31
Rom, Montag, 15. September,
07:30 Uhr
Bunker
Müde und durchnässt erreichten sie den Bunker. Comello legte Caterina auf das große Sofa und Rocchi holte eilig Stethoskop, Blutdruckmessgerät und ein Digitalthermometer.
Professore Bigas Gesicht erschien auf dem Flachbildschirm, er wirkte unruhig und besorgt. Gleich darauf ertönte ein Klicken und Giulia Foderà trat durch die sich öffnende Metalltür. Ihr Gesicht war gerötet, und sie trug nicht wie sonst üblich das dezente Make-up, das ihr stets einen Hauch von natürlicher Schönheit verlieh. Die Fingernägel der rechten Hand waren angeknabbert. »Warum haben Sie uns zu dieser frühen Uhrzeit hierher bestellt?«, fragte sie.
»Um alle auf den neuesten Stand zu bringen, Dottoressa.«
»Ich will hoffen, dass es wichtige Neuigkeiten gibt«, sagte sie laut, »da Sie ja gestern den ganzen Abend nicht aufzufinden waren und sich auch nicht dazu herabgelassen haben, mich über irgendetwas zu informieren.«
»Ja, es gibt Neuigkeiten«, stieß Mancini kurz angebunden hervor. »Und die müssen wir sofort austauschen.«
»Dann fangen Sie an.«
»Alles in Ordnung«, warf Rocchi ein, der mit der Untersuchung fertig war. Er band seinen Pferdeschwanz neu. »Es war nur ein großer Schreck.«
Caterina setzte sich auf: »Geht schon wieder.«
»Möchtest du einen Kaffee?«, fragte Mancini.
»Nein, danke.« Caterinas Gesicht hatte wieder deutlich mehr Farbe.
»Ich aber. Sonst noch jemand?«
»Nein, danke«, erwiderten die anderen.
In der Teeküche gab Mancini Zucker in einen Plastikbecher, legte die Kapsel in die Maschine und drückte den Startknopf. Stark und schwarz rann die Flüssigkeit in den Becher, füllte ihn zur Hälfte. Der Commissario schaltete die Maschine aus, woraufhin der restliche Dampf zischend entwich. Dann goss er den Kaffee, mit Ausnahme eines großen Schlucks, in den Abfluss des Spülbeckens und stellte den Becher ab. Bückte sich und schob die Hand in die Tüte, die er hinter dem Kühlschrank aufbewahrte, und holte eine Flasche Bier heraus. Hielt sie gegen seine Wange. Das Peroni, in der Kühlmanschette aus Gummi, hatte immer noch die richtige Temperatur. Er öffnete die Flasche vorsichtig und leerte sie in vier Zügen, dann stellte er sie in die Tüte zurück. Zuletzt wischte er sich den Mund ab, richtete sich auf und spülte sich mit dem restlichen Kaffee den Mund aus.
Sichtlich entspannt kehrte er zu den anderen zurück. »Da bin ich. Also: Ich habe mal die Daten gebündelt, die Walter und Caterina im Internet zusammengetragen haben. Und dann habe ich immer wieder über die Orte und über den Park von San Paolo nachgedacht. Und sie dann unter dem Aspekt betrachtet, dass es sich um Tatorte handeln könnte, die irgendwie miteinander verbunden sind. Und die vorhandenen Details unter diesem Aspekt in Beziehung zueinander gesetzt.«
»Und was haben wir?« Giulia Foderà strich eine Haarsträhne zurück, die ihr vor die Augen gefallen war.
»Warten Sie ab, Dottoressa. Ich habe dann ein wenig recherchiert, vor allem nachdem wir uns in den Ausgrabungsstätten von Ostia und am anderen Tiberufer umgesehen haben. Dabei ist etwas Interessantes über das Industriegebiet des Flusshafens herausgekommen.« Mancini entnahm der Tasche seines Trenchcoats ein zusammengefaltetes Blatt mit einigen gekritzelten Notizen. Das künstliche Licht lag blass auf seinem Gesicht. »Es betrifft die Entsorgung der Abwässer aus der Kohledestillation. Diese Kondensate bestanden zum größten Teil aus Ammoniakwasser aus dem Gasreinigungsprozess.«
»Commissario, dürfte ich bitte erfahren, worauf Sie hinauswollen?« Die Staatsanwältin wurde allmählich ungeduldig. Sie drehte immer wieder nervös den Ring am Zeigefinger, der wie eine Schlange geformt war, mit zwei kleinen Smaragden als Augen.
Carlo Biga, in der Mitte des Bildschirms, machte es sich auf seinem Schreibtischstuhl bequem.
Mancini fuhr fort: »Als Antonio uns den kleinen Vortrag über Schlachthöfe hielt, hat bei mir etwas geklingelt, aber ich konnte es nicht genau einordnen.«
Comello musterte Caterina hastig von der Seite. Der jungen Frau ging es besser, sie hatte den Computer hochgefahren und lauschte dem Commissario.
»Dann hat er uns die erforderlichen Hygienemaßnahmen in diesen Einrichtungen erklärt, hat erzählt, wie die Tiere und Räume gesäubert wurden, und da ist mir etwas aufgefallen.«
»Natürlich.« Rocchi nickte. »Die Säuberung und die Entsorgung der Abfälle.«
»Caterina, hast du’s?«, fragte Mancini unvermittelt.
»Ja. Es gibt eine Besonderheit bei der Planung des Schlachthofs in Testaccio.« Caterina öffnete unter dem ungeduldigen Schnauben der Staatsanwältin mit einem Doppelklick ein Fenster auf dem Bildschirm und las den Text vor. »Bei der Planung des Wasser- und Abwassersystems wurde das System für die Abfallentsorgung als ein Netz von breiten unterirdischen Kanälen angelegt, die in einem bestimmten Neigungswinkel nach unten zusammenliefen.« Sie hob den Blick. »Ich habe auch die Katasterpläne des Kanalsystems gefunden, um die Sie mich gebeten haben.«
Die lotrechte Draufsicht auf die unterirdischen Kanäle des Schlachthofs bestätigte den Verdacht: Die Abfälle wurden in den Tiber entsorgt.
Vom Bildschirm an der Säule ertönte ein lautes Geräusch. Biga schlug mit der Hand auf den Schreibtisch. »Das ist es, das ist es!«, rief er mit wachsender Begeisterung.
Mancini stand reglos und starrte auf einen Punkt hinter Caterina De Marchi. »Lies weiter, Caterina.«
»Die Abfälle flossen in einen Sammelbehälter, der die Abwässer aufnahm und sie durch eine große Mündung auf dem linken Tiberufer ableitete.«
»Also, wenn ich das richtig verstanden habe«, erklärte der Professore begeistert, »gelangte der Regen mittels der von Ersoch geplanten gusseisernen Säulen in die Abwasserkanäle, wo alles entsorgt wurde: Körperflüssigkeiten und Abfälle der geschlachteten Tiere, richtig?«
»Vollkommen richtig, Professore.«
»Commissario, Sie wollen also sagen, dass der Mörder den Weg durch die Abwasserkanäle genommen hat, um sich dem Schlachthof zu nähern?«, fragte die Staatsanwältin.
»Ich sage, dass er den Weg benutzt hat, um den Mönch abzustechen, ohne an der Oberfläche Spuren zu hinterlassen. Das Gleiche einige hundert Meter weiter noch mal.«
»Am Gasometer.« Comello hatte die Arme vor dem Körper verschränkt.
Mancini legte einen Zeigefinger auf seine Notizen über den Flusshafen und fuhr fort: »Normalerweise werden den Abwässern anorganische Feststoffe wie Schlamm und später dann Eisensulfat zugesetzt, um durch Ausfällung organisches und anorganisches Sediment zu erzeugen, das danach entfernt wird. Am Ende dieses Vorgangs werden die Abwässer üblicherweise in das nächste Gewässer abgeleitet.«
Er hielt inne, ließ seinen Blick über die Anwesenden gleiten. Ihren ernsten und gespannten Gesichtern entnahm er, dass allen der Zusammenhang klar war, also steckte er das Blatt in die Tasche und sagte abschließend: »Walter und ich haben dem Schlachthof heute Nacht einen Besuch abgestattet, und ich bin durch eines der Abflussgitter an der Oberfläche der Anlage gestiegen. Ich bin mir sicher, dass unser Mann dort entlanggekommen ist. Und genauso überzeugt bin ich, dass er die Luke im Untergeschoss des Pumpenhauses und den im Schilf verborgenen Abwasserkanal benutzt hat. Das Gleiche gilt für den Kanal, der direkt an den Mithrasthermen entlangführt.«
»Und wahrscheinlich hat er einen Sammelbehälter in Höhe des Ponte Marconi und der Basilika San Paolo benutzt, wo die erste Leiche gefunden wurde.«
Alle wandten sich dem Bildschirm zu, wo Carlo Biga gerade seine Meinung kundgetan hatte.
»Ja, Professore, dasselbe habe ich auch gedacht.«
»Wo zum Teufel versteckt er sich?«, fragte Giulia Foderà plötzlich.
Mancini zog den Trenchcoat aus und legte ihn über die Rückenlehne des Sofas. Dann schob er den Notizzettel auf die Arbeitsplatte. »Anfangs dachte ich an einen Ort, der ungefähr gleich weit von den drei Fundorten entfernt liegt.«
»Das Dreieck.« Die Staatsanwältin nickte.
»Dann habe ich begriffen … Nach dem letzten Opfer, das wir in den Ausgrabungsstätten von Ostia gefunden haben, war plötzlich alles viel klarer.«
»Was denn?«, hakte Giulia Foderà nach.
»Dass das verbindende Element der Tiber ist, Dottoressa.«
Fünf Sekunden verstrichen, in denen die Luft in dem großen Raum zu gefrieren schien. Der Bunker lag nur etwa hundert Meter vom Flussufer entfernt.
»Der Schatten ist nicht hier.« Mancini wusste sehr wohl um die unausgesprochene Angst der Anwesenden.
»Weshalb sind Sie da so sicher?«
»Weil unser Mann ein organisierter Mörder ist. Er plant alles genauestens im Voraus. Er bringt die Leichen vom eigentlichen Tatort, den wir nicht kennen …«
»Also von seinem Versteck«, verdeutlichte Comello.
»… zu den Plätzen, die er gewählt hat, um sie dort abzulegen. Das stellt uns vor zwei Probleme: Wir kennen die eigentlichen Tatorte nicht, und wir haben es mit jemandem zu tun, der nicht in deren unmittelbarer Umgebung lebt.«
»Also ist Ostia nur ein weiterer Punkt an dem Wasserlauf, der vom Schlachthof ausgeht, den Flusshafen streift, an San Paolo vorbeiführt und bis hierher reicht«, dachte Caterina laut.
»Der Schatten bewegt sich am Fluss entlang. Oder besser gesagt, an jedem schiffbaren Wasserlauf.« Comello zeigte auf den Ausdruck eines Luftbildes von Google Maps, der an der Wand zwischen zwei Computern befestigt war.
»Deshalb haben wir keine Spuren«, fügte er hinzu. Biga nickte schweigend. »Die Abdrücke auf dem Boden hat der Regen weggespült.«
»Und im Wasser kann kein Mensch etwas sichern«, warf der Gerichtsmediziner spöttisch ein. Er schüttelte den Kopf.
»Die Untersuchungen der Spurensicherung an den vier Fundorten haben in der Tat nichts ergeben. Keine Spuren, keine Fingerabdrücke und auch keine DNA-Spuren des Täters auf den Opfern.«
»Aber der Tiber ist endlos lang, mehr als vierhundert Kilometer«, gab Comello zu bedenken.
»Wagen wir mal eine erste Hypothese«, sagte Mancini entschlossen, während er sich nacheinander die beiden Handschuhe zurechtzupfte. »Mal angenommen, unser Mann bewegt sich per Boot vorwärts, nachts, im Regen, also so gut wie unsichtbar. Er wählt die Orte, wo er die Leichen ablegt, danach aus, dass er sie ungestört erreichen und wieder verlassen kann.«
»Und er ist geübt darin, nicht aufzufallen. Die Videoüberwachung an der Basilika hat jedenfalls nichts ergeben«, ergänzte Biga.
»Der Dreh- und Angelpunkt zur Lösung dieses Rätsels liegt in den Mails, die Morini bekommen hat. Und die will ich jetzt mit euch analysieren«, fügte Mancini hinzu. Dann nickte er Ispettrice De Marchi zu: »Caterina, wenn du so weit bist, fang mit den Bildern an.«
Die Tatortfotografin nickte und griff zur Computermaus. Auf dem ersten Bild erschien die Nachricht, welche die Polizei und der Journalist von Stefano Morini erhalten hatten.
Von: schatten@xxx.it
An: stefanomorini@libero.it
Betreff: Scherben aus Fleisch
02:05 – 12. September 20xx
Sehr geehrter Dottor Morini,
der zweite der Tode Gottes ist vollbracht. Doch die Gerechtigkeit wird erst siegen, wenn der Pflug die letzte Furche zieht.
Sie kennen mich nicht. Niemand kennt mich.
Mein Name ist nicht von Bedeutung.
Ich bin nur ein Schatten.
»Damit fangen wir an. Ich habe die Mail in folgende Bereiche unterteilt: 1) Anschrift, also Absender, Empfänger, Betreff und Datum, 2) Hauptteil der Nachricht, das heißt alles von ›Sehr geehrter‹ bis ›nicht von Bedeutung‹, und 3) Signatur oder Unterschrift.
Wir haben einen formell klingenden Anfang. Dann, im Betreff dieser auf den 12. September datierten Mail, kündigt uns der Killer die Tötung und dann, mit einem Wortspiel, den Fundort des zweiten Opfers oder, besser gesagt, des zweiten der Tode Gottes an, wie er es nennt. Bruder Girolamo wurde in der Tat im Schlachthof von Testaccio gefunden. Dasselbe Schema wiederholt sich bei den anderen Mails, aber das sehen wir gleich noch. Lasst uns direkt zum Hauptteil der Nachricht übergehen.«
Mancini deutete auf den Text. »Hier befindet sich der symbolische Kern, den wir entschlüsseln müssen. Wir müssen die unterschwellige Botschaft verstehen und begreifen, wie das Hirn des Killers arbeitet, was seine Fantasie beflügelt, wie seine Vorstellungskraft bei der Planung des Verbrechens und bei der Auswahl der Opfer agiert.«
Als der Commissario aufsah, bemerkte er, dass Carlo Biga lächelte. Der Professor lehnte sich im Sessel zurück, stützte die Ellenbogen auf die Armlehnen und verschränkte die Hände über dem vorstehenden Bauch. Alle Mitglieder des Teams wandten den Blick zum Bildschirm.
»Bei einem Serienmörder«, begann der Professor ernst und bestimmt, »spielt die Vorstellungskraft eine zentrale Rolle. Und zwar bereits ab dem Zeitpunkt, an dem der Täter mit der Planung seiner kriminellen Handlung beginnt, die er später in die Praxis umsetzen wird. Wir wissen heute, dass sich die ersten Anzeichen ernsthafter psychischer Probleme sehr oft schon in den Jahren vor der Pubertät äußern. Die Person ist von der Fantasie besessen, einen anderen Menschen zu beherrschen. Über dessen Leben zu entscheiden vermittelt ihr ein Gefühl von Macht, das sie psychisch und/oder physisch genießt. Der Killer erlebt diese Fantasie immer wieder und projiziert sie in seinen Kopf. Doch das sind nur Teile von Bildern, die er versucht, in die Realität umzusetzen. Und wissen Sie, wann ihm das gelingt? Wenn jedes Einzelteil des Mosaiks in seiner ganz persönlichen Wahnvorstellung seinen Platz gefunden hat. In diesem Moment, wenn in seinem Kopf alles perfekt zusammenpasst, geht die Person von dem Drang, diese Fantasie zu realisieren, zur Überzeugung über, dass er es tun kann, dass er seinen eigenen Plan in die Tat umsetzen kann. Und das Schlimmste daran, eben das, was einen Mörder zu einem Serienkiller macht, ist: Wenn er einmal sein eigenes kriminelles Vorhaben vollendet hat, wiederholt sich der Prozess Fantasie-Verwirklichung in einer Endlosschleife, einem Kurzschluss zwischen Fiktion und Realität. Die psycho-emotionale Situation des Mörders vor oder nach der Tat führt dazu, dass er sich wünscht, es immer wieder zu tun.«
»Und gerade weil sie ihre Fantasie ständig neu durchleben, sind Killer oft Perfektionisten, manisch bezüglich der Präzision in allem, was sie tun«, erläuterte Mancini.
»Genauso ist es. Er stellt sich die Bedingungen, unter denen er seiner Beute begegnen wird, bis in die kleinste Detail vor. Er fantasiert über die Art, wie er sich ihr nähert, über die ästhetischen Besonderheiten des Opfers. Vor allem aber erzählt er sich Geschichten vom Grauen. Er erzählt sich selbst, in welchen Abgrund puren Schreckens er sein Opfer werfen wird. Schmerz. Psychologische Qualen. Und wenn seine Lüge die Wirklichkeit besiegt, sie zum Schweigen bringt, sie seiner Fantasie unterwirft, wird das Opfer automatisch zu einem nutzlosen Objekt. Zu einem kaputten Spielzeug. Das man wegwerfen sollte. Und das Spiel muss mit einem neuen Objekt von vorn beginnen.«
Mancini trat einen Schritt vor in Richtung Mitte des Zimmers: »Wäre er ein Nekrophiler wie im Fall Jeffrey Dahmer, dem Kannibalen von Milwaukee, würde unser Mörder mit der leblosen Leiche seines Opfers spielen, vielleicht würde er sie aufs Sofa setzen und einen Film im Fernsehen anschauen, sie an einem gedeckten Tisch arrangieren oder sie abduschen, bevor er sich sexuell an ihr vergeht. Aber wir wissen, dass es hier nicht so ist. Der Schatten hat seine Opfer nicht angerührt.«
Rocchi fing Mancinis Blick auf, der nach Bestätigung suchte, und nickte hastig. Dann lag der Ball wieder bei Biga.
»Je mehr Opfer er in der Realität hat, desto raffinierter und grausamer werden seine Fantasien. Einige Serienmörder suchen die Orte ihrer vorangegangenen Taten wieder auf, um die Erregung der Dominanz noch einmal zu spüren und damit die eigene Fantasie aufzufrischen. Häufig nimmt ein Serienkiller Gegenstände aus dem Besitz seiner Opfer mit, als Trophäen oder Fetische, aber der Akt befriedigt ihn trotz allem nicht ausreichend. Deshalb tötet der Täter weiter, in dem Versuch, die Lücke zwischen der selbst erzählten Lüge, seinem Märchen also, und der Realität zu schließen.«
Professore Biga fuhr sich mit der Zunge über die trockenen Lippen. »Aber all das, was ich jetzt erklärt habe, geschieht hier nicht, zu unserem Pech. Er, der Schatten, ergreift Besitz von seinen Opfern, aber er missbraucht sie weder vorher noch im Nachhinein. Er ist kein Sadist. Unser Killer ist bei klarem Verstand. Und ausgehend von den Mails, die er an Stefano Morini geschickt hat, würde ich noch ein Adjektiv hinzufügen: rachsüchtig. Und deshalb müssen wir herausfinden, welche Bedeutung das Rätsel mit dem Pflug und den Toden Gottes für ihn hat.«
Biga hielt inne, streckte die Hand außer Reichweite des Bildschirms aus, nahm ein dunkel getöntes Glas und trank gierig zwei Schlucke daraus. Mancini ergriff die Gelegenheit, und kam auf die Analyse des Schemas in den Mails zurück.
»Was Punkt drei betrifft, die Unterschrift des Killers, so kennen wir sie, obwohl wir nicht wissen, was sich hinter dem Symbol verbirgt, das er gewählt hat. Interessant ist die Tatsache, dass unser Mann, genau wie Jack the Ripper 1888, seine Briefe an die Polizei unterzeichnet und dass er sich für die Mails einen eigenen Decknamen gegeben hat. Der gewählte Name ist zugleich ein Statement. Aber lasst uns rasch einen Blick auf die anderen Mails aus dem Spamordner von Morini werfen und uns dann wieder den von Professore Biga aufgeworfenen Fragen zuwenden. Bitte.«
Von: schatten@xxx.it
An: stefanomorini@libero.it
Betreff: Konstantin
01:05 – 9. September 20xx
Sehr geehrter Dottor Morini,
der erste der Tode Gottes ist vollbracht. Doch die Gerechtigkeit wird erst siegen, wenn der Pflug die letzte Furche zieht.
Sie kennen mich nicht. Niemand kennt mich.
Mein Name ist nicht von Bedeutung.
Ich bin nur ein Schatten.
Mancini nahm seine Analyse wieder auf: »Dasselbe Schema, wie ihr seht, aber abgeschickt am 9. September, drei Tage vor der anderen Mail. Auch hier gibt der Betreff einen Hinweis zum Fundort der Leiche: Konstantin ist der römische Kaiser, der den Bau der Basilika San Paolo begonnen hat, und in der Tat wurde die Leiche von Nora O’Donnell bei San Paolo gefunden.« Der Commissario blickte Giulia Foderà an.
»Dieses Schema kommt auch in der dritten Mail wieder vor.« Mancini gab Caterina ein Zeichen, die schnell ein anderes Bild aufrief. Es war nahezu identisch mit dem davor, abgesehen vom Betreff, CH4, dem Datum, 3. September, und dass er den dritten der Tode Gottes ankündigte.
»Wie ihr seht, steht im Betreff die chemische Formel für Methan, CH4. Das spielt auf den Gasometer an, wo dieses Gas erzeugt wurde und wo wir eine Leiche aus der Mordserie gefunden haben.
Wenn wir ihn nicht aufhalten, wird er noch mehr Morde begehen, all diese Morde, die nach seinen Worten dazu führen, Gerechtigkeit zu üben, also so lange, bis ›der Pflug die letzte Furche zieht‹«, las Comello ab.
»Okay«, nahm Mancini das Ruder wieder an sich, »was seht ihr noch in dieser Mail? Sagt einfach, was euch gerade dazu einfällt, ohne lange nachzudenken. Antonio?«
»Erstens: Es fehlt eine Mail, die sich auf die Mithrasthermen bezieht«, antwortete der Gerichtsmediziner, der beide Hände in den Jackentaschen vergraben hatte. »Zweitens: Wenn wir den Zeitpunkt betrachten, zu dem der Schatten die Mails abgeschickt hat, dann stellen wir fest, dass sie kurz nach dem Todeszeitpunkt und vor allem vor dem Auffinden der Leichen abgeschickt wurden«, fügte er hinzu. Die Anwesenden folgten ihm gebannt. »Was bestätigt, dass er zuerst tötet und dann die Mails schreibt, um uns und/oder die Presse zu informieren.«
»Stellt sich die Frage, ob er Aufmerksamkeit sucht«, warf Comello ein.
»Nein. Er ist narzistisch veranlagt, er sucht nicht die Aufmerksamkeit der Presse.« Mancini schüttelte den Kopf.
»Genauso wenig wie unsere, damit wir ihn aufhalten. Er verübt den Mord, legt die Leiche ab, teilt es mit und geht zum nächsten über. Das ist ein exakt geplantes Prozedere«, fügte Rocchi hinzu.
Vom Bildschirm erklang ein Hüsteln und das Team wandte sich um. »Wenn er mit der Presse oder mit uns hätte kommunizieren wollen, hätte er die Mails direkt an die Zeitung oder die Polizei geschickt«, bemerkte Biga. »Warum hat er stattdessen Morinis Mailadresse benutzt? Er hat ihn gewählt, weil es für unseren Täter notwendig ist, dass die Nachricht erst über diesen kranken ehemaligen Journalisten geht, bevor sie uns erreicht. Ich sage es noch einmal: Meiner Meinung nach liegt die entscheidende Information aller drei Mails im symbolischen Charakter des Hauptteils.« Biga befeuchtete sich die Lippen. »Wir müssen ihn übersetzen. Und zwar vor allem anderen.«
»Nur haben wir im Augenblick noch keine weiteren Informationen über die Identität oder die Geschichte der Opfer, ihre Vergangenheit, ihre Familien und so weiter, deshalb werden wir erst mal mit der Analyse der objektiven Daten fortfahren, die uns zur Verfügung stehen. Will noch jemand etwas zu den Mails sagen?«, fragte Mancini.
»Es gibt da etwas, das für mich nicht zusammenpasst.« Caterina räusperte sich und nahm ein Blatt Papier mit ihren Notizen auf. »Ich habe eine Liste mit allen Details aus den drei Mails zusammengestellt, und da stimmt etwas nicht.«
Caterina ließ den Zeigefinger waagerecht von links nach rechts über die Kästchen gleiten, die sie auf das Papier gezeichnet hatte. »Ich habe über das nachgedacht, was Antonio eben gesagt hat. Dass die Abfolge der Ereignisse wie folgt ist: Tötung, Mail, Auffinden.«
»Genau. Basierend auf allem, was ich über den Todeszeitpunkt herausfinden konnte«, bestätigte Rocchi.
Mancini, Biga, Comello und die Staatsanwältin lauschten aufmerksam.
»Mir ist da eine Unstimmigkeit aufgefallen. Dabei handelt es sich um etwas so Offensichtliches, dass wir es vielleicht gerade deshalb nicht gesehen haben.«
»Kommen Sie bitte zum Punkt.« Giulia Foderà war gereizt.
»Entschuldigung.« Caterina senkte kurz den Blick auf ihre Nikon, bevor sie entschieden fortfuhr: »Die Mails verkünden die Morde und teilen mit, wo die Leichen abgelegt sind. Und sie werden nach dem angenommenen Todeszeitpunkt geschrieben und vor dem Auffinden, haben wir gesagt.«
Sie hielt inne. Merkte, dass sie sich wiederholt hatte. Verlor sie etwa den Faden? Caterina riss die Augen auf in dem Versuch, sich zu konzentrieren. Als sie die Lider entspannte, sah sie sie plötzlich wieder vor sich: Tausende kleiner Körper, die über sie herfielen. Die Staatsanwältin blickte zu Mancini und zog fragend die Augenbrauen hoch. Caterina schüttelte sich kurz und berührte auf der Suche nach dem Gefühl der Sicherheit kurz den Trageriemen der Kamera. Dann fuhr sie fort:
»Warum sagt der Schatten uns, dass es eine Reihenfolge gibt – erster, zweiter, dritter der Tode Gottes – wenn alle Anhaltspunkte, die uns über die Todeszeitpunkte der Opfer zur Verfügung stehen, und die Daten der Mails eine davon abweichende Reihenfolge anzeigen?«
Caterinas Worte hatten einen lähmenden Effekt auf die Atmosphäre im Bunker. Comello, Rocchi und Giulia Foderà schienen mit einem Schlag zu Salzsäulen erstarrt. Nur Carlo Biga auf dem Bildschirm wand sich auf seinem Stuhl. Dann breitete sich auf den Gesichtern allmählich Bestürzung, Überraschung und Verwunderung aus.
»Was bedeutet das?« Caterinas Frage durchschnitt die Stille. »Es bedeutet, dass die Auflistung folglich nicht die Reihenfolge der Morde sein kann. Antonio ist bezüglich der Todeszeitpunkte zu anderen Schlüssen gekommen.«
Noch bevor sie jedoch mit der Diskussion um diese neue Wendung beginnen konnten, klingelte das Telefon mit der Direktleitung zum Polizeipräsidium.
Mancini und Giulia Foderà tauschten einen Blick aus, dann näherte er sich dem Apparat am Ende der Arbeitsplatte.
»Nein. Lassen Sie mich rangehen.« Die Staatsanwältin trat auf Mancini zu, sah ihn ernst an, schob seine Hand weg und nahm das Gespräch an. »Giulia Foderà.«
Biga hatte seinen Kopf nah an die Kamera seines Laptops geschoben und hing förmlich an den Lippen der Staatsanwältin. Comello und Rocchi waren aufgesprungen, bereit, sofort zum Fundort einer fünften Leiche aufzubrechen. Caterina, die mit geschlossenen Augen auf die Ankündigung wartete, dass es einen weiteren Toten gegeben hatte, versuchte sich vorzustellen, welchen Ort der Mörder diesmal ausgewählt hatte.
»Ja, ich verstehe, wir kommen sofort«, sagte Giulia Foderà kurz darauf.
Mancini atmete tief durch, wandte sich um und ließ den Blick über sein Team gleiten. Dann betrachtete er seine Schuhspitzen und schüttelte den Kopf. Es war vorbei. Ein weiterer Toter war gleichbedeutend mit dem Ende der Ermittlungen für ihn. Er hatte versagt. Und es hatte nicht lange gedauert. Er hätte es wissen, es begreifen müssen. Sein Jagdinstinkt war zusammen mit seiner Kraft und seinen Idealen gestorben. Begraben in einer Ruhestätte auf dem Friedhof von Prima Porta. Er hatte plötzlich einen Kloß im Hals, schluckte hart.
Gulia Foderà beendete das Gespräch. »Sie haben ihn gefasst«, sagte sie leise.
Mancini hob den Kopf. Sein Mund stand halb offen, der Blick war dunkel vor Überraschung. Rocchi hatte wie gewöhnlich ein Lächeln aufgesetzt. Caterina und Walter musterten einander fragend.
»Aber wie …?«, stammelte Biga vom Bildschirm, doch niemand nahm Notiz von ihm.
»Sie haben ihn verhaftet. Er ist jetzt im Präsidium«, fügte Giulia Foderà hinzu.
Mancini ließ den Kopf auf die Brust sinken. Er war wie betäubt von dieser Nachricht. Was war denn mit ihm los, warum überfiel ihn diese heftige Enttäuschung? Jetzt würde er sich doch wieder voll seinem Fall widmen können. Seinem Carnevali.
Genau das wollte er doch.
Oder etwa nicht?