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Rom, Dienstag, 9. September, 14:00 Uhr
»Woran ist sie gestorben, Antonio?« Mancini überflog zerstreut die beiden Seiten des Computerausdrucks.
»Gute Frage. Kann ich dir im Moment noch nicht sagen. Tut mir leid. Mehr als das hier habe ich nicht.«
Gutachten Nr.346: Obduktion, durchgeführt von Dr. Antonio Rocchi am Leichnam von Nora O’Donnell, geboren am 05.03.71 in Cork, Irland.
[…] Der Leichnam weist zwei Schwellungen auf, eine in Höhe des Nackens und eine an der rechten Schläfe. Der Mund wurde mittels eines transparenten Nylonfadens mit sieben Stichen durch die Lippen zugenäht. In der Mundhöhle wurde die Zunge an der Wurzel ausgerissen. Die Leiche wurde an allen behaarten Stellen rasiert – Kopf, Scham, Achseln, Wimpern und Augenbrauen. In Anbetracht der Präzision, mit der sowohl der schmale Längsschnitt vom Schambein bis zum Kinnansatz als auch der tiefe Schnitt von rechts nach links von der Leber bis zur Milz auf Höhe des Nabels durchgeführt wurden, wurden die Wunden vermutlich mit einer sehr scharfen, aber leichten Schnittwaffe zugefügt. Die inneren Organe – Leber, Pankreas, Gallenblase, Dünn- und Dickdarm sowie der Zwölffingerdarm – wurden mit großer Präzision aus dem Körper geschnitten, wenn auch nicht von geübter Chirurgenhand. Beide Schnitte wurden vernäht, sodass der Leichnam […]
»Ich brauche mehr«, unterbrach Mancini seine Lektüre. Er kaute heftig auf seinem Kaugummi herum, der die Luft mit scharfem Zimtgeruch erfüllte, und blickte vom Obduktionsbericht auf.
»Wir können mittlerweile verschiedene Dinge ausschließen.« Rocchis Lächeln entblößte einen abgebrochenen Schneidezahn in der oberen Reihe, und seine schwarze Lesebrille war ein Stück den Nasenrücken hinuntergerutscht. »Es wurde keine sexuelle Gewalt ausgeübt, außerdem weist die Leiche keine Kampfspuren auf, es gibt keine Hämatome oder Abschürfungen in Folge eines Sturzes oder eines Handgemenges, zum Beispiel aufgrund eines versuchten Diebstahls.«
»Okay, aber was gibt es Auffälliges? Algor? Livor? Rigor?«
»Bei meinem Eintreffen, das war um 7:40 Uhr, habe ich sofort rektal die Körpertemperatur ermittelt. Der algor mortis lag bei 28,7° C.«
»Wie lange war sie tot?«
»Ungefähr neun Stunden. Der rigor mortis scheint dies zu bestätigen.«
»Und wie sieht es mit der Hypostase des Leichnams aus?«, fragte Mancini.
»Was die livores mortis angeht, so scheint die Lippenfarbe von Nora O’Donnell, die ins Hellbraune ging, meine Hypothese zu stützen.«
»Totenflecken?«
»Ja, sicher. Während der Obduktion habe ich zweierlei Verfärbungen unterschiedlicher Ausprägung bemerkt. Das Blut hat sich schwerkraftbedingt durch das Gewebe nach unten abgesetzt.«
»Die Veranlagung zum Abstieg …«, flüsterte Mancini und schloss dabei unmerklich die Lider.
»Was?«
»Ach, nichts. Das habe ich irgendwo gelesen.«
Rocchi musterte Mancinis Gesicht in Sekundenschnelle von oben bis unten. Was er sah, gefiel ihm nicht. »Hey, sollen wir eine Pause machen?«
Mancini durchfuhr plötzlich eine Art Schauder, zumindest kam es Rocchi so vor, doch dann hob er den Kopf, als wäre er aus einem Albtraum erwacht. »Also bestätigen die Totenflecken, dass sie post mortem bewegt wurde?«
»Ja, genau«, antwortete Rocchi. »Zuerst hat sich das Blut auf der rechten Seite abgesetzt, auf die sie wahrscheinlich direkt nach dem Tod gelegt wurde. Dann am Rücken. Das war die Position, in der die Leiche gefunden wurde.«
»Jetzt müsste man nur noch wissen, wie sie dahin gekommen ist.«
»Was meinst du?«
»Zwischen dem EUR, wo sie zum letzten Mal lebendig gesehen wurde, und San Paolo, wo sie tot aufgefunden wurde, liegen in etwa vier Kilometer. Und zwischen dem Verschwinden der Frau und dem Auffinden ihrer Leiche sind acht oder neun Stunden vergangen …«, sagte der Commissario nachdenklich. Dann sah er auf. »Ich muss noch zu dem See. War das alles?«
»Bis jetzt ja. Bei der ersten Untersuchung fällt vor allem eins auf: dass, wer auch immer sie umgebracht hat, so reißerisch wie in einem billigen Thriller vorgegangen ist. Sie wurde wie ein Tier aufgebrochen …«
»Das klingt vielleicht makaber, aber alles in allem handelt es sich doch um das normale Werk eines verrückten Kriminellen«, unterbrach Mancini ihn. »Und dann?«
»Dann hat er sie wieder zugemacht.«
»Das habe ich gelesen …«
»Er hat zuerst den Längsschnitt durchgeführt und erst danach den Querschnitt, mit dem er ihren Bauch geöffnet hat. Dabei ist er ziemlich präzise vorgegangen, aber auf der vertikalen Schnittlinie sind ein paar Punkte zu sehen, kleine Bereiche …«
Mancini schluckte trocken, das Blut rauschte in seinen Ohren. »Das sind doch vermutlich die Stellen, an denen die Nadel oder was auch immer die Haut durchbohrt hat, oder?«
»Ja, aber … Vielleicht sollte ich dir das besser zeigen, lass uns mal nach drüben gehen.« Rocchi zeigte in Richtung Autopsiesaal, stand auf und ging voran.
Mancini rührte sich nicht. Er war nicht zum ersten Mal in einer solchen Situation oder an diesem Ort. Und er hatte bereits Dutzende toter Menschen gesehen, verstümmelte, verbrannte, ertrunkene, ohne jemals auch nur mit der Wimper zu zucken. Der Tod ist die natürlichste Sache der Welt und jedem Lebewesen auf dieser Erde beschieden, hatte ihm sein Vater von Kindesbeinen an eingeschärft. Aber warum war er dann in diesem Moment wie gelähmt?
Der Gerichtsmediziner prüfte mit einem Blick über die Schulter, ob der Commissario ihm folgte, doch der brachte nur zwei leise Worte hervor: »Lieber nicht.«
»Aber …«
»Ich kann nicht. Es tut mir leid. Ich schaff das einfach nicht.«
Im gleichen Moment kramte Mancinis Gehirn eine entlegene Erinnerung hervor. Sie dachte, sie wäre allein im Haus, stand vor dem Spiegel. Der nackte Oberkörper. Die Narbe an der linken Brust. Er hatte sie nur überraschen wollen, war aber wie gelähmt stehen geblieben, hatte sich mit den Blumen in der Hand und einem eingefrorenen Lächeln auf dem Gesicht im Spiegelbild gesehen. Marisa hatte sich bedeckt, als hätte er sie noch nie nackt gesehen, als wären sie nicht intim miteinander. Und da hatte Mancini begriffen, dass die Krankheit sie verändert hatte. Bei der Operation war ihr nicht nur ein Stück Haut und Gewebe entfernt worden, sondern auch ein Teil ihrer Weiblichkeit, ihrer Identität.
Rocchi kam zurück. »Ich versteh schon, Enrico.«
»Das bleibt unter uns, okay?«
»Natürlich, mach dir keine Gedanken. Aber es gibt da etwas, das du dir ansehen musst.« Rocchi trat neben den Tisch, zog eine Schublade des Metallcontainers auf und holte dann ein iPad heraus. »Das benutze ich bei der Arbeit. Ich habe am Fundort ein paar Aufnahmen gemacht und dann die Obduktion gefilmt. Keine Angst, ich will dir nur ein Detail zeigen.«
Mancini trat neben seinen Freund, der eine Datei öffnete.
»Hier.« Rocchi deutete auf mehrere dunkle Stellen vom Brustbein an aufwärts, die sich deutlich auf Nora O’Donells extrem heller Haut abhoben.
»Was ist das?«
»Siehst du das? Kleine nekrotische Bereiche rund um die Einstiche, in denen die Naht … nicht ganz so säuberlich ist. In Höhe des Thorax weisen die Hautränder einige Ausfransungen auf.«
»Warum?«, fragte Mancini knapp.
»Das kann ich dir nicht sagen. Es sieht so aus, als sei die Haut … gedehnt worden.« Rocchi unterstrich seine Antwort mit einer Handbewegung, als würde er einen Stoff spannen.
»Na klar. Aber da ist noch etwas«, fuhr Mancini fort, der plötzlich wieder ganz bei der Sache war.
»Was?« Rocchi schaltete das iPad aus.
»Du hast geschrieben, dass die inneren Organe mit großer Präzision aus dem Körper geschnitten wurden. Was bedeutet das genau?«
»Das bedeutet, dass der Mörder exakte Schnitte zwischen den einzelnen Organen ausgeführt hat. Die Organe sind nacheinander entfernt worden und dann …« Der Gerichtsmediziner fuhr sich mit der Zunge über die Lippen.
»Und dann was?«
»Wieder an ihrem Platz eingesetzt worden.«
Mancinis Augen glitten über den Bericht, als suche er dort nach einer Bestätigung für Rocchis Worte. »Und warum sollte jemand sie erst herausschneiden, um sie dann wieder an ihrem alten Platz einzusetzen?«, fragte er stirnrunzelnd.
»Das kann ich dir nicht sagen, aber seltsam ist es auf jeden Fall. Sollte ein Täterprofil erstellt werden, könnte das vielleicht nützlich sein.«
Mancini stieß einen Seufzer aus, der für Rocchi eher resigniert als wirklich verärgert klang, und widersprach: »Es gibt keinen Serienmörder. Das ist ein Einzelfall, Antonio.«
»Du lehrst mich doch immer, dass auch unsere Mörder es in sich tragen, oder?«, warf der Gerichtsmediziner ein, in dem Versuch, die Stimmung aufzulockern.
Doch die Gesichtszüge des Commissario wurden hart, und sein Blick verschwand hinter einem Schleier, der seinen Augen die typische onyxdunkle Strahlkraft nahm. »Ich habe nichts, was ich irgendjemanden lehren könnte.«
Rocchi wich ein Stück zurück und hob entschuldigend die Hände: »Schon gut, Enrico. Kehren wir zu den Fakten zurück. Eins steht auf jeden Fall fest: Nachdem unser Freund sie aufgeschnitten und all diese hübschen Sachen gemacht hatte, wurde ihm die Haut knapp, die nach derartigen Schnitten normalerweise nachgibt und entspannt.«
»Da haben wir doch den Grund für die nekrotischen Bereiche rund um die Nahtstellen.«
»Vielleicht. Meiner Meinung nach musste er die beiden Ränder unter Kraftanwendung zusammenziehen, nachdem er die Organe zurück an ihren Platz gesetzt hatte und alles wieder zumachen wollte. Die Stiche waren sehr fest, weil er Angelschnur verwendet hat, und haben die Haut eingerissen, sodass sich diese dunklen Stellen gebildet haben. Das ist für mich die einzig plausible Erklärung.«
»Aber wenn ich dich recht verstanden habe, tappen wir völlig im Dunkeln, was das Motiv betrifft.«
»Ja. Und wie ich schon sagte, ist es zu früh für die Bestimmung der Todesursache.«
»Wie lange brauchst du noch, Dottore?«
»Der Bericht ist noch nicht ganz fertig. Um Genaueres sagen zu können, muss ich letzte toxikologische Untersuchungen durchführen, außerdem eine genaue Gewebeuntersuchung. Ich sag dir sofort Bescheid, wenn ich etwas habe.«
»Ruf mich an. Ich mach mich wieder an Carnevali.« Mancini schnaubte verärgert. »Diese Sache hier sollte mich eigentlich gar nichts angehen, aber Gugliotti hat mich dazugerufen …«
»Du bist eben eine Berühmtheit, Enrico. Und das weißt du auch. Wenn der Polizeipräsident dich dabeihaben will, bedeutet das, dass die Ermittler mehr dahinter vermuten. Vielleicht eine richtig große Sache …«
»Vielleicht auch nicht.« Mancini schwieg einen Moment. »Aber falls es wirklich so ist, wie du sagst, dann laufen bei der UACV eine Menge fähiger Leute rum.«
»Bei der UAVC laufen eine Menge fähiger Experten zur Ermittlung von Gewaltverbrechen herum, aber meiner Meinung nach fehlt ein Profiler wie du.«
»Richtig«, sagte Mancini. »Deiner Meinung nach.«