18

Rom, Samstag, 13. September, 11:00 Uhr

Das Büro des Polizeipräsidenten Vincenzo Gugliotti war von seiner jungen Sekretärin Patty mit IKEA-Möbeln eingerichtet worden: Schiebegardinen, dunkles Glas, ein großer Schreibtisch mit Chefsessel, davor vier Stühle, versammelt in diesem Raum in der leicht heruntergekommenen Erhabenheit des Polizeipräsidiums zwischen dem Quirinalspalast und der Via Nazionale. Dieser Ort vermittelte ein Gefühl beängstigender Leere, das Mancini nur zu gut kannte. Jenes Nichts, das sich in den bürokratischen Mühlen seines Landes, einschließlich der Justiz, eingenistet hatte.

Als er über die Schwelle trat, fiel ihm sofort der deutliche Gegensatz zwischen der finsteren Miene Comellos und dem zufriedenen Blick Gugliottis ins Auge. Letzterer erhob sich und kam ihm mit einem breiten, zähneblitzenden Lächeln entgegen, das dem eines schmierigen Teleshop-Verkäufers in nichts nachstand. Der Commissario heftete es im Kopf unter den Dingen ab, die ihm an diesem Mann missfielen, ebenso wie das künstliche Strohblond der schütteren Haare, Restposten der Mähne aus seiner Zeit beim mobilen Einsatzkommando.

Gugliotti war nach seinem Studium der Politikwissenschaften Ende der Sechzigerjahre in den Polizeidienst eingetreten und nach Abschluss der Ausbildung dem Revier Mailand zugeteilt worden, wo er im Streifendienst angefangen hatte, bis er 1972 zum mobilen Einsatzkommando wechselte. Zehn Jahre später ging er in der gleichen Funktion nach Bari. 1986 wurde er Leitender Polizeidirektor der Antiterrorabteilung DIGOS, 1994 zum Polizeipräsidenten befördert und ins Präsidium von Livorno versetzt. Schließlich war er über mehrere Karrierestationen im Norden des Landes am 3. Februar 2004 in Rom gelandet.

Dort war Mancini auf ihn getroffen, nach der Rückkehr von seiner Fortbildung in Virginia. Und dort konnte er ihn sich auch für die Zukunft vorstellen, hinter jenem minimalistischen Schreibtisch ohne jegliche Ausstrahlung. Immer auf strikten Gehorsam erpicht, allein aus Lust an der Demonstration seiner Macht.

»Commissario. Danke, dass Sie gekommen sind«, begann Gugliotti jovial.

»Guten Tag«, entgegnete Mancini knapp und hatte beim Händeschütteln das Gefühl, einen in Plastik abgepackten Schinken zu drücken. Dann wandte sich er sich an Walter: »Guten Tag, Ispettore.«

»Dottore«, gab Comello zurück, ohne aufzublicken.

»Ich bin so schnell wie möglich hergekommen. Ich nutze ausschließlich den öffentlichen Nahverkehr«, erklärte Mancini.

»Jaja, wir wissen, dass Sie kein Auto fahren und so weiter …« Gugliotti sah verstohlen auf Mancinis behandschuhte Finger, die sich eben aus seiner Umklammerung gelöst hatten, »aber keine Sorge. Ich habe Sie gerufen, weil …«

In dem Moment betrat Giulia Foderà das Büro, deren Erscheinen sich bereits mit dem weit vernehmbaren Klappern ihrer Zehn-Zentimeter-Absätze angekündigt hatte. »Einen guten Tag allerseits«, sagte sie, ohne einen der Anwesenden direkt anzusehen, machte drei Schritte in den Raum und platzierte ihre Handtasche auf einem der Stühle. Sie trug eine ockerfarbene Bluse und einen schwarzen Schal, dazu Jeans und Wildlederstiefel. Eine deutlich lässigere Kleidung, bemerkte Mancini, als noch wenige Stunden zuvor am Fundort der Leiche im Schlachthaus.

»Dottoressa Foderà.« Comello sprach leise.

»Giulia, willkommen.« Der Polizeipräsident setzte erneut das breite Lächeln auf, das er eben Mancini geschenkt hatte.

»Vincenzo, lass uns bitte anfangen, ich muss gleich ins Gericht.«

»Ja, natürlich.«

Giulia Foderà trat hinter den Schreibtisch und setzte sich auf den Bürostuhl des Präsidenten, Mancini nahm auf einem freien Stuhl davor Platz. Der Polizeipräsident blieb stehen.

»Wie Sie alle wissen, hat man mich nach dem Fund von Nora O’Donnells Leiche mit der Koordinierung der Ermittlungen beauftragt …«, begann die Staatsanwältin.

»Aber nachdem am Donnerstag, dem 11., beim Gasometer das zweite Opfer und am Freitag, dem 12., das dritte im Schlachthof von Testaccio gefunden wurde …«, unterbrach Gugliotti sie und schüttelte sichtlich besorgt den Kopf.

»… sind wir gezwungen, ein Team zusammenzustellen, das dem Polizeipräsidenten und mir Bericht erstatten wird«, beendete Giulia Foderà seinen Satz.

»Ein Team, das Sie leiten werden, Mancini«, bestimmte Gugliotti. »Schließlich sind Sie auf diesem Gebiet eine Kapazität, deren Ruf und Professionalität außer Frage stehen.«

Mancini schlug die Beine übereinander und presste beide Hände auf sein Knie in dem Versuch, seine wachsende Verärgerung zurückzudrängen.

»Für mich sieht das alles nach einem Zufall aus. Es gibt keine Verbindung zwischen den drei Fällen, zumindest bis jetzt nicht. Nichts deutet darauf hin, dass hier ein und dieselbe Hand am Werk war …«, hob er an.

»Ich muss Sie unterbrechen, Commissario. Schauen Sie sich das hier an.« Die Staatsanwältin holte die aktuelle Ausgabe der Repubblica aus der Tasche auf dem Stuhl, entfaltete die Zeitung und hielt sie vor sich. Die Schlagzeile auf der ersten Seite der Lokalnachrichten für Rom lautete:

SAN PAOLO – GASOMETER – TESTACCIO
DAS DREIECK DES TODES

»Das heißt noch lange nichts. Vor allen Dingen nicht, dass es sich wirklich um einen Serienmörder handelt.«

»Also, Mancini, sagen wir mal so«, sagte Gugliotti entschieden. »Wenn es den Serienkiller gibt, dann werden Sie ihn finden, der Justiz übergeben und dieser Verbrechensserie ein Ende setzen. Wenn es ihn nicht gibt, werden Sie eben beweisen, dass es sich um Einzeldelikte handelt, damit bringen wir dann zumindest die Zeitungen zum Schweigen.«

»Tatsache ist …«, begann Mancini, sichtlich erregt.

»Eine andere Option gibt es nicht. Da die Presse uns im Nacken sitzt, müssen wir schnell Erklärungen für diese Leichen finden. Auf die eine oder andere Art«, fuhr Gugliotti fort. »Für die öffentliche Meinung und für jeden anderen, der uns damit bedrängt«, schob er zwischen zusammengepressten Lippen nach.

»Vielleicht auch, um Gerechtigkeit zu üben«, murmelte Comello von seinem Stuhl.

»Wie meinen Sie, bitte?«, fragte der Polizeipräsident gereizt.

»Ach nichts.«

»Ispettore Comello, Ihre Undiszipliniertheit haben Sie ja bereits unter Beweis gestellt.« Gugliottis Füllerspitze war auf Comello gerichtet.

»Aber nur weil ein Kollege handgreiflich geworden ist …«

»Wie war das, bitte?«, hakte Gugliotti erneut nach.

»Nichts.« Comello starrte mit zusammengepressten Lippen vor sich hin.

»Gut.« Der Polizeipräsident musterte ihn noch einmal streng.

Mancini senkte den Blick und starrte auf den Boden zwischen seinen Füßen. Dort tummelten sich wild durcheinander zahllose graue Bruchstücke auf cremefarbenem Untergrund. Terrazzoplatten, Zement vermengt mit Marmorgranulat, in den Fünfzigerjahren weit verbreitet. Nichts Besonderes. Aber wie schön es doch aussah, ein Hauch von Antike. Mancini fühlte sich an seine Kindheit erinnert, das Haus der Großeltern war eine einzige Collage dieser kleinen Kunstwerke: schwarz mit hellen Mustern im Wohnzimmer, rosa und rötlich in den Schlafzimmern und weiß in der Küche. Sie wirkten beruhigend und anheimelnd. Sein Blick verlor sich zwischen den unzähligen Formen, die sich aus diesem Durcheinander immer wieder aufs Neue herausbildeten. Unendliche Kombinationsmöglichkeiten.

»Wie schon gesagt …«, wiederholte Giulia Foderà etwas lauter. Mancini schaute auf, projizierte die winzigen Stückchen auf das Gesicht der Staatsanwältin, ein leises Pfeifen in den Ohren, der Kopf wie mit Watte gefüllt, die Hände in den Lederhandschuhen schweißnass.

»Geht es Ihnen gut, Commissario?«

»Fahren Sie fort«, sagte Mancini hastig.

»Gut, dann sehen Sie sich vor allem das hier an.« Sie zog ein Exemplar des Messaggero hervor und reichte es ihm.

DRITTER TOTER IN EINER WOCHE –
POLIZEI TAPPT IM SCHATTENDUNKEL

Mancini schüttelte seine Betäubung ab und runzelte die Stirn. »Aber wie hat denn die Presse …«

»Ein pensionierter Journalist vom Messaggero, Stefano Morini, hat eine Mail erhalten«, erklärte der Polizeipräsident schnell und reichte Mancini ein Blatt Papier. »Ein alter Mann, an Parkinson erkrankt. Er hat es mit der Angst zu tun bekommen und das hier einem ehemaligen Kollegen bei der Zeitung weitergeleitet, der so vernünftig war, uns anzurufen und es uns zu schicken.«

»Ist das der Mann, der den Mord an dem Mönch gemeldet hat?« Mancini hielt das Blatt dicht vor seine Augen.

Von: schatten@xxx.it

An: stefanomorini@libero.it

Betreff: Scherben aus Fleisch

02:05–12. September 20xx

Sehr geehrter Dottor Morini,

der zweite der Tode Gottes ist vollbracht. Doch die Gerechtigkeit wird erst siegen, wenn der Pflug die letzte Furche zieht.

Sie kennen mich nicht. Niemand kennt mich.

Mein Name ist nicht von Bedeutung.

Ich bin nur ein Schatten.

»Das ist eine Signatur«, flüsterte Mancini mit hochgezogenen Augenbrauen.

»Und die Worte im Betreff sind ein Wortspiel, das sich auf den Fundort der Leiche bezieht«, sagte Gugliotti.

»Zu Zeiten der Römer«, meldete sich Giulia Foderà zu Wort, »befand sich an diesem Abschnitt des Tiber eine Anlegestelle für Lastkähne. Im Verlauf der Zeit haben sich dort so viele zerbrochene Amphoren angesammelt, einst gefüllt mit Lebensmitteln, dass sich richtiggehend ein Hügel aufgetürmt hat.«

»Mehr als zwanzig Millionen Scherben«, bestätigte Gugliotti.

»Daher leitet sich auch der Name des Monte Testaccio ab – Scherbenhügel. So habe ich zumindest diesen Betreff Scherben aus Fleisch verstanden, nachdem ich die Kopie der Mail erhalten hatte. Vor meinem Anruf bei Ihnen, Mancini«, erläuterte die Staatsanwältin abschließend.

»Ausgezeichnet, Giulia«, lobte der Polizeipräsident mit unverhohlenem Eifer. »Aber leider hat dieser Journalist, Stefano Morini, die Mail zuerst dem ehemaligen Kollegen zukommen lassen. So ein verdammtes Arschloch!«

Mancini überging die letzte Bemerkung. »Hat die Abteilung für Computer- und Internetkriminalität die Ermittlungen aufgenommen?«

»Selbstverständlich«, erwiderte Gugliotti mit finsterem Blick.

»Und was ist dabei herausgekommen?«

»Das können wir noch nicht sagen, es ist noch zu früh«, warf die Staatsanwältin ein. »Wir müssen jetzt dringend eine Spezialeinheit bilden. Und Erklärungen finden, die wir den Zeitungen und der Öffentlichkeit präsentieren können.«

Als sie schwieg und allen klar war, dass die Einführung damit beendet war, durchzuckte Enrico Mancini ein Schauer, der sich nach außen in einem kurzen Zittern zeigte.

»Was sagen Sie dazu, Mancini?« Gugliotto war nun wieder reserviert und förmlich.

Der Commissario warf Giulia Foderà einen Blick zu. »Zwei Dinge.«

»Raus damit.« Sie hielt seinem Blick stand.

»Erstens: Die Mail enthält mindestens fünf Punkte, die für die Ermittlungen von Belang sein könnten.«

»Und die wären?«, fragte Gugliotto.

»Die Signatur, die sowohl im Absender als auch am Ende der Mail auftaucht. Das Wortspiel zum Fundort der Leiche im Betreff. Die Tatsache, dass der Absender ein Rätsel einsetzt, um uns einen unbekannten Sachverhalt mitzuteilen. Die Reihung der Tode Gottes und schließlich die Art und Weise, wie diese mit dem nächsten Satz über die Gerechtigkeit und die Pflugfurchen verbunden ist.«

»Ein religiöser Fanatiker?«, unterbrach ihn Comello.

»Schon möglich, aber um das mit Bestimmtheit sagen zu können, müssen wir die Fundorte genauer untersuchen und die Autopsieberichte noch einmal durchgehen.«

»Gut. Was haben Sie in dieser Mail noch entdeckt?«, fragte Gugliotti.

»Die Serie«, fuhr der Commissario fort. »Wenn das stimmt, was der Mörder schreibt, dann bilden die Morde eine Serie, und der Mönch war das zweite Opfer.«

»Und wer war dann das erste?«

»Die Irin, Nora O’Donnell«, warf Foderà ein.

»Schon möglich«, wiederholte Mancini. »Aber warum hat unser Mann dann in Bezug auf sie keine Mail geschickt, in der er den ersten der Tode Gottes verkündet? Könnte das vielleicht bedeuten, dass es doch eine frühere Mail gibt? Außerdem sollten wir die andere verdächtige Leiche nicht vergessen.«

»Die vom Gasometer«, meldete Comello sich. Er folgte der schrittweisen Argumentation des Commissario aufmerksam.

»Und wenn diese ebenfalls das Werk desselben Täters ist, wie Sie annehmen …«, Mancini ließ die Worte auf den Polizeipräsidenten wirken.

»Was dann?«, fragte Gugliotti.

»… dann könnte das bedeuten, dass auch die dritte Mail fehlt. Die Nummer drei.«

»Also sind zwei Mails irgendwo hängen geblieben«, schloss die Staatsanwältin.

Nach kurzem Schweigen fuhr Mancini fort: »Ein forensischer Informatiker sollte sich die digitale Quelle der Mail mal ansehen, sobald die Abteilung für Computer- und Internetkriminalität mit ihrer Arbeit fertig ist. Und einer von uns müsste so schnell wie möglich Stefano Morini befragen.«

»Sie haben vollkommen freie Hand«, lächelte der Polizeipräsident zufrieden. »Das erste Mitglied Ihres Teams ist Ispettore Comello.«

Der nickte zustimmend.

»Dann weise ich Ihnen einen Gerichtsmediziner zu.«

»Wir dachten an Rocchi, wenn es Ihnen recht ist«, fügte die Staatsanwältin hinzu. Mancini reagierte nicht.

»Dottoressa Foderà wird die Ermittlungen koordinieren.« Gugliotti suchte in den Gesichtern von Comello und Mancini nach Anzeichen von Enttäuschung. Vergeblich. »Brauchen Sie sonst noch etwas?«, fragte er dann.

»Einen Stützpunkt, zu dem weder Neugierige noch Kollegen Zutritt haben. Plus eine weitere Bedingung. Und die Zusage für die Supervision durch Professore Biga.«

»In Ordnung«, antwortete der Polizeipräsident, der bei den letzten Worten Mancinis den Mund verzogen hatte.

»Nennen Sie uns so schnell wie möglich Ihre letzte Bedingung«, bat Foderà.

»Was die Location betrifft, kann ich Ihnen bis heute Abend Bescheid geben«, ergänzte Gugliotti.

»Nein«, widersprach Mancini knapp. Er stand auf und deutete auf einen Punkt auf dem Stadtplan von Rom neben ihnen an der Wand. »Dort wäre gut.«

»Wo?«, wollte Gugliotti wissen.

»Dort«, wiederholte Mancini.

Comello erklärte: »Die ehemalige landwirtschaftliche Genossenschaft.«

»Und was genau ist da?«, fragte Giulia Foderà.

»Das war bis in die Fünzigerjahre das Getreidelager für den Süden Roms. Als der Hafen noch in Betrieb war. Später wurde es dann anders genutzt: Im Erdgeschoss befinden sich ein kleiner Supermarkt und ein Multiplex-Kino«, erklärte Comello.

»Im Untergeschoss liegen die Räumlichkeiten einer Wettannahmestelle, die allerdings schon wieder geschlossen hat. Sie sind für unsere Zwecke optimal geeignet. Mehrere kleine Räume, alle mit Internetzugang. Das Ganze steht seit Jahren leer, nachdem es im Rahmen einer Untersuchung über den Chef der kriminellen Holding aus dem Dunstkreis der Magliana-Bande beschlagnahmt wurde. Dort wird uns niemand belästigen«, sagte Mancini.

»Aber warum ausgerechnet dort?«, fragte Foderà ungehalten. »Da ist es doch sicher ziemlich feucht.«

»Weil derjenige, der sich die Schlagzeile in der Repubblica ausgedacht hat, eine Sache klar erkannt hat«, zischte Mancini. Er warf ihr einen eindringlichen Blick zu, dem sie jedoch auswich.

»Das Dreieck des Todes.« Comello nickte.

»Das ist doch bloß dummes Pressegeschwätz! Mensch, Mancini«, brauste Gugliotti auf.

Der Zeigefinger des Commissario schob sich auf dem Stadtplan ein paar Zentimeter weiter und beschrieb dann einen Bogen um die Hafengegend. »Das hier ist der Zentroid. Das Zentrum des Dreiecks. Sein möglicher Zufluchtsort.« Mancini durchschritt den Raum bis zum Fenster.

»Dieser Punkt liegt von allen Tatorten gleich weit entfernt«, nickte die Staatsanwältin zustimmend.

»Ja, auch wenn es eigentlich die Fundorte sind und wir nicht wissen, wo die Opfer ermordet werden«, berichtigte der Commissario.

»Und was folgt daraus?«, fragte Foderà.

»Daraus folgt, dass er wahrscheinlich aus einem uns unbekannten Grund wieder zuschlagen wird und dass er, wenn er das tut, die nächste Leiche auch wieder irgendwo dort in der Nähe ablegen wird.« Mancini hatte den anderen den Rücken zugewandt.

»Aber Mancini, was reden Sie denn da?« Der Polizeipräsident wurde laut. »Sie müssen ihn vorher schnappen!«

Comello schaute kurz in Richtung des Commissario, dessen reglose Silhouette sich vor dem Fenster abzeichnete, an dem der heftige Regen in Rinnsalen herablief. Dann gab er einen seiner Lieblingssätze von sich: »Lektion Nummer zehn: Wenn ein Mensch einmal mit dem Morden begonnen hat, kann er nicht mehr aufhören.«

Gugliotti starrte ihn verwirrt an, als hätte Comello gerade etwas völlig Abwegiges geäußert. Er wandte sich an Mancini:

»Commissario, vielleicht ist Ihnen die Lage nicht hinreichend klar: Wir haben keine Zeit. Uns sitzt die Presse im Nacken. Und die da oben. Wir können uns keine weiteren Leichen leisten.«

»Die Wahrheit, Dottor Gugliotti, ist doch folgende: Wenn die Leiche, die am Gasometer gefunden wurde, tatsächlich die dritte in einer Mordserie ist … dann steht doch fest, dass es, egal was der ›Pflug‹ bedeutet, noch weitere Todesfälle geben wird.«

»Nicht, wenn Sie und Ihr Team es verhindern. Wir richten Ihnen auch Ihre Büros in der Genossenschaft ein«, warf Gugliotti schnell ein, der bleich geworden war. Er griff zum Telefon.

»Warten Sie!« Mancini drehte sich ihm ein Stück weit zu. Das feuchtdumpfe Licht, gegen das sich sein Profil von links nun abzeichnete, verlieh ihm eine beinahe durchsichtige Silhouette.

»Was wollen Sie denn noch, Commissario?«

»Ich hatte vorhin von einer weiteren Bedingung gesprochen. Und das ist sie: der Fall Carnevali.« Mancinis Blick ruhte ernst auf der Staatsanwältin.

»Commissario«, widersprach Gugliotti sofort verärgert und ließ das Telefon sinken. »Den wird ein anderer übernehmen. Sie leiten das Team so lange, bis diese Geschichte abgeschlossen ist. Und Sie müssen sich ranhalten.«

Mancini wandte den Blick langsam aus Richtung der Staatsanwältin zu Gugliotti und sah ihm tief in die Augen. »Nein.«

»Wie bitte?« Gugliotti suchte in den Gesichtern der anderen nach Verbündeten, bemerkte den verwunderten Ausdruck der Staatsanwältin.

»Wenn Sie wollen, dass ich die Leitung des Teams übernehme, dann müssen Sie die Ermittlungen im Fall Carnevali auf Eis legen.«

Comello hatte es ebenfalls die Sprache verschlagen. Giulia Foderà musterte den Commissario ungläubig.

Gugliotti zwang sich zu einem Lächeln, seine anfängliche Verblüffung wich wachsender Verärgerung. »Commissario, Sie sind nicht in der Position, mir Bedingungen zu diktieren, und ich glaube …«

»Wagen Sie es nicht, den Fall einem anderen zu übergeben.« Mancini trat zwei Schritte vor. Er war laut geworden, klang immer noch fest entschlossen.

Gugliotti wich unmerklich zurück, die blonden Augenbrauen hochgezogen, der Mund vor Zorn verzerrt. Oder vor Angst. »Ich habe hier das Sagen! Und ich erkläre Ihnen …«

Er kam nicht dazu, seinen Satz zu beenden.

»Haben Sie verstanden?«, fuhr Mancini ihn an. Gugliotti wich zurück, als der Commissario sich ihm weiter näherte und dessen Blick sich in seine Augen brannte. Sein Gesicht war kalkweiß geworden.

»Mein Gott, Mancini! Ihnen geht es nicht gut. Ich sollte …«, begann er.

»Haben Sie verstanden?« Mancini stieß die Silben knapp und gepresst hervor. Und blieb stehen.

Comello trat an den Commissario heran und packte ihn am Arm, wollte ihn fortzuziehen, aber Mancinis Körper verharrte reglos wie eine Marmorstatue.

»Commissario, nun kommen Sie schon …« Die weiche Stimme von Giulia Foderà drang an Mancinis Ohr und brach den Bann, sodass Comello ihn schließlich mit sich führen konnte.

Als sie an dem Polizeipräsidenten vorbeigingen, glitt Mancinis Blick kurz über dessen zitternde Gestalt. Gugliotto war schweißüberströmt, ein feuchter Film bedeckte seine Wangen und den Hals bis zum Hemdkragen, seine Augen blickten leer, in seinem Inneren tobte ein Kampf zwischen Panik und Selbstbewusstsein.

Mancini blieb stehen und fügte, ehe Comello ihn aus dem Zimmer befördern konnte, in höflichem, aber merkwürdigerweise umso unpassenderem Ton hinzu: »Keine Anzeichen sexueller Gewalt, Nekrophilie oder Kannibalismus. Keine Hinweise auf Waffen an den Fundorten. Unser Mann ist ein organisierter Täter, klar im Kopf und methodisch. Einer von denen, die nicht von selbst aufhören, Gugliotti. Die so lange weitermachen, bis sie den Plan in ihrem Kopf vollendet haben.«

Der Polizeipräsident musterte ihn verwirrt mit halb geöffnetem Mund. Mancini kniff zweimal fest die Augen zu und sagte schließlich: »Legen Sie den Fall Carnevali auf Eis. Und geben Sie mir das schriftlich. Dann haben Sie morgen früh Ihr Team, Dottor Gugliotti.«

Schattenkiller
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