56
Kernkraftwerk Borgo
Sabotino,
Freitag, 19. September, 06:10 Uhr
Die Angst ist stärker als der Schmerz. Mancini windet sich mit letzter Kraft vor dem Mörder, der ihn beobachtet.
»Du bist schwach, mein Freund.«
»Ich bin nicht dein Freund!«, schreit Mancini. Plötzlich ist sein linker Knöchel von der Fessel befreit.
»Ich kenne dich.«
»Was sagst du?«
»Vor sechzehn Monaten, im Gemelli-Krankenhaus. Ich war mit meiner Mutter zu einer Untersuchung bei Carnevali. Du warst mit Marisa dort.«
Mancini traut seinen Ohren nicht. Hände und Beine halten mitten in der Bewegung inne.
»Du warst im Arztzimmer, bei deiner allerersten Beratung. Die Tür war nur angelehnt und ich habe gehört, wie Carnevali dir die übliche Geschichte präsentiert hat, von Therapien, Chancen und so weiter. Immer dieselbe Leier. Wir standen fast am Ende, ihr dagegen … am Anfang. Du warst verzweifelt, das konnte ich an deinem Gesicht ablesen. Und verliebt. Ein Polizist, ein gewichtiger Mann, sagte mir ein Pfleger. Zu Hause fing ich an zu recherchieren, ich war schon immer gut im Umgang mit Computern. Die Experten bei der Abteilung für Computer- und Internetkriminalität könnten dir ein Lied davon singen.«
»Ich kenne dich nicht.«
»Nach Mamas Tod und meinem Unfall«, er deutet auf seine Beine, »beschloss ich, dass du derjenige sein solltest, mit dem ich all das hier teilen würde.«
»All diese Toten? Der Tod ist für dich etwas, das man teilt?«
»Die Gerechtigkeit, Enrico. Die Gerechtigkeit. Du warst der Einzige, der würdig war, mich zu finden und mir zu Gerechtigkeit zu verhelfen.«
»Zu was für einer Gerechtigkeit? Und wie?«
»Indem du alles bezeugst. Ich wollte dich. Ich wusste, dass du mich finden würdest. Uns beide quält derselbe Schmerz. Ich habe gesehen, wie du geweint hast an jenem Tag, als deine Frau zur Untersuchung bei Carnevali im Arztzimmer war. Ich habe dich auf ihrer Beerdigung beten sehen. Und dann an ihrem Grab in Prima Porta.«
»Woher weißt du …?«
Die Bilder setzen sich zusammen, zu einem riesigen Puzzle in Schwarz-Weiß, ähnlich den Terrazzoplatten im Polizeipräsidium. Die Untersuchungen, die Spezialisten, die Reisen ins Ausland und die traurige Rückkehr zu Carnevali. Die Zimmer, die Betten, die Kirche, die Blumen, der Sarg. Die Tränen.
Der Schatten tritt einen Schritt vor und stellt sich in das Licht, das durch das kleine Fenster fällt.
»Erkennst du mich?«
»Nein! Nein!«
Doch, er erkennt ihn. Kahl. Groß. Mehr ein flüchtiger Eindruck als ein Bild. Er saß neben ihm und Marisa. Dieses vollkommen glatte Gesicht, sogar ohne Augenbrauen. Die Baseballkappe. Das weite Sweatshirt. ICH KANN ALLEM WIDERSTEHEN AUSSER DER VERSUCHUNG. Das kann nicht er sein.
O Gott, er hatte recht gehabt: Die Kranke neben ihm war seine Mutter gewesen!
Oscar liest die Antwort an der Bestürzung seines Gegenübers ab. »Du erinnerst dich? Wenigstens du. Sehr gut, Commissario.«
Das Zitat auf dem Sweatshirt: von Oscar Wilde. Oscar. In diesem kleinen, düsteren Moment wird Mancini alles klar, schließt sich vor seinen Augen ein Kreis.
»Um Gottes willen, Oscar!«
Wieder dieser Name. Niemand ruft ihn mehr bei seinem Namen. Niemand ruft mehr nach ihm. Er ist allein. Getroffen verlagert er das Gewicht auf das andere Bein und entfernt sich von dem Tisch mit dem leblosen Körper des Arztes.
»Lassen Sie Gott aus dem Spiel. Es gibt keinen Gott, Commissario. Ich und du, wir haben den Beweis dafür, dass er nicht existiert: den Krebs. Nein, es gibt keinen Gott, der uns von unserem Leid erlösen könnte. Keine Religion kann den Schmerz eines Sohnes lindern, das ein Elternteil an den Krebs verliert. Schmerz, das ist nicht nur ein Wort. Er hat einen Körper, einen Namen, eine Gestalt. Es gibt keine Hoffnung, wenn du siehst, wie deine Mutter von bösartigen Zellen angefallen wird, die sie Stunde für Stunde von innen auffressen. Bis zum letzten Atemzug.«
Mancinis linke Hand gleitet aus der Schlinge, bleibt jedoch auf Höhe der Gelenke hängen. Ein paar Sekunden noch. »Ich habe ihn verpasst … ihren letzten Atemzug.«
Der Schatten schweigt, starrt ihn an. Mancini lässt den Kopf auf die Brust sinken, die Tränen brechen sich Bahn, er kann nichts dagegen tun. Er muss herausschwemmen, was er seit Monaten in sich trägt. Er muss es tun, in diesem Moment, muss vor diesem Ungeheuer alles beichten.
»Ich habe geglaubt, sie würde es schaffen. Sie hat mir selbst gesagt, dass ich fahren soll. Dass sie sich gut fühlt. Dass wir uns wiedersehen. Drei Tage später rief mich das Krankenhaus an: Ich solle zurückkommen. Ich habe es versucht, habe den nächstmöglichen Flug genommen, am darauffolgenden Tag. So viele Stunden, habe ich mir gesagt, ich werde es nicht schaffen.«
»Du hast es nicht geschafft.«
»Nein.«
»Du musst nicht weinen, denn du hast dich gerettet. Ich war dabei, Enrico, ich habe den Todeskampf beobachtet. Glaub mir, wenn ich ihm nicht in die Augen gesehen hätte, wäre ich nicht der geworden, der ich jetzt bin. Der Schatten des Todes.«
Mancini starrt das Gesicht gegenüber an. Er versucht, zumindest ansatzweise die Gefühle zu verstehen, den Hass und die Liebe, die diesen Mann dazu getrieben haben, sechs Menschen umzubringen.
Auch Oscar senkt den Kopf und lässt den Tränen freien Lauf. Er schluchzt: »Ich wollte das hier alles nicht. Aber dieses Ding … Ich konnte dieses Ding in meinem Kopf nicht löschen.«
»Was?«
»Die Bestie!«, schreit er. Jetzt kniet er.
Mancini kann ihm kaum folgen, spürt, dass er gleich ohnmächtig wird, driftet träge ab.
»Ich habe sie gesehen, Commissario. Ein gemartertes Tier.« Der Killer schaut auf das Display, Mancini folgt seinem Blick. Es ist 06:55.
»Was genau war da?«
»Auf dem Bett. Meine Mutter, Commissario. Vor Schmerzen gekrümmt. Ein seelenloses Tier. Meine Mutter, Commissario. Diese Augen. Ihre Augen. Sie verdrehten sich. Verschwanden hinter den Lidern, als ihr Rücken sich aufbäumte. Ich dachte, es würde sie zerreißen.«
Mancini lässt den Kopf sinken. »O Gott, tu mir das nicht an.«
»Es hörte nicht mehr auf. Ich rief nach ihr. Rief ganz laut nach ihr. Aber es hörte nicht auf. Ihr Arm verdrehte sich, ich dachte, er würde brechen. Dann der Rücken, die Augen. Und der Mund, Commissario, ihr Mund. Gott, warum? Warum?« Er ballt die Fäuste und starrt an die Decke, als wäre über ihnen nichts als der Himmel.
Ein, zwei, drei Blitze schlagen rund um den Nuklearreaktor ein, gleich darauf explodiert eine Reihe von Donnerschlägen laut dröhnend in der Luft über dem kleinen Gebäude.
»Ich …« Seine Zunge ist schwer, die Worte, die er formulieren will, ersterben dort.
»Ich habe den Tod gesehen. Als alles erlosch. Ich habe den Tod gesehen, sein Gesicht war verzerrt vom Todeskampf jedes einzelnen Lebewesens hier auf diesem Planeten. Allen anderen gleich. Du, Enrico, leidest, weil sie dir fehlt. Du vermisst das gemeinsame Leben, die Hoffnung auf eure Zukunft. Ich empfinde Hass wegen all dieser Dinge, aber ich lebe mit dem Gespenst des Todes. Es gibt keinen Tag, an dem ich nicht schon beim Aufstehen jedes Detail dieses Geschehens durchlebe. Jede Zuckung ihres Körpers. Ich bin davon besessen. Und weißt du auch, warum? Weil ich es nicht glauben kann. Dass es passiert ist. Weil jede Zelle meines Körpers sich nicht an die Vorstellung gewöhnen kann, das sei ganz natürlich. Es gibt nicht Natürliches am Tod. Es ist nichts Natürliches daran, wenn du miterleben musst, wie ein geliebter Mensch stirbt. Die Frau, die dir das Leben geschenkt hat, dich geliebt hat wie eine Mutter, aber auch wie Vater, Bruder und Schwester, die du nie hattest. Wenn Gott sterben kann, welcher Sinn liegt darin? Ist es wirklich das, was das Universum will?«
Mancini schüttelt ungläubig den Kopf. Die Hände zu Stein erstarrt, resigniert. Das Gesicht tränenüberströmt.
»Ich kenne das Universum, ich beobachte es, verstehe es, sehe jede einzelne der unablässigen Bewegungen seiner Sterne voraus. Galaxien verschwinden, verlöschen, verwandeln sich in andere gasförmige Lebensformen. Nur den Tod begreife ich nicht, Commissario. Er ergibt keinen Sinn. Es gibt keine Gerechtigkeit. Außer meiner eigenen. Kein Verbrechen darf ungesühnt bleiben. Also habe ich meinen Plan ersonnen, habe die Hinweise so platziert, dass … du mich am Ende finden würdest. Kein Verbrechen darf der Gerechtigkeit entkommen. Kein Mensch darf das. Das ist nicht fair, das war nicht fair, und ich habe sie alle bestraft. Einen nach dem anderen. Die Frau, die sie misshandelt hat. Schade, dass sie so schnell gestorben ist, als ich ihr meine Hand um den Hals gelegt hatte. Der eine hat einen fatalen Fehler gemacht, der andere hat versucht, sie zu betrügen, indem er ihr ein Leben im Jenseits versprochen hat.«
Enrico Mancini hat die Gestalt des Mönches vor Augen, am Fleischhaken aufgehängt. Ihm scheint, als schwanke er hin und her wie ein Pendel. Sein Blick trübt sich.
»Jeden Abend ist er gekommen, um ihr vor dem Einschlafen die Sakramente zu verabreichen. Was glauben Sie, wie sie sich wohl gefühlt hat vor diesem Diener Gottes? Wie eine Verurteilte, die auf ihre Hinrichtung wartet. Er kam jeden Abend und jeden Morgen, mit diesem unter dem Bart verborgenen, immer gleichen Lächeln, das er für jeden parat hielt. Glücklich, dass er sie an der Hand auf die andere Seite führen würde, wie er sagte. Auch er hat dafür bezahlt. Zusammen mit diesem Anästhesisten, der sie zur ohnmächtigen Zuschauerin der eigenen Qualen verdammt hat. Zusammen mit der Frau, die sie gedemütigt hat, indem sie ihr ihre Weiblichkeit absprach, und schließlich jenem Mann, der nicht in der Lage war, uns auch nur einen Tag der Hoffnung zu schenken.«
Verächtlich blickt der Schatten zu Carnevali.
»Ich sehe sie ganz deutlich vor mir, Enrico«, fährt Oscar nach einem Moment der Stille fort. »Diese Augen. Ihre Augen waren so groß, so stark, so schwarz. Und dann dieser Ausdruck auf ihrem ausgezehrten Gesicht. Er lässt sich nicht in Worte fassen. Ist es nicht schrecklich, so zu sterben? So ungerecht, so …«
Der Satz bleibt unvollendet in der verbrauchten Luft hängen, eine unwirkliche Stille erfüllt den Raum zwischen ihnen, ehe wieder das laute Grollen eines Donners zu ihnen dringt.
»Meine Mutter wusste, dass die Krankheit sie töten würde, aber sie tat, als wäre es nicht so. Sie wollte leben, ich sehe ihre Augen immer noch vor mir.«
Wieder unterbricht er sich, ein Schluchzen erstickt seine Worte. Gleich darauf rüttelt das Piepen des Digitalweckers die betäubten Sinne des Commissario wach.
»Es ist Zeit.«
Der Schatten richtet den Blick auf das Display. Mancini dreht sich um und sieht es, rot blinkt es vor ihm auf: »Es ist 07:05, genau wie vor einem Jahr, der letzte der Tode Gottes wird uns von diesem Albtraum befreien.«
Mancini zittert. Ist es Fieber oder Angst? Er schlägt mit den Lidern im binarischen Rhythmus seines Tics. Jetzt ist er an der Reihe. Hände, Beine, Leib gehorchen ihm nicht, er bringt nur zwei Worte hervor, frei von Verzweiflung oder Angst: »Warum ich?«
Aber wovor fürchtet er sich eigentlich? Er wird Marisa wiedersehen. Vielleicht.
»Du?« Das finstere Echo des Vokals hallt durch den Raum.
»Was habe ich dir getan? Ich kannte deine Mutter ja nicht einmal.«
Oscar sieht ihn ungläubig an und antwortet: »Nicht du, mein Freund. Der letzte der Tode Gottes wird nicht deiner sein.«
Als er schweigt, die Augen fast geschlossen, bemerkt Mancini, dass Oscar schwitzt. Sein Gesicht und der kahle Schädel sind schweißgebadet. Genau wie die Arme. Er kann zunehmend scharf sehen, erkennt, dass auch die grüne Hose nasse Flecken aufweist. Und da ist auch wieder dieser andere Geruch, neben dem Doxorubincin liegt noch etwas anderes in der Luft, das stechender riecht, das ihm in den Kopf kriecht, während alles um ihn herum sich zu drehen beginnt und das Schwindelgefühl ihn überwältigt.
Ehe er jedoch das Bewusstsein verlieren kann, geschieht etwas, was er nie mehr vergessen wird.
Der Mörder sechs unschuldiger Menschen, der vor ihm kniet, legt die Hände auf eine dünne Schlammspur. Mit eingezogenem Kopf. Wieder ist da dieses künstliche, perfekte Lächeln, Schrecken und Liebe vereint, Tränen. Was passiert hier? Mancini reißt die Augen auf, die Luft ist dünn geworden. Atmet, bis die Lungen gefüllt sind. Der Schatten flüstert etwas Unverständliches: »Ver …«
»Was?«, schreit der Commissario verzweifelt, seine linke Hand gleitet aus der Fessel. Ruft er nach ihm?
»Ver …«, die Stimme des knienden Mannes ist jetzt lauter, von Schluchzern erfüllt.
»Was?« Mancini schüttelte den Kopf, muss unbedingt auch die andere Hand freibekommen.
Der Mörder hebt die Schultern und löst die Hände vom Boden. Hebt den Kopf, reckt das Kinn, den Blick zum Himmel gerichtet, und schreit mit einer Kraft, die er direkt aus der Erde bezieht. Mitten aus einem namenlosen Schmerz.
»Verflucht!« Oscars Brust hebt sich und schleudert wieder und wieder die Worte »Verfluchter, Verfluchter« laut gegen die Decke. Die Fäuste sind jetzt nach oben gereckt und prügeln ohnmächtig auf die Luft ein. Er steckt eine Hand in die Tasche und zieht einen weißen Gegenstand hervor. Starrt Mancini direkt in die Augen. Führt das Feuerzeug an seine Kleidung und löst mit einer schnellen Bewegung den Funken aus. Gleich darauf fallen die Flammen über seinen Körper her, verbrennen und durchdringen die Kleidung, die Haut. Der wilde Schrei kommt direkt aus der Brust, scheint die Flammen zu nähren.
»Verfluchter.« Oscar steht regungslos mitten im Raum und schreit dieses einzige erschreckende Wort gen Himmel. Mancini befreit hektisch die andere Hand und das linke Bein.
Aus dem Kern der Leere erhebt sich ein Jammern, ein Stöhnen, ein Lied, das aus tiefster Kehle kommt.
Der Mörder wird von den Flammen verzehrt, als der Commissario endlich das Seil abstreift. Er stürzt sich auf die brennende Masse, landet auf ihr, drückt sie zu Boden. Hände, Finger, Handflächen, Rücken, alles brennt. Sogar die Nägel werfen Blasen, die Haut ist gebläht. Er kämpft gegen die Flammen an und gegen den Körper des Killers.
Schafft es nicht.
»Nein! Neeein!« Oscar schreit, als beide auf dem schlammigen Dreck in die dunkelste Ecke rollen. Dann sind da nur noch Stille, der Geruch von verbranntem Fleisch und ein letztes Stöhnen.
Es ist 07:11 Uhr, als ein Hustenanfall Enrico Mancini weckt. Er brennt innerlich. Der Schlamm hat ihn gerettet. Der Schlamm und sein alter Trenchcoat. Oscars Körper liegt neben ihm, auf dem Rücken, der Blick funkelnd vor Zorn. Mancini stößt sich mit den Händen ab, erhebt sich über den anderen Körper. Das Gesicht rot vor Blut und schwarz vom Rauch. Er beugt sich langsam über Oscar, legt ihm ein Ohr auf die Brust, auf der Suche nach einem Lebensfunken.
»Warum?« Das Stöhnen überrascht ihn in dieser zweiten Umarmung.
Mancini löst sich von dem Körper und blickt auf seine Hände. Nackt und bloß, verbrannt, schlammverkrustet. Ja genau, warum hat er das getan? Er dreht sich auf die Seite, will sich aufsetzen, aber dann spürt er unter sich einen Gegenstand. Schaut hin. Die Perücke und die Handschuhe sind verbrannt.
Deswegen.