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Rom, Dienstag, 9. September, später Vormittag

Um elf Uhr betrat Commissario Enrico Mancini mit seinen eins siebenundachtzig, den ausgeblichenen Trenchcoat eng um den Leib geschnürt, gemächlichen Schrittes die Polizeiwache des Reviers Garbatella, jenen hässlichen ockergelben Betonklotz im rationalistischen Stil, dessen einfallslose Geradlinigkeit für den jetzigen Verwendungszweck wie geschaffen schien.

Mancini fischte ein Päckchen Kaugummi aus der Tasche seiner Jeans, riss es auf und schob sich einen Streifen in den Mund. Commissario Lo Franco erwartete ihn schon in seinem Büro mit den zwei roten Sesseln und Zimmerpflanzen in jeder Ecke.

»Dario.«

»Enrico, wie geht’s?« Sein Gegenüber musterte ihn durch die Gläser seiner rechteckigen Brille.

»So lala.« Mancini ließ sich in einen der Sessel vor dem Schreibtisch fallen. »Ich arbeite am Fall des vermissten Dottore Carnevali«, sagte er, augenscheinlich mehr zu sich selbst.

»Ich habe davon gehört.« Lo Franco richtete den linken Bügel seiner Brille, der mit Klebeband befestigt war.

»Aber es gibt nichts Neues, von einer Spur ganz zu schweigen«, fuhr Mancini fort. »Hier, sieh dir das an.« Er holte den Messaggero aus der geräumigen Tasche seines Trenchcoats und zeigte Lo Franco die Schlagzeile der Lokalseite.

RÖMISCHER CHIRURG VERSCHWUNDEN
ENTFÜHRUNG ODER LIEBESFLUCHT?

»Wenn die nichts zu schreiben haben, saugen sie sich eben was aus den Fingern.« Lo Franco kniff seine kleinen dunklen Augen unter dem spärlichen roten Stoppelschopf zu jenem schroffen Ausdruck zusammen, der so typisch für ihn war.

»Du weißt, warum ich hier bin, oder?«

»Klar, Gugliotti hat mich angerufen.«

»Und – was hat er dir gesagt?«, fragte Mancini trocken.

»Ich soll dich vorübergehend mit rumschnüffeln lassen. Aber, na ja … Wenn es ganz dumm läuft und das nur der Anfang ist, wirst du demnächst sowieso bis zum Hals mit drinstecken«, warnte Lo Franco.

Mancini ließ seine Lider für einen Moment entspannt ruhen, dann riss er sie wieder auf und zwinkerte mehrfach heftig, wie bei einem plötzlichen Tic. »Es tut mir wirklich leid für die arme Frau, aber es gibt keinen Hinweis darauf, dass es sich um die Tat eines Serienmörders handelt.«

Commissario Lo Franco musterte seinen ehemaligen Teamkollegen. Die schwarzen Locken, die die Ohren halb bedeckten, die hohen Wangenknochen über dem dreieckigen Gesicht, das in einem Grübchen in der Mitte des Kinns auslief. Er wirkte müde, verbraucht, als wäre er über Nacht gealtert. Der kürzliche Tod Marisas nach fünfzehn gemeinsamen Jahren hatte ihn offensichtlich in ein anderes Leben katapultiert. Davon zeugten auch die kleine graue Strähne ganz oben auf dem Kopf sowie einige Falten unter den Augen und die trockenen Lippen, die Mancini auch jetzt wieder befeuchtete. Ein Leben, in dem er sich ganz offensichtlich nicht wohlfühlte.

»Und – wie geht es dir? Du siehst müde aus«, sagte Dario.

»Lass uns keine Zeit verlieren.« Mancini trat auf den Freund zu und nahm ihn am Arm, woraufhin dieser keine andere Wahl hatte, als aufzustehen. »Sag mir, was du über diese Frau weißt, und dann schauen wir, ob ich dir helfen kann.« Er hielt inne, zog die Handschuhe straff bis über die Handgelenke, dann schob er die Akte auf die andere Seite des Schreibtischs und setzte sich wieder, dieses Mal in den anderen Sessel.

Lo Franco beobachtete ihn, fasziniert von den geschmeidigen Bewegungen des Kollegen, die ihn an eine große Raubkatze erinnerten. Er kommentierte es jedoch nicht, sondern setzte sich in den Sessel, den vor einer Minute noch Mancini belegt hatte. »Na gut.« Mit einem Seufzer hob er die Akte an. »Ich habe hier eine erste Rekonstruktion des Tathergangs.«

Mancini schlug die Beine übereinander und beugte sich vor.

»Wir wissen schon einmal, um wen es sich handelt, denn das Opfer hatte seinen Personalausweis bei sich. Nora O’Donnell, eine Irin. Und wir wissen auch, dass sie in einem Pub in Santa Maria Maggiore gearbeitet hat. Einer der Beamten am Fundort ist Stammgast dort und hat sie wiedererkannt«, erklärte Lo Franco seinem Gegenüber sichtlich zufrieden. »Außerdem haben wir herausgefunden, dass Nora O’Donnell sich gestern Abend, also am achten September, in der Nähe der ENI-Zentrale im Stadtviertel EUR aufgehalten hat. Am See.«

»Sie wurde dort von den Straßenhändlern gesehen.«

Dario sah Enrico ungläubig an. »Woher weißt du …«

Marokko, Bangladesch, Pakistan, Ukraine. Die Straßenhändler aus sämtlichen Winkeln der Erde und nunmehr über die ganze Stadt verteilt waren die eigentlichen Augen und Ohren, vor allem aber der Mund Roms. Das wusste Mancini nur zu genau, hatte er im Austausch gegen einen wertvollen Hinweis doch selbst schon hier und da ein Auge zugedrückt, wenn es um eine abgelaufene Aufenthaltsgenehmigung oder nicht ganz regelkonforme Lizenz ging.

»Erzähl weiter.«

»Also, es scheint nicht so, als hätte jemand versucht, sich ihr zu nähern. Sie ist einfach verschwunden, wenn man so will.«

»Haben wir die Zeugenaussagen der Straßenhändler? Hast du einen von deinen Männern hingeschickt?«

»Ja, aber dabei ist nichts rumgekommen. Außer, dass sie die Frau auf der Fotokopie ihres Personalausweises wiedererkannt haben, die wir ihnen gezeigt haben. Diese Leute muss man schon auf die Wache bringen, damit sie reden. Sie haben Angst, deshalb sagen sie nichts.«

»Verstehe, sie wollen nicht als Spitzel dastehen.« Mancini führte die Hand ans Kinn. »Wie ist sie gestorben?«

»Laut vorläufigem Bericht ist sie erwürgt worden. Sie verlor das Bewusstsein, als der Mörder sie an den Haaren schleifte. An der rechten Schläfe fehlt eine Haarsträhne.«

»Und?«

»Das ist alles. Vielleicht hat er sie in einem Wagen weggebracht.«

»Und dann?«

»Dann … dann hat eine Studentin sie auf dem unbefestigten Gelände neben der Basilika tot aufgefunden.«

»Einzelheiten bezüglich des Auffindens?«

»Die Leiche wurde heute Morgen um 06:50 Uhr entdeckt. Sie war mit einer beigen Jacke bekleidet, die zugeknöpft war und die Verstümmelung verbarg.« Lo Franco entnahm der Akte vier Fotos und hielt sie Mancini hin. »Ein Kreuz: ein senkrechter Schnitt, der unter dem Kinn ansetzt und bis zur Scham geht, der andere verläuft waagerecht von der Milz bis zur Leber. Beide Schnitte wurden sorgfältig genäht. Kurz gesagt: Nachdem er getan hatte, was er wollte, hat unser Mann sich offensichtlich gedacht, doppelt hält besser, und sowohl die Schnitte als auch die Jacke ordentlich verschlossen.«

»Was aber wollte er?«, fragte Mancini leise.

»Ins Blaue gesprochen würde ich sagen, dass es sich um ein Ritual handelt.« Lo Franco reckte das Kinn und richtete den Blick nachdenklich auf einen Punkt an der Zimmerdecke. »Der Mund ist mit Angelschnur zugenäht und die Zunge wurde … an der Wurzel ausgerissen. So steht es im Bericht: ausgerissen. Die Zunge wurde nicht bei der Leiche gefunden. Sie ist also verschwunden«, schloss er ein wenig verlegen. Dann schüttelte er langsam den Kopf und fügte, kaum hörbar, fast wie ein Geständnis, hinzu: »Ich habe so etwas hier bei uns noch nie gesehen.«

»Kann ich mir vorstellen«, antwortete Mancini ebenso gedämpft.

Und das stimmte, Italien war schließlich nicht Amerika. Rom war nicht Wisconsin und dieses Grauen war nicht das Werk eines Serienkillers wie Ed Gein. Trotzdem war Mancini immer wieder verblüfft, wie fassungslos Menschen waren, was die Existenz von Serienkillern oder den Anblick verstümmelter Leichen oder brutaler Morde im Fernsehen betraf. Für ihn galt das nicht. Schon lange nicht mehr. Die jahrelange Arbeit bei der UACV, der Einheit zur Analyse von Gewaltverbrechen, das Studium der Kriminalpsychologie bei Professor Carlo Biga und seine Fortbildung im Bereich Criminal Profiling in Quantico, Virginia, dazu die Leidenschaft für forensische Anthropologie, die er mit seinem früheren Dozenten teilte, hatten Mancini zu einer in Italien beinahe einzigartigen Kapazität auf seinem Gebiet gemacht. Einst war er stolz auf diesen Status gewesen. Aber diese Zeit gehörte einem Leben an, das Lichtjahre entfernt war.

Es erstaunte ihn, dass selbst seinen Kollegen angesichts solcher Verbrechen die Worte fehlten. Dem armen Dario ging es anscheinend nicht anders. Doch was wusste er schon vom Grauen? Wenn es eben nicht um einen einzelnen Tod ging, einen Auftragsmord, ein Eifersuchtsdelikt, sondern um Tod, der nicht in der Einzahl daherkam, Morde, die nach Plan verübt und zelebriert wurden. Was wusste er über das Gehirn wahnsinniger Verbrecher, über deren Scharfsinn, Strategien und Rituale? Über den durchdringenden Verwesungsgeruch, der einem beim Betreten eines Schuppens entgegenschlug, der sich in ein Schlachthaus für menschliches Fleisch verwandelt hatte? So riecht die Hölle, dachte er jedes Mal, wenn er ihn wahrnahm.

Also, was konnte er schon von ihm erwarten? Dario war achtundvierzig, seit dreißig Jahren im Dienst, seit fünfundzwanzig mit Donna aus Lafayette, Louisiana, verheiratet. Ein Familienmensch, Vater von George und Lucy, achtzehn und dreizehn Jahre alt. Häuschen samt Schäferhund, winzigem Garten und ordentlich zwischen zwei Weiden gespannter Hängematte, ganz in der Nähe der Wache. Er war immer noch derselbe wie früher, hatte sich nicht sehr verändert, außer vielleicht, dass ihm inzwischen ein paar Haare fehlten. Ein sanfter Mann, der trotzdem beherzt eingreifen konnte, wie Mancini von ihrer gemeinsamen Zeit bei der Drogenfahndung wusste. Er hatte vonseiten seines Kollegen immer eine Art Neid gespürt, wenn auch wohlwollend, wegen der Karriere, die Enrico bis in die Vereinigten Staaten gebracht hatte. »Grüß mir meine Heimat«, hatte Donna jedes Mal mit diesem harten amerikanischen T gesagt, wenn sie sich alle vier auf eine Pizza am Viale di Trastevere trafen.

Marisa saß dann am oberen Ende des Tisches – er sah sie regelrecht vor sich –, in einem edlen Rollkragenpullover. So wie im Dezember, vor einem Jahr. »Eine Capricciosa, oder?«, hatte sie ihn neckisch gefragt, da sie wusste, dass Enrico immer das Gleiche wählte. Sie bestellte in der Pizzeria stets nur gefüllte Reiskroketten und Stockfischfilet und hatte sich über Lo Franco lustig gemacht: »Pizza isst man mit den Händen, Commissario!«

Mancini versuchte, die Erinnerungen abzuschütteln, konzentrierte sich auf die Fotos in seiner Hand. »Abgesehen von ihrem Ausweis und den Tatsachen, dass sie in einem Pub arbeitete und am See gesehen wurde, wissen wir nichts über diese Frau? War sie verheiratet? Hatte sie Kinder? In welchem Umfeld hat sie sich bewegt?«

Lo Franco blätterte in einem roten Büchlein nach seinen Notizen. »Sie lebte schon ewig in Italien, fast zwanzig Jahre. Unterrichtete auch Englisch an einer kleinen Privatschule. Hinter ihrem Ausweis lagen eine Zugangskarte und ihr Unterrichtsplan. Sie hat seit Beginn des Sommers dort gearbeitet. Das ist alles.«

»Okay.«

»Bis jetzt haben wir nichts Weiteres gefunden.«

»Verstehe.« Mancini legte das Kinn zwischen Daumen und Zeigefinger.

»Einer unserer Männer kümmert sich darum, vielleicht stößt er ja noch auf etwas. In ein paar Tagen wissen wir mehr.«

»Wer war am Fundort?«

»Ein Streifenwagen mit zwei Beamten.«

»Und dann?«

»Wurde ich informiert und habe den Bereich sofort absperren lassen.«

»Hast du mit jemandem im Polizeipräsidium gesprochen?«

»Ja, mit dem Leiter der Bereitschaftspolizei.«

»Und die Staatsanwaltschaft?«

»Kam eine Stunde nach dem Fund der Leiche.«

»Wer?«

»Dottoressa Foderà.«

»Giulia Foderà?«

»Hm … attraktiv, oder?«

»Sie macht ihren Job sehr gut«, fertigte Mancini ihn kurz ab.

»Freust du dich, dass sie dabei ist?«

»Ja«, gab Mancini zu.

»Wirklich?«

»Ja, wirklich, denn dann braucht ihr mich nicht.«

»Aber Gugliotti …«

»Giulia Foderà wird sich zeitnah um die Ermittlungen kümmern, und ich kann ich mich dann wieder auf den Fall Carnevali konzentrieren.«

Lo Franco schien bestürzt, was Mancini jedoch ignorierte. »Welche Untersuchungen hat die Staatsanwältin angeordnet?«

»Vor Ort waren die Leute und Fotografen von der Spurensicherung, mit irgendwelchem Hightech- Spielzeug, die …«

»Wer noch?«, drängte Mancini.

»Der Gerichtsmediziner natürlich.«

»Wen hat man geschickt?«

»Rocchi.«

»Gut.« Mancini stand auf und verabschiedete sich mit einem Winken seiner behandschuhten Finger. »Ich geh kurz bei ihm vorbei und sehe mich dann mal am See im EUR-Viertel um, damit der Polizeipräsident Ruhe gibt. Das hier nehme ich mit«, schloss er und nahm ein Passbild von Nora O’Donnell vom Schreibtisch.

Kurz darauf war er durch die Tür. Lo Francos »Okay, ich halte dich auf dem Laufenden« verhallte in der Leere seines Büros.

Schattenkiller
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