz in mich auf und fühlte jene reine, vollkommene und unbedingte Liebe, die von der Halle ausströmte. Das war die verlockendste und herrlichste Erfahrung, die ich je gemacht habe.
Für mich bestand keinerlei Zweifel daran, dass dieser Eingang gleichsam die letzte Abzweigung des Lebens darstellte, das Tor, das jeder Mensch passieren muss. Offensichtlich war die Halle der Ort, wo jedem von uns die Möglichkeit gegeben wird, das eigene Leben und die getroffenen Entscheidungen noch einmal in Betracht zu ziehen, wo wir alle die letzte Chance erhalten, entweder Gott zu wählen oder uns für immer von ihm abzuwenden. Ich war bereit, die Halle zu betreten, erfüllt von der brennenden Sehnsucht, mit Gott wieder vereint zu werden.
Davon hielt mich jedoch ein beachtliches Hindernis ab: Tom Long und seine Söhne gaben mir immer wieder Zeichen. Jedes Mal, wenn sie mich baten, zurückzukommen und einen Atemzug zu machen, fühlte ich mich gezwungen, genau das zu tun, ehe ich mich dann erneut meiner Reise widmete. Ihr wiederholtes Rufen ermüdete, ja irritierte mich ziemlich. Ich wusste zwar, dass sie nicht begriffen, was da gerade geschah, war aber verstimmt, weil sie mich nicht loslassen wollten. Mein Unmut ähnelte dem einer Mutter, deren kleines Kind vor dem Schlafengehen ständig nach etwas anderem verlangt: eine weitere Gutenachtgeschichte, ein Glas Wasser, noch einen Kuss, das Licht soll unbedingt ein- oder ausgeschaltet, das Deckbett erneut aufgeschüttelt werden …
Wir erreichten den Eingang der Halle, und ich sah die vielen Geistwesen im Innern, die geschäftig hin und her eilten. Als wir uns näherten, wandten sie sich uns zu und übermittelten uns ihr tiefes Mitgefühl, ihre große Liebe.
Doch bevor wir hineingehen konnten, überkam meine geistigen Gefährten urplötzlich ein Gefühl von Trauer und Schmerz, und die Atmosphäre wurde bedrückend. Sie erklärten mir, dass für mich der Moment noch nicht gekommen sei, die Halle zu betreten; ich hätte meine Reise auf Erden noch nicht beendet, müsse weitere Aufgaben erledigen und daher in meinen Körper zurückkehren.
Ich protestierte, aber sie nannten mehrere Gründe, die für meine Rückkehr sprachen, und fügten hinzu, ich würde bald weitere Informationen erhalten.
Wir teilten unsere Trauer, als sie mich zum Flussufer zurückbrachten. Ich nahm Platz in meinem Körper und warf diesen himmlischen Wesen, diesen Menschen, die herbeigekommen waren, um mich zu führen, zu beschützen und anzufeuern, einen letzten sehnsüchtigen Blick zu, ehe ich mich ausstreckte und mit meiner Hülle wieder vereint wurde.