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Rom, Montag, 1. September, Nacht

Die bleiche Mondscheibe hing verschwommen über dem hohen Stahlgeflecht, während der Himmel wahre Wassermassen über die Stadt ausschüttete. Am Ufer des Tiber, zwischen den Überresten der alten Seifenfabrik Mira Lanza, schob sich ein Schatten durch das Labyrinth aus Gestrüpp. Zahlreiche Trampelpfade zeugten vom vielen Hin und Her zwischen diesem Versteck am Lungotevere Gassman und der Straße. Rasch schlich er voran, den Oberkörper gebeugt, um nicht aus den Fenstern am Viale Marconi gesehen zu werden, die in Richtung der Industrieruine zeigten.

Es war kalt an diesem Abend. Durchnässt und hungrig war er immer noch auf der Suche nach Essensresten oder ein paar Münzen. Er hatte sich weit aus seinem Unterschlupf gewagt, die Straße entlang bis zum Imbiss in der Via degli Stradivari. Doch der Regen hatte die Menschen in ihre Häuser getrieben, und so war dort an diesem Montag Anfang September kein einziger Kunde. Der fette Koch mit der roten Mütze hatte gerade an der Hintertür die letzten Züge seiner filterlosen Camel geraucht, also hatte er ihn um ein Brötchen gebeten. Mehr hatte er jedoch nicht erbetteln können, denn der andere Typ, der mit dem schwarzen T-Shirt und dem rasierten Schädel, hatte ihn angebrüllt, die Bierflasche in der Hand: »Du schon wieder? Hau ab, du Dreckszigeuner.«

Er hatte sofort auf dem Absatz kehrtgemacht, wohl wissend, dass er nicht mehr bekommen würde, aber das höhnische Gelächter und der Schlag der Bierflasche in den Rücken, kurz bevor sie auf dem Boden zerschellte, hatten ihn kurz zusammenzucken lassen. Er war Hals über Kopf auf seinen schmutzigen, dünnen Beinen durch den Regen geflohen, jedoch am Ponte di Ferro nicht gleich rechts abgebogen, wo er sich im Schutz des dichten, vertrauten Gebüschs hätte fortbewegen können. Seine Wut darüber, ohne Essen heimzukehren, war stärker gewesen als die Vernunft, und so hatte er die Brücke überquert, war auf die Schotterstraße eingebogen und schließlich zu den Metallzäunen gelangt, welche die ewigen Baustellen rund um den Flusshafen umgaben.

Der Regen nahm zu und verschleierte den Mond über dem Stahlskelett des großen Gasometers. Getroffen vom silbrigen Schein, verwandelten die Stützen, die umlaufenden Streben, die beweglichen Stahlkränze und die unverrückbaren Bolzen die hohe Metallkonstruktion in ein Ungeheuer – halb Bauwerk halb Maschine –, gehüllt in einen eisigen stählernen Mantel. Die Regentropfen daran, hängend, vom bleichen Licht erfasst, verwischten den Umriss, fast so, als gerate die bizarre, zylindrische Form in einer Drehung um sich selbst in Bewegung.

Beschützt von drei identischen, wenn auch deutlich kleineren Gasometern sowie einer Vielzahl verfallender Gebäude, wachte der Stahlkoloss über die Tiberbiegung. Hier war achtzig Jahre zuvor das größte und produktivste Industriegebiet der Stadt beheimatet gewesen, die Gasversorgungsbetriebe, das Wärmekraftwerk und das alte Zollamt, während sich auf der anderen Seite des Flusses die eingefallenen Gebäude und der Ziegelschornstein der Seifenfabrik befanden, das Getreidesilo der landwirtschaftlichen Genossenschaft und die Mühlen der Firma Biondi, die schon seit Langem nicht mehr in Betrieb waren.

Rechts fiel das Ufer ein Dutzend Meter steil ab, hinunter zu den Büschen und Bäumen, die im Moment knapp unterhalb des Wasserspiegels lagen. Nach dem sehr heißen August hatten die Regenfälle der vergangenen Woche den Flusspegel rasch ansteigen lassen, nun führte der Tiber Hochwasser. Schmutzig grün floss es voran, klatschte gegen die Uferdämme und die Pfeiler des Ponte di Ferro. Vor dem Jungen erhoben sich drei fahle Bauten mit dunklen Dachschrägen, die Fenster durch überkreuzte Holzbalken verrammelt. Er huschte eilig vorbei und auf die riesigen, sandfarbenen Gebäude des ehemaligen Großmarkts zu, wo die schlafenden Mastinos gleich wachsam und stumm ruhten.

Der Junge suchte Schutz am ersten Haus, und verschnaufte unter dem Vordach ein wenig. Er ließ seinen Blick schweifen, hinauf zu den beiden gewaltigen Stahlarmen, die sich über das Ufer hinweg bis auf den Fluss erstreckten, Verladebrücken, welche einst die riesigen Winden zum Verladen von Kohle und anderen Waren auf die Lastkräne getragen hatten.

Seine Neugier war geweckt, und als der Regen nachließ, verließ er das schützende Dach und drang weiter zwischen den im Dunkel liegenden Häusergerippen vor. Links von ihm erhoben sich zwei kleine Stahlbetontürme, auf denen gewaltige zylindrische Tanks ruhten – Eisenkonstruktionen, Gittergerüste und Wasserspeicher, deren Sinn und Zweck er nicht verstand. Die Luft war drückend, und das Atmen fiel ihm schwer, trotz der kräftigen Windböen, die irgendwo in der Ferne eine Glocke zum Schwingen brachten. Das Heulen des Windes und ein düsteres, leises Echo ließen ihn erschaudern.

Aber er hatte keine Angst, sollten die Jungs aus seinem ehemaligen Lager doch reden, diese beiden Blödmänner, mit denen er gewettet hatte, wer mehr verwertbare Reste in den Müllcontainern fand oder wie viele Autos zwischen zwei Rotphasen passieren würden. Nach dem Tod seiner Mutter hatten sie angefangen, ihn zu hänseln, und manchmal verprügelten sie ihn auch. Sie hatten ihm immer die schwierigsten Aufgaben übertragen und ihn »Hosenschisser« genannt wegen seiner Heidenangst vor den streunenden Hunden im Lager. Aber was hätte er denn machen sollen, wenn die ihn bellend verfolgten, sobald er zum Pinkeln in die Latrine ging? Deshalb war er im August aus dem Lager weggelaufen und dort unten an den Fluss gezogen. Er hatte sich im Gebüsch bei der alten verlassenen Seifenfabrik versteckt und sich dort in den drei verbliebenen Mauern eines teilweise überdachten kleinen Anbaus einen Unterschlupf eingerichtet. Innen wuchs ein großer Feigenbaum, dessen Stamm durch die eingestürzte Decke ragte. Die aschgraue, ehemals glatte Rinde trug unzählige, milchige Narben, die Spuren seines Taschenmessers, sein persönlicher Kalender. Die Feigen der unteren Zweige hatte er gleich nach seiner Ankunft gegessen, und die länglichen Blätter nutzte er als Klopapier, wenn er nichts Besseres fand. Sogar ein Bett hatte er sich gebaut, aus einer Matratze, die neben einem Müllcontainer gelegen hatte, und Laken, die er von einem Balkon am Viale Marconi gestohlen hatte.

Man konnte ihm viel nachsagen, nicht aber, dass er ein Angsthase war. Er war jetzt elf Jahre alt und lebte schon allein. Na gut, er schaffte es nicht jeden Tag, das Nötigste zu besorgen und mit vollem Magen schlafen zu gehen, aber er konnte nicht klagen. Immer noch besser, als mit einem Plastikbecher in der einen und einem schmuddeligen Heiligenbildchen in der anderen Hand an Ampeln, in der U-Bahn oder vor San Paolo fuori le mura betteln zu gehen.

Ein paar Dutzend Meter weiter blieb er stehen. Er kauerte sich hin, suchte mit einer Hand den Boden ab, bis er einen großen porösen Stein fand, einen dieser grauen. Er packte ihn und stand auf, suchte mit dem Blick nach einem Ziel, das im Halbdunkel zu erkennen war. Er straffte die Schultern, drehte sich wie ein Diskuswerfer auf dem linken Fuß einmal um die eigene Achse, holte Schwung, blieb abrupt stehen und warf den Stein kräftig ab. Er flog weit, direkt auf einen Bau zu, der in der Dunkelheit glänzte, wie eine hohe Kathedrale aus Stahl, mit zwei weißen Wasserspeichern als Kirchtürmen. Der Junge meinte zu erkennen, dass der Boden im hufeisenförmigen Innenraum aus Metall war.

Der Stein fiel, doch der Boden warf kein Geräusch zurück, nicht einmal ein helles Scheppern, wie der Junge es erwartet hätte.

Vielleicht habe ich ja etwas getroffen, dachte er in der Hoffnung, dass es kein streunender Hund war, der dort Unterschlupf gefunden hatte, oder gar ein Obdachloser an seinem Schlafplatz. Die ausgetretenen Flipflops rutschten über das schlammige Pflaster, als er auf seinen dünnen Beinen auf das Gebäude zu rannte.

Aus der Nähe wirkte es noch gespenstischer, hoch wie ein fünfstöckiges Wohnhaus, dazu vier Ecktürme und im weitläufigen Innenraum zwei Reihen riesiger Stahlflaschen. Im Inneren des hufeisernen Raumes fühlte sich der Junge an einen Brennofen erinnert, von dessen höchstem Punkt viele kleine Rohre waagrecht zu den oberen Enden der Stahlflaschen führten. Mit wenigen Schritten war er in der Mitte des Raumes, suchte aufmerksam den Boden nach dem Stein ab, fand aber nichts. Das Einzige, was er beim Gehen bemerkte, war ein schwacher säuerlicher Geruch, abstoßend und zugleich irgendwie vertraut, ohne dass er hätte sagen können, woher er rührte.

Er beschloss, alle Wände des rechteckigen Raumes abzugehen, der von zwei kurzen Seitenwänden und einer etwas längeren Rückseite begrenzt war. Er wandte sich nach links, als er in der Mitte der längeren Seite eine drei Meter hohe Öffnung bemerkte, breit wie ein Höhleneingang. Er trat darauf zu und sah sich äußerst wachsam um.

Es war die Öffnung zum eigentlichen Ofen.

Ein Blitz zuckte durch die Luft und erhellte für den Bruchteil einer Sekunde den Raum. Gleich darauf wurde der Regen wieder stärker, das Prasseln lauter. Der Junge glaubte im Lichtblitz eine Bewegung im Innern des Ofens ausgemacht zu haben. Einen dunklen Fleck, eine Augentäuschung.

Und dann sah er es.

Wenige Meter vor ihm, in der Mitte der Metallkonstruktion, lag ein undefinierbarer Gegenstand. Draußen prasselte der Regen auf das Pflaster und schirmte die Kathedrale durch eine Wasserwand von der Außenwelt ab. Ein weiterer Blitz zuckte über den Himmel, sein flüchtiger Schein jagte über die glänzenden Flächen des Raumes, erhellte das Zentrum des Ofens.

Ein Körper. Vor ihm lag ein Körper.

Der Junge erstarrte.

Sein Blick suchte in der Dunkelheit nach den Umrissen der Gestalt. Und nach einem Lebenszeichen. Es donnerte, dann erhellte abermals ein Blitz den Raum, und erst da entdeckte er in einer Ecke, nahe einer Wand aus Stahlblech, den Stein, den er geworfen hatte. Meine Güte, dachte er, ich habe den armen Kerl getroffen und ihn getötet! Er machte eilig einen Schritt auf den Körper zu, um nachzusehen, ob er noch atmete.

Vereinzelte Regentropfen fielen leise klirrend in den silbern schimmernden alten Ofen. Der Junge schluckte trocken und tat noch einen Schritt, denn er war kein Hosenschisser, und hier gab es keine streunenden Hunde. Noch ein Schritt, dann verharrte er wenige Zentimeter von dem Körper entfernt.

Der bewegte sich nicht, er musste ihn also an der Stirn getroffen haben. Er beugte sich vor, um nach einer Verletzung zu suchen. Die Gestalt war in einen blauen Sack gehüllt, verschlossen mit einem langen Metallreißverschluss, aus dem aber ein Teil des Kopfes und die Füße herausragten. Der Junge ließ seinen Blick von seinen schmutzigen Flipflops zu den Spitzen eines Paars beinahe neuer Laufschuhe wandern, die aus dem Sack hervorstachen, und machte sich dann mit flinken Fingern an das Aufknoten der Schnürsenkel. Die Schuhe waren zu groß, aber das war ihm egal.

Er würde den Sack öffnen müssen, um den Spann befreien und die Schuhe ausziehen zu können. Ohne zu zögern zog er am Reißverschluss.

Der klemmte. Er probierte es noch einmal, vergeblich. Versuchte es mit Gewalt, bis ihm mit einem Mal aufging, warum er ihn nicht aufbekam. Das Teil war schmutzig, vollkommen verkrustet. Nachdenklich stand der Junge auf.

Und plötzlich begriff er.

Ein Schreckensschauer kitzelte ihn im Nacken, lief ihm kalt die Wirbelsäule hinunter bis zum Steißbein.

Der Typ in dem Sack … Wenn er da so eingewickelt lag, konnte er ihn mit seinem Stein gar nicht getötet haben.

»Heiliger Himmel«, konnte der kleine Niko gerade noch hervorstoßen, dann wurden aus der kaum merklichen Bewegung von zuvor drei schnelle Schritte.

Und selbst der ferne Schein des Mondes erlosch.

Schattenkiller
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