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Latina, Donnerstag, 18. September, 12:05 Uhr

Caterina De Marchi kam zurück, geschützt vom Taschenschirm und beschäftigt mit den Gedanken, die das plötzliche Aufblitzen dieser unterdrückten Erinnerung in ihr ausgelöst hatte. Doch sie hatte jetzt keine Zeit, an sich zu denken.

Zur selben Zeit, nur zwei Kilometer entfernt, bewegte sich der Commissario wie ein Versuchstier in einem Labyrinth durch die Eingeweide des Gebäudes der Onkologie im Krankenhaus Santa Maria Goretti. Er war zunächst durch den Flur zum Haupteingang der Klinik gelaufen. Im Erdgeschoss hatte er vor seinem Besuch im Café kurz in der Allgemeinen Chirurgie haltgemacht und war dort nicht gerade zimperlich mit dem Assistenzarzt umgegangen, um ihm die für ihn wichtigen Informationen über Daniele Testa aus der Nase zu ziehen. Der Mediziner hatte zunächst den üblichen Sermon zum Datenschutz über Mancini ausgeschüttet, doch der Commissario hatte ihn schnell von einer Zusammenarbeit überzeugen können, weil der Arzt nicht wollte, dass seine Privatpraxis von der Steuerfahndung und dem Gesundheitsamt auf den Kopf gestellt wurde, was sie bestimmt für eine Weile stillgelegt hätte.

Daniele Testa war in den Neunzigerjahren offensichtlich ein ausgezeichneter Chirurg in der Onkologie gewesen, hatte in letzter Zeit aber Probleme gehabt, mit den wachsenden Anforderungen im OP umzugehen. Er trank.

Der Arzt bestätigte Mancini, dass sie beide Mitglieder des OP-Teams von Mauro Carnevali beim ersten Eingriff bei Rita Boni gewesen waren, bei dem Versuch, den bösartigen Tumor aus ihrer linken Brust zu entfernen. Aber die Operation, wie vorher schon andere bei anderen Patienten, war »missglückt«. »An jenem Tag, es war früh am Morgen, hatte Daniele eine seiner Panikattacken, und ich erinnere mich genau, dass er das Gesicht abwandte und die Augen geschlossen hielt, während er das Skalpell im Fleisch versenkte.«

Ungläubig und bedrückt durch das plötzlich vor ihm auftauchende Bild von Marisa auf dem OP-Tisch, wehrlos dem Skalpell ausgeliefert, was genau dieses hätte sein können, hatte Mancini nachgefragt, und an diesem Punkt hatte der Arzt sich nicht lange bitten lassen, seinem Hass gegenüber den ehemaligen Kollegen Luft zu machen.

»Wie ich Ihnen schon sagte: Das passierte nicht zum ersten Mal. Mir platzte der Kragen, ich nahm Daniele im Untersuchungszimmer beiseite und sagte ihm, es sei an der Zeit aufzuhören. Dass das Leben dieser Menschen von ihm abhing und damit auch das ihrer Verwandten. Möglicherweise habe ich mich im Ton vergriffen, ich war schroff und bin laut geworden, und draußen vor der Tür haben zwei Schwestern versucht, diesen jungen Mann zu beruhigen. Den Sohn. Ich glaube, er hat alles gehört. Er war vollkommen durcheinander.«

Der Commissario brachte nicht mehr als ein Stammeln hervor: »Glauben Sie, dass … dass diese Operation … tödlich war?«

Der Arzt hob den Blick zum Himmel, als wollte er die Antwort einem unergründlichen Schicksal überlassen. »Wer weiß, vielleicht hätten die Tumorzellen keine Metastasen gebildet, welche die Leber so schnell erreichten, dass die Patientin keine Chance hatte. Wenn das Karzinom … anders entfernt worden wäre …«

Wer weiß …

In Mancinis Kopf nahmen die Dinge Gestalt an, nun, da er sich vorstellen konnte, welches symbolische Anliegen der Schatten hatte. Daniele Testa war unter dem großen Gasometer mit gebrochenem Hals und dem Kopf im Verhältnis zur Körperlängsachse um 180 Grad verdreht aufgefunden worden. Dieses Bild war ihm bei den Worten des Arztes – »… dass er das Gesicht abwandte und die Augen geschlossen hielt, während er das Skalpell im Fleisch versenkte« – wieder lebhaft ins Gedächtnis gekommen.

Mancini war nach dem Gespräch am Ende seiner Kräfte gewesen und hatte im Café im Erdgeschoss endlich einen Kaffee getrunken. Er brauchte unbedingt Schlaf. Die Nacht in Carnevalis Villa lastete ihm auf der Seele, die durch die letzten Ereignisse bereits aufgewühlt war. Und die sterile Atmosphäre im Krankenhaus mit all den Erinnerungen war da nicht gerade förderlich. Doch allmählich schloss sich der Kreis um den Mörder. Er würde die Tode Gottes beenden, würde den Fall Carnevali abschließen und den Opfern des Schattens Gerechtigkeit zuteilwerden lassen. Mancini stellte das Espressotässchen auf der Untertasse ab und verließ rasch das Café. In dem Versuch, nicht zu den Krankenbahren hinüberzusehen, die zur Notaufnahme gerollt wurden, stolperte er über Caterina De Marchi.

Sieben Stockwerke über ihnen war Dottoressa Pesenti körperlich gelähmt, ihr Geist aber war wach. Sie lehnte wie eine Puppe am Rückenteil der Liege, ihre Kehle war angeschwollen, und sie atmete keuchend. Hinter sich konnte sie den Mann erahnen, der mit Gegenständen aus Metall hantierte. Sie spürte, dass ihre Zunge taub war, ihre Lippen kribbelten, Finger, Nase und Ohren waren wie abgestorben. Und sie merkte, dass ihr Kopf schmerzte. Irgendwo hatte sie gelesen, dass das Gift des Kugelfischs solche Symptome erzeugte.

»Wir sind so weit. Aber vorher möchte ich Ihnen etwas sagen. Erinnern Sie sich, was Sie meiner Mutter während ihrer letzten psychotherapeutischen Sitzung erzählt haben? Sie lag hier auf der Liege, um Ihnen von dem Schmerz zu erzählen, den sie fühlte, wenn sie sich so sah: einer Brust beraubt, ohne Haare, bleich wie eine Mumie. Erinnern Sie sich an Ihre Worte? ›Signora, Sie müssen die oberflächlichen Schichten des Ichs aufgeben und gelassen auf Ihre Weiblichkeit verzichten.‹«

Er war an diesem Tag dabei gewesen. Er begleitete sie immer und überall hin. Weil er überzeugt war, dass es ihr helfen würde, vielleicht sogar eine heilsame Wirkung hätte, wenn er bei ihr war. Alle drei Wochen die Verabredung mit dem Gift der Chemo, alle zwei Wochen ein Termin bei der Psychologin, Dottoressa Pesenti. Die letzte, die nach der Operation, war ein traumatisches Erlebnis gewesen. Sie hatte nicht hingehen wollen, an dem Morgen hatte sie geweint. War sich hässlich vorgekommen, gehäutet, verstümmelt: ein Schatten ihrer selbst. Er hatte sich ebenfalls gründlich die Haare entfernt: Kopfhaare, Augenbrauen, Bart, Brusthaare, wie immer. Das war sein Beitrag. Auch darin würden sie immer zusammen, immer vereint sein. Dann waren da die Worte der Pesenti gewesen und die Tränen seiner Mutter. Sie hatte die Hände vors Gesicht geschlagen. Dann die Flucht ins Bad, wo er sie ohne ihre Perücke gefunden hatte, ohne den Hauch Lidschatten, den sie sich beharrlich auf die papiernen Lider auftrug, ohne den Lippenstift, den sie mit zitternden Händen auf den trockenen Lippen verteilte. »Ich bin keine Frau mehr … Ich bin nichts mehr«, hatte sie gesagt und dabei das Bild ihres Sohnes im Spiegel angestarrt.

Aus dem Körper der Dottoressa erhob sich ein kaum hörbarer kehliger Laut. Grauen und Hoffnung rangen erbarmungslos in ihr.

»Ich habe diese Worte nicht vergessen. Deshalb sind Sie jetzt an der Reihe.« Der Ehering auf dem rechten kleinen Finger stieß gegen das Skalpell und erzeugte dabei ein vertrautes metallisches Klirren. »Fangen wir an.«

Die Frau konnte keinen Muskel rühren, und das Einzige, was sie hörte, war jenes Stöhnen hinter den geschlossenen Lippen des Mannes. Eigentlich kein Klagelaut, sondern eine kurze musikalische Linie. Dann plötzlich blitzte die scharfe, gebogene Klinge auf. Der Mann hielt das kleine Messer zwischen Zeigefinger, Daumen und Mittelfinger, wie einen Federhalter, und machte sich ans Werk.

Ritzte die Stirn mit einem waagerechten Schnitt unter dem Haaransatz ein, riss Kopfhaut und Haare bis unterhalb des Nackens mit einem schmatzenden Ratschen ab, legte zuckendes Fleisch frei, die grauweißen Muskelansätze, den weiß leuchtenden Schädelknochen.

Für einen Moment schien die Zeit stillzustehen. Die Frau sah nur einen Lichtblitz, der sich dann rot färbte, und ihr Mund öffnete sich zum letzten Mal. Ihr Körper sank wie eine Marionette mit gekappten Fäden auf dem Boden zusammen, doch da war Annalaura Pesenti bereits tot. In der Stille, die nur durch dieses leise, musikalische Stöhnen durchbrochen wurde, trennte der Rächer weiter die Haut in langen, unregelmäßigen Streifen vom Körper ab, weiß und dünn wie die Hülle einer Puppe nach ihrer Verwandlung in einen Schmetterling. Als er damit fertig war, holte er einen Zellophanbeutel aus der Tasche und legte ihn auf den Schreibtisch. Öffnete den Reißverschluss der orangefarbenen Dienstjacke und zog auch die dazugehörige Hose aus. Darunter trug er eine in Dunkelgrün. Er knöpfte das gleichfarbige Hemd auf und schlüpfte aus dem BH mit der Brustprothese.

In der Ferne war das Läuten der Glocken vom Rathaus zu hören, die unterhalb der glänzenden flatternden Fahne hingen. Vor dem blauem Hintergrund zeigte sie einen stilisierten Sumpf, aus dem sich der Stadtturm erhob. Umgeben von einem Kreis aus Kornähren, zusammengehalten von einem roten Band mit der Aufschrift LATINA OLIM PALUS.

»Es ist Zeit.« Der Mann zog den BH über das noch warme Fleisch der gehäuteten Brust.

Mancini hatte sich Caterinas Bericht angehört, und nun standen sie vor den Aufzügen, warteten schon ein paar Minuten, als ein Pfleger, der ein Bett mit einem Kranken schob, sie informierte, dass die Aufzüge außer Betrieb waren. Er selbst würde mit dem Lastenaufzug hinauffahren, sie aber müssten zum Gebäude der Onkologie zurück, dort mithilfe eines der Aufzüge am Eingang hochfahren und den gesamten sechsten Stock auf dem Weg zur Orthopädie durchqueren.

Eine nur allzu vertraute Angst drehte Mancini den Magen um. Während sie, begleitet vom Ticken der Neonröhren an der Decke, den Flur im Erdgeschoss entlangliefen, lockerte er sich die Krawatte. Auf der Hälfte der Strecke trafen sie einen Krankenpfleger, der eine Frau in einem Rollstuhl vor sich her schob, deren bedauernswertes Äußeres keinen Zweifel daran ließ, dass sie in diese Abteilung gehörte. Mancini drängte sich an Caterina De Marchi, um ihnen Platz zu machen, und erwiderte nur den Blick des Mannes, der sie hinter dicken Brillengläsern ansah. Der Commissario schämte sich, als er merkte, wie er erleichtert aufatmete, nachdem der Rollstuhl an ihnen vorbei war. Die Patientin fuhr den Flur entlang, gefolgt vom Schlurfen der weißen Clogs des Krankenpflegers, und verschwand hinter einer Ecke.

Mancini und Caterina De Marchi erreichten die Aufzüge und fuhren in den sechsten Stock hinauf. Die Oberschwester der Orthopädie ließ sie ein. Diese Station lag entlang eines langen Flurs, von dem links und rechts die Krankenzimmer und das Schwesternzimmer abgingen. Die Frau führte sie zu einem PC, der genauso aussah wie der in der Onkologie.

»Da sehen Sie das wenige, was ich herausgefunden habe. Ich hoffe, es hilft Ihnen weiter.«

Auf dem Bildschirm erschien eine Patientenakte, die vor einem Jahr angelegt worden war und folgende Informationen enthielt:

Nachname: Boni
Vorname: Oscar
Geschlecht: Männlich
Alter: 25
Gewicht: 96 kg
Größe: 194 cm
Diagnose: Multiple Frakturen; Arthroplastik-Prothese Knie re.; zweifache offene Fraktur Bein li.; Fraktur des Beckens, mögliche Folgeschäden: Inkontinenz und Impotenz, Beeinträchtigung des Gehens sowie dauerhafter Bedarf an Hilfsmitteln

Mancini wandte sich Caterina zu, sah ihr in die Augen und sagte: »Das ist er. Er trägt den gleichen Nachnamen wie die Mutter.«

»Was machen wir jetzt?«

»Ruf Antonio an und sag ihm, er soll uns abholen. Dann schick Oscar Bonis Daten ans Polizeipräsidium mit der Nachricht, dass wir auf dem Weg zu ihnen sind. Ich rufe Giulia Foderà an.«

Antonio Rocchi, Polizist für einen Tag, hatte mit dem Hausmeister des Blocks mit Sozialwohnungen an der Piazza Bonificatori sprechen können, wo Rita Boni fünfzehn Jahre lang mit ihrem Sohn gewohnt hatte. Er hatte keine wichtigen Informationen erhalten, außer dass die Wohnung, nach dem Tod der Frau und dem Selbstmordversuch des Sohnes, an den ursprünglichen Besitzer zurückgegangen war.

»Das genügt. Hier passt es mir ausgezeichnet«, sagte die Frau im Rollstuhl. »Danke, das war sehr freundlich von Ihnen.«

»Gern, Signora«, antwortete der Krankenpfleger sanft.

Sie hatte eine gute Figur, aller Entstellungen durch die schlimme Krankheit zum Trotz, stellte der Mann fest. Sie war sicher einmal eine schöne Frau gewesen. Traurig bemerkte er, dass ihr beide Brüste abgenommen worden waren. Er reichte ihr den Arm und half ihr beim Aufstehen.

»Schaffen Sie es?«

»Ja, keine Sorge, mein Sohn holt mich ab. Herzlichen Dank«, sagte sie noch einmal zu dem Mann mit dem grünen Mundschutz, der jetzt den Rollstuhl an der Wand abstellte, sich verabschiedete und zum Ausgang ging.

Die Frau fragte sich, warum er nicht wieder hineinging, aber vielleicht war seine Schicht ja vorbei. Er scheint es wirklich eilig zu haben, wenn er nicht einmal seine Dienstkleidung und den Mundschutz auszieht, dachte die Frau lächelnd. Eine Eile, die so gar nicht zu dem unbeholfenen, schleppenden Gang von vorhin passen wollte, als er sie über den Flur der Onkologie geschoben hatten, wie ihr jetzt bewusst wurde. Sie schüttelte den Kopf und lehnte sich an die Wand, in Erwartung ihres Sohnes, der sie nach Hause fahren würde.

Schattenkiller
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