32
Rom, Montag, 15. September,
15:00 Uhr
Polizeipräsidium
»Wir haben ihn.« Gugliotti grinste selbstzufrieden, als das gesamte Team in seinem Büro erschienen war. Er sah die Anwesenden an und rieb sich die Hände.
»Wo ist er?«, fragte Mancini.
»Unten.« Der Polizeipräsident drehte den Bildschirm auf seinem Schreibtisch um. Im Verhörraum für mutmaßliche Gewaltverbrecher im Untergeschoss fing die Kamera einen korpulenten Mann ein. Seine Arme waren mit Handschellen hinter dem Rücken gefesselt, er hielt den Kopf gesenkt.
»Woher wissen Sie, dass er es ist?«, fragte der Commissario.
»Er hat die Mails geschrieben, Mancini!«, beschied Gugliotti knapp. »Gestern hat er eine weitere verschickt, und das war sein Verhängnis. Er hat sie an Stefano Morini gesendet wie die anderen, aber dieses Mal konnten wir sie zurückverfolgen.«
Laut Gugliotti waren sie einer Spur der Abteilung für Computer- und Internetkriminalität gefolgt, die sich durch die Unterstützung eines Informatikers aufgetan hatte, der Experte für Network Forensics war. Gefasst hatten sie ihn letztendlich durch die Daten der neuesten Mail, die den vierten Toten vermeldete, in Ostia. Die früheren Mails hatten keine Anhaltspunkte geliefert, da der Absender die IP-Adresse verändert hatte, die aus vier Zahlengruppen bestehende Nummer, die jedem mit dem Internet verbundenen Computer – zumindest vorübergehend – zugeordnet ist.
»Diesmal hat er einen Fehler gemacht. Unser Experte hat das Internetcafé ausfindig machen können, in dem die Mail geschrieben wurde, und die Kollegen haben dann dort den Computer beschlagnahmt, von dem aus sie versendet wurde. Nach einem Vergleich der Daten aus dem Computer mit den Aufnahmen der Überwachungskamera des Cafés sowie den Aussagen des Besitzers konnten wir unseren Mann identifizieren.«
»Wer ist er?«, fragte der Commissario. Er war unzufrieden, und auch seine Kollegen wirkten enttäuscht. Niemand hatte sich die Mühe gemacht, sie über die weiteren Erkenntnisse bezüglich der Spuren zu informieren, die Mancini dem Polizeipräsidenten präsentiert hatte.
»Wir wissen seinen Namen noch nicht, er hatte keine Papiere bei sich. Der Mann ist Kroate. Seiner Statur, den militärischen Tätowierungen und den Narben nach wahrscheinlich Soldat oder so.«
»Es kann sich doch auch um einen Fall von Identitätsdiebstahl handeln«, wagte sich Caterina vor.
Gugliotti wandte sich mit deutlich skeptischer Miene zu ihr um, wirkte verärgert. »Wir haben ihn verhört, und er hat gestanden. Er wollte gefasst werden. Als unsere Jungs ihn heute Morgen in einer verlassenen Dachwohnung im Viertel Tor Bella Monaca aufgegriffen haben, fanden sie ihn auf dem Boden sitzend vor. Er saß da und wartete auf sie.«
Mancini spürte jenes Gefühl von Leidenschaft für seinen Beruf schwinden, deren Ansätze er gerade erst mühsam wieder ausgegraben hatte. Aber sollte er nicht zufrieden sein? Der Fall war abgeschlossen. Doch da war nur dieses Gefühl von Leere, Niederlage, Ohnmacht, das ihn schon ein Mal gequält hatte. Oder war es etwas ganz anderes?
Der Polizeipräsident brauchte schnelle Antworten. Und die hatte er bekommen. Der Druck der Presse war noch gewachsen, inzwischen berichteten Zeitungen und Fernsehen landesweit über den Fall. Und im Gleichschritt mit dem Druck der Medien war auch der Druck vonseiten der Politik gestiegen.
Das wusste Mancini besser als jeder andere, doch die Tatsache an sich konnte er nicht einfach so stehen lassen. Er spürte, dass hier etwas nicht zusammenpasste, und bei anderer Gelegenheit oder zu anderen Zeiten hätte er vielleicht Gift und Galle gespuckt. Morini hatte erneut eine Mail vom Schatten erhalten, und die Abteilung für Computer- und Internetkriminalität, die den Account des ehemaligen Journalisten inzwischen überwachte, hatte sie zurückverfolgt. Aber warum war sein Team nicht sofort informiert worden? Warum hatte man ihn nicht sofort persönlich benachrichtigt? Konnte er diesem hohen Beamten in Anzug und Krawatte, der ihm da gegenüberstand, überhaupt vertrauen?
»Kann ich mit ihm sprechen?«, fragte er atemlos.
»Selbstverständlich, Commissario.« Gugliottos Stimme troff vor Stolz, als er mit gönnerhaften Lächeln hinzufügte: »Aber tun Sie ihm nichts, wir sind noch nicht fertig mit ihm und … früher oder später müssen wir ihn der Presse präsentieren.«
Mancini und Comello schritten Seite an Seite durch den Flur im Untergeschoss. Die Schritte des Commissario hallten fest und rhythmisch durch den Raum, die Adidas des Ispettore federten weich über den Boden. Vor der weißen Tür mit dem Quadrat aus bruchsicherem Glas im oberen Teil blieben sie stehen. Comello versuchte, über die Schulter des Commissario einen Blick in den Raum zu werfen, während Mancini den Code zum Öffnen der Tür eintippte. Der Commissario ging direkt auf den Tisch zu. Der Mann hob den Kopf und richtete seinen feindseligen Blick auf ihn. Comello trat ebenfalls ein, zog die Tür hinter sich zu und nickte kurz, als ein Piepen verkündete, dass sie elektronisch verriegelt war. Dann schloss er zu seinem Vorgesetzten auf.
»Artikel 64 der Strafprozessordnung«, begann Mancini und schlug die Akte auf, die Gugliotti ihm gegeben hatte. Er las kurz darin, warf sie dann auf den Tisch. »Man hat es Ihnen schon gesagt, aber ich muss es noch einmal erwähnen: Jede Ihrer Aussagen kann gegen Sie verwendet werden. Sie haben das Recht, die Antwort auf die Fragen zu verweigern, die ich stellen werde, aber die Ermittlungen werden trotzdem fortgesetzt.«
Der Mann hatte die Züge eines Osteuropäers, hohe Wangenknochen, ein dreieckiges Gesicht, Ohren und Nase klein. In der Akte stand: »Staatsangehörigkeit: Kroatisch.«
Bei ihm war nichts als ein kleines Messer gefunden worden. Er wirkte kräftig und brutal genug, ehemals Soldat in irgendeiner Spezialeinheit gewesen zu sein. In einem Kampf hätte er die beiden Polizisten mühelos besiegen können. Insgesamt vier waren nötig gewesen, seine Daumen auf das Stempelkissen zu drücken, deren Abdrücke in diesem Moment mit der Datenbank des AFIS abgeglichen wurden, dem automatisierten Identifizierungsprogramm für Fingerabdrücke. Eine Art riesige digitalisierte Bibliothek, in der die Abdrücke von Kriminellen aus ganz Italien zum Abgleich gespeichert waren, insgesamt sieben Millionen Proben.
Der Mann zeigte keine Regung, als er mit fester Stimme erwiderte: »Ich war es.«
Mancini näherte sich der Videokamera und zog den hinteren Klinkenstecker heraus. Das grüne Übertragungslicht erlosch. Dann löste er die Knöpfe an den Manschetten seines schwarzen Hemdes, rollte die Ärmel hoch und trat auf den Mann zu. Sagte schlicht: »Nein.«
»Was hat er gemacht?«, brüllte Gugliotti zwei Stockwerke über ihnen, als traue er seinen Augen nicht. »Er hat doch nicht etwa die Kamera ausgeschaltet?« Er blickte zu Caterina De Marchi und Giulia Foderà, doch seine Frage blieb unbeantwortet. Der Polizeipräsident beugte sich zum Bildschirm, schaltet ihn aus und gleich darauf wieder ein. Das Bild blieb schwarz. Er trat hinter das Gerät und versuchte, das Kabel zu richten.
Von seiner Position aus beobachtete Comello, wie der Commissario versuchte, dem nervösen Zucken seiner Lider entgegenzuwirken, indem er die Augen aufriss. Es war grotesk.
»Ich wiederhole, ich habe sie getötet, alle vier.«
»Nein.« Mancini zog sich die schmale Krawatte vom Hals und reichte sie Comello. Nahm den Stuhl und stellte ihn direkt vor den massigen Mann. Drehte den Stuhl um und setzte sich so hin, dass die Rückenlehne seinen Vorderkörper bis zur Brust bedeckte.
»Warum hast du es getan?«
»Das habe ich den anderen schon gesagt. Ich bin seiner Stimme gefolgt.« Der Mann hatte einen kaum hörbaren osteuropäischen Akzent, musste also schon sehr lange Italien leben.
»Wirklich?« Mancini musterte eingehend das nur wenige Zentimeter von ihm entfernte Gesicht. »Und was zum Teufel hat dir diese Stimme gesagt?«, fragte er, immer lauter werdend, was sowohl den Mann als auch Comello verblüffte.
Aus dem Mund des Kroaten kam ein unnatürlicher, kehliger Laut: »Schneide, schneide, schneid sie alle durch.«
Walter riss die Augen auf.
»Und wessen Stimme war das?«
»Die des Teufels.«
Mancini strich sich über die Lider, verdrehte die Augen nach oben. Dann schlug er mit der Faust gegen die gepolsterte Rückenlehne des Stuhls und packte den Mann mit der rechten Hand an der Kehle.
»Commissario!« Comello trat erschrocken einen Schritt näher.
Mancini machte eine abwehrende Bewegung mit der linken Hand, ohne den Kroaten auch nur einen Moment aus den Augen zu lassen. Der Ispettore blieb, wo er war.
»Also hat der Teufel dir gesagt, du sollst diese Leute umbringen?«
Der Kroate stöhnte nicht einmal, er starrte Mancini an, als hätte er einen Geist vor sich. »Der Teufel war bei mir, dort oben unter dem Dach«, antwortete er gequält.
»Und was hat er dir gesagt?«
»Ich soll den Priester umbringen.«
»Ach ja?« Mancini löste seinen Griff.
»Auch die anderen. Wenn nicht, stürzt er mich in die Hölle. Der Teufel hat gesagt, ich muss für das bezahlen, was ich im Krieg getan habe.«
»Und du hast sie mit deinem Messer aufgeschlitzt?«
Rocchi hatte ihm bereits gesagt, dass die kleine, gebogene Klinge, mit welcher der Schatten bei den Opfern agiert hatte, mit dem Messer übereinstimmen könnte, das man bei dem Kroaten gefunden hatte. Dieses Messer, ein srbosjek, »Serbenschlitzer«, eingearbeitet in einen fingerlosen Lederhandschuh, hatte traurige Berühmtheit erlangt, weil damit im Zweiten Weltkrieg zahllosen Menschen in den kroatischen Konzentrationslagern die Kehle durchgeschnitten worden war.
»Du warst es also? Hey? Du warst es?« Die Frage klang mehr wie ein Krächzen, Mancinis Kehle war vor Wut zugeschnürt, die Augen blutunterlaufen.
Der Mann schwieg, seine Miene war ausdruckslos. Nein, da ist keine Angst zu sehen, dachte Comello. Fast, als hätte er einen Dämon aus der Hölle vor sich, einen Verrückten mit erloschenen Augen.
»Commissario, vielleicht …«
»Schnauze!«, brüllte Mancini Comello an. »Du hältst dich da raus!«
Der Ispettore errötete und wich zwei Schritte zurück, bis er an der Wand neben der Tür zum Stehen kam.
»Du hast sie alle mit diesem Messer getötet und dann diese Mails an uns geschrieben. Warum? Warum hast du uns informiert?«
»Der Teufel hat mir gesagt, ich soll es tun. Dass ich bezahlen muss für meine Morde. Und dass die Zeit jetzt gekommen ist.« Der Mann wirkte ernst, antwortete zögernd. Der Commissario wurde ihm langsam unheimlich. Angespannt verfolgte er dessen Lippen und Bewegungen, als dieser erneut zu sprechen begann.
»Erzähl mir, wie du die Frau umgebracht hast, die du an der Basilika San Paolo abgelegt hast.«
»Ich kann nicht. Was ich getan habe … Ich musste das tun. Ich kann nicht.« Seine Stimme klang zum ersten Mal leicht brüchig.
In Amerika hatte Mancini gelernt, dass gefasste Serienmörder zwei Hauptkategorien zuzuordnen waren: Es gab die, die den gesamten Tathergang ganz genau erzählten und jede Einzelheit der Tötungen mit sämtlichen Besonderheiten schilderten. Und es gab Mörder wie den, den er gerade vor sich hatte, solche, die sich der Grausamkeiten schämten, die sie verübt hatten, und sie nicht einmal in Worten nacherleben wollten. Es war an der Zeit, ein wenig zu spielen.
Mancini legte den Kopf in den Nacken und atmete tief durch die Nase ein. »Dann musst du es bei deinem verdammten Dämon schwören. Wenn du es warst, dann schwöre auf den Teufel, dass er dir gesagt hat, du sollst es tun.«
Den kompakten Körper des Mannes durchfuhr ein Zucken, und er stöhnte auf. Wirkte auf einmal erschöpft. »Ich kann nicht.«
Mancini erhöhte den Druck: »Sag es!«, schrie er den Mann an. »Sag es, oder ich bring dich um, hier und jetzt. Das kannst du mir glauben.«
»Das reicht!«, rief Comello mit finsterer Miene.
Der Commissario ließ von dem Mann ab, straffte die Schultern und trat auf Comello zu, nur noch wenige Zentimeter trennten die beiden. Walter starrte den Boden an. So hatte er seinen Vorgesetzten noch nie erlebt, Mancini war ganz offensichtlich am Ende seiner Kräfte, und zum ersten Mal kam Comello der Gedanke, der Commissario sollte den Dienst so schnell wie möglich quittieren.
Und dann, wie aus dem Nichts, entriss der Commissario seinem Ispettore die Beretta aus dem Holster an der rechten Seite und richtete sie auf dessen Magen. Die Luft im Verhörraum schien plötzlich zu brennen. Der Kroate starrte die beiden entgeistert an.
Mancini trat einen Schritt zurück und sagte: »Jetzt halt die Schnauze. Und rühr dich nicht.«
Comello bemerkte, dass sich eine Augenbraue des Commissario bewegte. Ein Zeichen für ihn? Oder nur ein weiterer Tic, bedingt durch den Zorn?
Mancini drehte sich um, ging auf den Kroaten zu, kniete langsam neben dem Mann nieder und zischte: »Ich hab’s dir gesagt, ich bring dich um, hier und jetzt. Und weißt du, warum ich das tue? Hey?« Er holte kurz Luft, dann schnellte seine Faust hoch, sauste auf das Kinn des Ex-Soldaten zu. Die Fingerknöchel in den Handschuhen krachten gegen die Wand hinter dem Kopf des Mannes. »Weil ich vor nichts mehr Angst habe. Weil ich selbst der Teufel bin.«
Der andere zuckte zusammen. Senkte hustend das Kinn, um es vor dem nächsten Schlag zu schützen, der sein Ziel ganz sicher nicht verfehlen würde.
»Weißt du, was ich jetzt mache? Ich nehme die hier«, er hob die Pistole und starrte in den Lauf, »da sind fünfzehn Schuss drin. Und die feuere ich dir ins Gesicht und beweise dir damit, dass sich die Hölle wirklich aufgetan hat. Und dass Satan höchstpersönlich gekommen ist, um dich zu holen.«
Mancinis Stimme war durch eine Wut verzerrt, die er nicht mehr zu kontrollieren vermochte. Der Kroate hob den Kopf, blickte hilfesuchend zu Comello. Doch der Ispettore bemerkte ihn nicht einmal, stand reglos da, wie eine Statue, von einer panischen Angst erfüllt, wie er sie selbst während eines Einsatzes bei der Mordkommission noch nie gespürt hatte. Dann senkte der Mann den Kopf und begann zu weinen.
»Ich habe überhaupt keine Angst mehr. Sieh mich an! Der Teufel, der sitzt hier in mir drinnen.« Mancini schlug sich mit der Faust gegen die Brust.
Er drehte sich zu Walter um. Dessen Miene war angespannt, er schwitzte. »Ich bin voller Tics!« Der Commissario ging einen Schritt auf den Kollegen zu. »Ich schaffe es nicht, von der Flasche loszukommen, ich bin von allem besessen.« Er hob die Hände und betrachtete die Handschuhe, als wären sie voller Blut. »Ich sehe überall Türen, die sich schließen. Mein Kopf explodiert!« Er schlug sich mit der linken Hand drei Mal an die Schläfe und verdrehte die Augen.
Der Kroate wimmerte und zog die Nase hoch wie ein kleines Kind, seine kräftige Gestalt fiel in sich zusammen, bis sie ganz hinter diesen Schluchzern zu verschwinden schien.
»Ich bin ein vom Teufel besessener Psychopath! Aber weißt du, was? Ich habe all diese Scheiße am Hals, aber ich habe trotzdem keine Angst vor dem Sterben. Ich habe keine Angst mehr vor dem Sterben. Denn Satan brennt«, er ging auf Comello zu, »aber er stirbt nicht.«
Der Ispettore suchte nach Worten, die diesen Zorn besänftigen konnten. Und in diesem Moment ging ihm auf, dass all das unterschwellig schon immer in Mancini vorhanden gewesen war. Deshalb also hatte er darauf verzichtet, eine Dienstwaffe zu tragen.
Der Commissario atmete stoßweise, mit bebenden Nasenlöchern, seine Oberlippe zitterte, enthüllte die obere Zahnreihe. Er kniff im Rhythmus der Atemzüge die Augen zusammen. »Fahr zur Hölle! Ich will die vier armen Teufel rächen, die du hingemetzelt hast. Und zwar jetzt.«
Er lud die Waffe vor den Augen Comellos, dessen einziger Gedanke war, dass er jetzt eigentlich einschreiten musste.
»Was zum Teufel ist der Pflug?«, brüllte Mancini, sah hinüber zu dem Stuhl, auf dem der Kroate saß.
»Ich …«
Der Commissario fuhr herum und baute sich nach drei schnellen Schritten neben dem Killer auf. Er hob die Pistole und drückte sie gegen dessen Stirn. »Glaub mir, ich habe vor nichts mehr Angst.« Er entsicherte die Waffe.
Comello schüttelte die Blockade ab, die seine Beine gelähmt hatte, und bewegte sich hinter Mancinis Rücken. Er musste handeln. Sofort.
»Ich weiß es nicht!«, platzte es in diesem Moment aus dem Kroaten heraus.
»Wie war das?« Mancinis Stimme klang mit einem Mal ruhig und kontrolliert. Er senkte den Lauf der Beretta, und Walter blieb stehen.
»Ich habe eine Mail geschrieben. Nur die letzte. Ich habe niemanden umgebracht«, stotterte der Mann verängstigt. »Der Teufel hat mir gesagt, ich muss für die Verbrechen bezahlen, die ich im Krieg begangen habe. Und zwar in diesem Leben, im Gefängnis, wenn ich nicht in die Hölle kommen will. Aber du … Wer bist du? Bist du der Teufel?«
Aus dem Mann strömten nun Tränen und Worte zugleich, als hätte jemand eine Schleuse geöffnet. »Ich … ich träume jede Nacht von ihnen. Von diesen Kehlen. Und von ihren Augen. O Gott!«
Mancini fuhr sich mit einer Hand durch die Haare und stieß einen langen Seufzer aus, dann reichte er Comello, der hinter ihm stand, die Pistole. »Danke, Walter.«
Der Ispettore musterte ihn, unsicher, was er antworten sollte, und auf die Lippen seines Gegenübers stahl sich ein flüchtiges Lächeln. Vielleicht war aber auch allein die Anspannung der Grund dafür, dass sie sich verzogen.
Giulia Foderà betrat den Raum, starrte auf die Rücken von Mancini und Comello. »Was ist hier los? Die Verbindung zur Videokamera wurde unterbrochen.«
»Der da ist ein krankhafter Lügner«, schnaubte der Commissario. Die Staatsanwältin betrachtete den Kroaten. Er saß immer noch gefesselt an seinem Platz, wirkte gebrochen. Die Videokamera stand nutzlos im Raum, das Stromkabel lag auf dem Boden.
»Ich wollte Ihnen das hier bringen.« Sie hielt zwei zusammengeheftete Blatt Papier hoch, und alle drei verließen den Raum. Comello schloss die Tür, zurück blieb der Mann, der begonnen hatte, Gebete und unverständliche Wörter in seiner Muttersprache vor sich hinzumurmeln. Mancini überflog eilig den Text, während sie nebeneinander den langen Flur entlangschritten. Die Ergebnisse der Ermittlungen zu dem Soldaten.
Bruno Petkovic tauchte nicht in der Kartei der Kriegsverbrecher auf. Von 1991 bis 1994 hatte er dem kroatischen Heer der selbst ernannten Republik Bosnien-Herzegowina angehört. Ein schizophrener Paranoiker, der einige Tage zuvor aus der Forensischen Psychiatrie in Montelupo Fiorentino entflohen war. Ein ehemaliger Folterknecht, der aufgrund seiner Kriegserlebnisse unter Wahnvorstellungen litt und vielleicht gedacht hatte, dass eine Gefängniszelle besser wäre als ein Bett zwischen lauter Verrückten.
Das zweite Blatt enthielt die Mail des Kroaten. Der Commissario las sie schnell durch, blieb auf der Hälfte der Treppe abrupt stehen und sah Giulia Foderà entgeistert an.
»Ich weiß.« Giulia Foderà presste die Lippen aufeinander.
Mancini stürmte, gefolgt von Comello, ohne anzuklopfen in das Büro des Polizeipräsidenten. Dort befanden sich außerdem noch Caterina De Marchi und Rocchi.
»Das ist den Experten von der Abteilung für Computer- und Internetkriminalität natürlich nicht aufgefallen! Schaut mal.« Mancini reichte das Blatt an sein Team weiter.
Von: schatten@xxx.com
An: stefanomorini@xxx.it
Betreff: Angst
Dottor Morini,
inzwischen kennen Sie mich.
Sie haben gesehen, was ich einem menschlichen Körper antun kann. Sagen Sie der Polizei, dass ich wieder töten werde.
Und es wird bald geschehen.
Der Schatten
Alles, vom Absender bis zur Unterschrift, verwies auf eine Fälschung, hinter allem stand: »Ich bin ein pathologischer Lügner.« Ein Mythomane, der die Nachrichten in den Zeitungen verfolgt und daraus diese absurde Mail gebastelt hatte. Wie hatte der Polizeipräsident darauf hereinfallen können?
Vincenzo Gugliotti saß an seinem Schreibtisch, das Gesicht in den Händen vergraben.
»Das ist ein krankhafter Lügner!«, stieß der Commissario hervor.
Der Polizeipräsident nickte schweigend. Nahm die Hände vom Gesicht, beugte sich über die Computertastatur, tippte etwas ein und drehte den Bildschirm zu den anderen um. Kurz darauf war das Bild der Überwachungskamera im Eingangsbereich des Polizeipräsidiums wenige Meter unter ihnen zu sehen. Vier Ü-Wagen, viele Fotografen, Kameramänner und ein Dutzend Reporter hatten sich vor dem Haupteingang aufgebaut.
»Ein krankhafter Lügner. Das geht klar aus dieser Mail hervor. Aber falls Ihnen das nicht reicht«, der Commissario nickte in Richtung Bildschirm, »Ihr Mörder hat vor fünf Minuten alles zugegeben!«
Gugliotti wusste nicht, wo er hinschauen sollte, in das Gesicht des Mannes, der ihm Vorwürfe machte, oder in die enttäuschten und besorgten Gesichter der anderen, darunter auch Giulia Foderà.
»Sehen Sie mich an!«, brüllte Mancini.
Der Staatsanwältin schauderte, und Comello dachte für einen Moment, er würde gleich noch so eine Szene erleben wie eben. Gugliotti war dem Commissario wehrlos ausgeliefert, genau wie zuvor der kroatische Henker.
Der Polizeipräsident hatte geglaubt, den Serienmörder gefasst und einen Schlussstrich unter diese lästige Angelegenheit gezogen zu haben. Und zwar ohne die Hilfe von Mancinis Team. Er hatte an einen der klassischen Glücksfälle geglaubt und den Commissario absichtlich außen vor gelassen.
»Verzeihen Sie, Dottor Mancini. Ich bitte Sie …«
Der Commissario musterte den zitternden Polizeipräsidenten, las Scham und Angst in dessen erschöpftem Blick und empfand plötzlich Mitleid. Gugliotti stand unter dem enormen Druck seiner Vorgesetzten, der öffentlichen Meinung und der Presse und brauchte unbedingt einen Schuldigen.
»Warum hat die Abteilung für Computer- und Internetkriminalität die Mail nicht sofort an uns weitergeleitet?«
Mancini legte die Handflächen auf den Rand des Schreibtischs und beugte sich zu dem Polizeipräsidenten hinunter. Auf seinem Gesicht stand ein Ausdruck, der nicht zu deuten war, den Walter aber kurz zuvor schon einmal gesehen hatte.
»Es tut mir leid, Commissario …«
»Ab sofort gehen alle Informationen aus dem Präsidium und der Abteilung für Computer- und Internetkriminalität über Dottoressa Foderàs und meinen Tisch. Oder ich lasse Sie in diesem Chaos untergehen, Gugliotti.«
Mancini deutete mit dem Kopf auffordernd in Richtung Tür, woraufhin alle aus seinem Team, auch die Staatsanwältin, ihm hinaus aus dieser Schaltzentrale der Macht folgten.