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Kernkraftwerk Borgo
Sabotino,
Freitag, 19. September, 02:20 Uhr
Ein buttriger Nebel verteilt sich über dem Haus, das nun aussieht, als wäre es schneebedeckt. Innen dehnt sich die Stille in einem Maß aus, dass sie gleich die Wände sprengen wird. Die feuchte Luft bringt die Schimmelblasen an der Decke zum Platzen.
Als Mancini aufwacht, ist alles um ihn herum dunkel. Als Erstes spürt er den heftigen Schmerz an der rechten Schulter. Ein Brennen, das den Rücken hinunterläuft, sich zwischen den Wirbeln hindurchschlängelt und ihm den Atem raubt. Dann entdecke sein Blick einen schwachen Lichtpunkt. Oben links ist ein schmales Fenster.
Seine Augen gewöhnen sich langsam an das Dunkel. Er dreht den Kopf, nur ein kleines Stück, aber das genügt, einen starken Schmerz durch sein Rückenmark zu jagen. Seine Augäpfel treten hervor, und sein Mund schnappt nach Luft. Vom Boden steigt feiner Dampf auf, der ihn husten lässt. Drei Mal.
Und da bewegt sich etwas.
In dem Raum befindet sich noch ein Körper. Er liegt auf einem Tisch, bleich wie Marmor. Wie hat er ihn nur übersehen können?
Mancini bewegt die Hände hinter dem Rücken. Er bemüht sich, aber seine Handgelenke sind durch ein Seil gefangen. Er versucht, die Füße zu bewegen, aber die sind ebenfalls gefesselt und an zwei Beinen des Stuhls fixiert, auf dem er erschöpft sitzt. Sein Knöchel brennt. Er spürt den schmerzhaften Biss der Falle in der Haut. Seine Ohren gewöhnen sich allmählich an den watteartigen Dampf, der das Zimmer nach und nach vernebelt.
Es ist nur ein Ton, dennoch nimmt Mancini ihn so unmittelbar wahr, als gäbe es keine Moleküle zwischen diesem Mund und seinem linken Ohr. Ein leises, unbestimmtes Geräusch. Er windet sich noch einmal auf dem Stuhl, doch der bleibt fest auf dem Boden verankert. Er dreht die Knöchel, die Schultern und die Handgelenke. Dann gefriert ihm das Blut in den Adern.
Seine Hände.
Seine Hände sind nackt.
Mancini mustert angestrengt den Tisch mit der bleichen Gestalt, durchforscht die Ecken des Raumes, lässt den Blick über den Boden gleiten auf der Suche nach einem Hinweis. Nach den Handschuhen.
Die Gestalt auf dem Tisch keucht. Auch er bekommt kaum Luft, ihn umgibt nichts als Schweigen und Dampf. In der Luft mischt sich der intensive Schimmelgeruch mit einer scharfen, süßsäuerlichen Note. Sie ist abstoßend, ekelhaft.
»Hier sind sie.«
Die Stimme erreicht ihn heiser, warm, irgendwie rötlich. Wie das Uhrendisplay, das er jetzt über der Tür entdeckt. Rechts muss ein Durchgang in der Mauer sein, schließt Mancini. Auf der Schwelle steht eine Gestalt.
»Hier sind sie, Commissario.«
Die Handschuhe fliegen durch den Raum, als Einheit, landen direkt vor ihm auf dem Boden. Er betrachtet sie erstaunt, als hätten sie ihm niemals gehört. Und auf einmal begreift er, dass diese beiden Stücke Leder niemals … ihm gehört haben.
»Du brauchst sie nicht mehr«, sagt die Stimme. Füße schlurfen durch das Halbdunkel heran. Mancini lässt seinen Blick an den Beinen hinauf bis zum Körper und dem Gesicht gleiten. Das fehlt. Er kann es nicht sehen. Da ist nur diese massige Gestalt und dann dieser Lockenschopf, noch dichter als seiner. Dann reißt der andere sich die Haare vom Kopf, die üppige Mähne fliegt vor in den Raum, bis zu den Handschuhen.
»Wir sind gleich«, flüstert die Stimme.
Es ist eine Perücke. Braun. Die Gestalt schiebt sich jetzt haarlos vorwärts.
»Die gehörte ihr. Und die da«, der Mann streckt einen Arm aus und richtet den Zeigefinger auf die Handschuhe, »gehörten Marisa.«
Der an den Stuhl gefesselte Mann ist verwirrt. In seiner Schulter und dem Knöchel explodiert der Schmerz. Er weiß, dass der andere lächelt, obwohl er es nicht sehen kann.
Dann tritt der noch einen Schritt näher.
»Das, was uns von ihnen bleibt.«
Das Blut rast von der Halsschlagader nach oben. Sein Gehörgang weitet sich, der Klang wandelt sich in ein Echo, das auf den Hörkanal trifft, gegen das Trommelfell prallt und sich wie eine Sternschnuppe ins Hirn einschleicht. Gestalt annimmt. Ein farbloses Abbild. Ein Gespenst.
Marisa, Marisa, Marisa!
Aus dem Mund des Commissario erhebt sich heiser und kehlig ein Laut, der tief aus dem Bauch kommt. Der auf die Brust herabgesunkene Kopf pendelt hin und her, wie ein Stück Fleisch an einem Haken. Er keucht, dreht sich um, sieht ihm ins Gesicht. Das liegt hinter einem weißen Schleier verborgen. Der Mann senkt den Arm und hebt den anderen, mit dem er auf die weiße Gestalt auf dem Tisch zeigt.
»Du hast ihn wiedergefunden«, sagt er.
»Was?« Der Commissario versucht, die Fesseln hinter dem Rücken zu sprengen. Er ist verwirrt.
»Hast du es noch nicht begriffen?«
Ein Schlurfen. Noch einmal. Ein letztes Schleifen der Schuhe über den Boden, dann steht der Schatten in der Mitte des Raumes. Zeigt auf die liegende Gestalt.
»Der Mann in Weiß.«
Wie aus einem dunklen Traum kommen vier Silben aus Mancinis Mund, ohne dass er es überhaupt bemerkt: »Car-ne-va-li.«
Der Schatten nickt kaum merklich. Überwindet schnell, mit einem ungeschickten Sprung, die Entfernung zum Tisch. Dieselbe Bewegung wie draußen auf der Wiese. Er klammert sich am Tisch fest, beugt sich hinunter und nähert sein Gesicht dem des liegenden Mannes.
In dem Lichtschein, der durch das schmale Fenster hereinfällt, erhascht Mancini einen flüchtigen Blick. Das Profil Carnevalis. Ist er es wirklich? Die Tafel hatte also recht. Lebt er?
»Dottore!« Ein Schrei entwindet sich seiner brennenden Kehle, sein Körper ist schweißnass, das Fieber steigt.
Das Gesicht des Schattens ist nur wenige Zentimeter von dem des Arztes entfernt. Mit zwei Fingern wickelt er sich den Verbandmull ab, enthüllt die Nase, die fleischigen Lippen, die wimperlosen, blutverkrusteten Lider und die wegrasierten Augenbrauen und einen Teil des Schädels. Er wendet sich nach links, damit Mancini sein zu einer traurigen Grimasse verzerrtes Gesicht sehen kann. Ein Moment, in dem die Zeit stillzustehen scheint. Der jedoch vergeht, als, hochgehoben von der Hand des Schattens, Carnevalis Gesicht in Mancinis Sichtfeld kommt.
Er ist überall kahl. Keine Augenbrauen, keine Wimpern, Kinn und Schädel unbehaart. Schnitte und Krusten aus getrocknetem Blut infolge grober Arbeit. Gezerrt, ausgerissen, genäht. Das Grinsen, das dieses einst strenge und intelligente Gesicht entstellt, ist ein Scherz mit der Natur. Der Faden verläuft von einem Mundwinkel zum Ohrläppchen, ist dort eingepflanzt und verzieht die Lippen nach oben zu einem Lächeln. Ein alter Mann, der nicht wiederzuerkennen ist, geschändet und verunstaltet wie eine Puppe in der Gewalt eines bösen Kindes.
Mancini unterdrückt einen Brechreiz und reißt den Mund auf, schnappt nach Luft. Dem Mann auf dem Tisch ist dies nicht vergönnt. Der starrt ihn an, der Blick ist gläsern, getrübt, aber immer noch lebendig. Er saugt die Luft durch die Nasenlöcher ein, die sich weiten wie die Kiemen eines gestrandeten Fisches.
Der Commissario windet sich, der Stuhl unter ihm ächzt. Er schreit noch einmal: »Dottore!«
»Du schaffst es nicht. Du bist schwach, Commissario.« Oscar legt einen Finger an die Schläfe und tippt zwei Mal dagegen. »Du bist … zerbrechlich.«
»Sei still!«
Der Schatten legt eine Hand auf die Stirn des Arztes und streichelt sie. In seiner Stimme liegt keine Grausamkeit, seine Berührung wirkt weder brutal noch boshaft.
»Warum? Warum?«, krächzt die Stimme immer lauter, die von den feuchten Wänden des Kellerraums widerhallt.
In Carnevalis Augen glitzern Tränen. Sie laufen die Wange herunter, bleiben an einer Naht hängen, werden aufgehalten. Dringen durch die Löcher mit dem Nylonfaden ein, versinken und verbrennen das Fleisch, als bestünden sie aus Säure. Aber die Miene des Arztes bleibt starr, jammert nicht, verrät kein Gefühl. Keine Hoffnung.
»Warum? Herrgott, warum?«, brüllt Mancini wieder, die Augen geweitet, die Hände zu Fäusten geballt.
Der Killer schüttelt den Kopf und nimmt das Gesicht des liegenden Mannes behutsam zwischen seine Hände, eine Geste, die Mancini an eine Liebkosung erinnert. Dann richtet er den Oberkörper auf, dreht sich um, deutet auf die leuchtenden Ziffern und sagt, an seinen Patienten gewandt: »Wir sind fast soweit.«
Es ist 03:40 Uhr.