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Er hieß Viktor. Und als er am nächsten Morgen zu uns in die Klasse kam und von Frau Schubert vorgestellt wurde, wussten wir, dass dieser Viktor jemand bleiben würde, den man nicht besonders mag.

Später erfuhr ich, dass ihn sein Vater auf unserer Schule angemeldet hatte, weil man in der Oberstufe bei uns Psychologie belegen konnte. Da lernt man Menschen zu verstehen.

Ausgerechnet dieses Fach für Viktor, dachte ich. Aber das war später. Jetzt wussten wir noch gar nichts. Nur, dass er etwas seltsam war.

Die Brüder waren schüchterner als in den ersten Tagen. Sie hatten Viktor, von dem uns Maren Schubert sagte, dass er vorgestern erst angekommen sei, im Garten nicht erkennen können. Und nun schauten sie beschämt an Ayfer, mir und Franco vorbei. Sie waren abgehauen. Das galt in ihren Augen ganz bestimmt als Schwäche.

Und während unsre Lehrerin Viktor als weit gereist anpries und dabei andauernd so tat, als ob uns das was nützen würde, lehnten wir uns zurück, weil wir wussten, dass Glatze 1 und 2 uns in der nächsten Zeit in Ruhe lassen würden.

Franco sagte beinahe bewundernd: »Mann, ich spüre jetzt noch den Kopfstoß von Karl-Heinz.«

Viktor stand vorn an der Tafel, steif, als ob er einen Hut auf den Haaren trüge, und schrieb Städtenamen an.

»Da«, sagte Frau Schubert, »ist er überall gewesen.« Viktor kräuselte die Lippen so, als sei das selbstverständlich. Niemand nickte. Alle schwiegen. Keiner von uns kannte diese Städte.

»Arschloch«, knurrte Franco, »nicht nur Kauz – ein echtes Arschloch. Ganz egal, was er im Garten …«

Franco sah sich um und meinte: »Echt, das denken alle in der Klasse.«

Ich nickte. Auch wenn ich wusste, dass er sich irrte. Denn es gab eine Ausnahme. Leider.

Alle anderen verzogen, während Viktor von sich sprach, angewidert die Gesichter, weil er endlos weiterschwatzte: von Reisen, Städten, fernen Ländern, Pyramiden und Schanghai. Nur Ayfer blickte neugierig nach der mageren Gestalt, die vorn vor der Tafel stand, mit den Armen hampelte und von unserer Lehrerin aufgefordert wurde weiterzuerzählen. Und während Viktor es genoss, von seinen Reisen zu berichten, kaute ich an den Fingernägeln und dachte an den vergangenen Abend, an den Kleingarten der Brüder: wie wir, Franco und ich, vor Ayfer gestanden hatten, hilflos Blätter von den Büschen rupften und sie in den Handflächen zerrieben.

Es ist unangenehm, wenn man zugeben muss, dass man versagt hat. Und es ist besonders schwer, vor einem Mädchen verlegen zu sein, das man so mag wie ich Ayfer. Ich wunderte mich sowieso, dass sie vor den beiden Brüdern keine Angst zu haben schien, auch nicht, wie am Vortag, innerlich verletzt wirkte und äußerlich vollkommen steif. Ich wunderte mich, bis sie Viktor in der zweiten großen Pause beiläufig ein Messer zeigte.

Viktor schrak zurück, sie lachte. Dieses Lachen blieb in meinem Nacken hocken wie ein kleines, böses Tier.

Auch Viktor schien das Lachen nicht sehr angenehm zu finden, doch unterhielten sie sich weiter. Die Vertrautheit gab mir einen Stich im Magen. Ich beschloss auf Viktor zu achten. Jetzt fragte Ayfer ihn auch noch nach Istanbul. Ich schüttelte den Kopf und ging verärgert aus der Klasse.

Die nächste Zeit benahmen sich die Brüder seltsam unauffällig. Einige von uns fingen schon an zu hoffen, dass die beiden endlich friedlicher geworden seien, nicht nur im Augenblick – für immer.

Ayfer glaubte nicht daran. Und Sürel ging, als er sich wieder ausreichend bewegen konnte, zum Kung-Fu und zum Karate – auch wenn wir darüber lächelten, weil er so eigenartig lief.

Ich war genauso wenig sicher, fragte mich oft, ob die Brüder nicht bloß einfach Atem holten. Aber meistens schaute ich nur noch nach Viktor. Er war anders als die andern, nicht bloß bei uns im Unterricht. Zum Beispiel stand er auf dem Schulhof nie mit irgendwem zusammen, sondern lief in jeder großen Pause dreimal um den betonierten Platz.

Lisa fragte ihn: »Was machst du?«

Viktors Antwort: »Mein Gehirn muss in den Pausen lüften. Manchmal träume ich beim Gehen vor mich hin.« Wir fassten uns hinter seinem Rücken an die Köpfe.

Häufig lief einer der Brüder neben ihm und verstellte Viktor, der jedoch nur wortlos auswich, brüsk den Weg. Wir andern lachten. Nach ein paar Tagen fingen sie an ihn zu schubsen oder tanzten mit hochgereckten Armen blöd um ihn herum. Viktor ließ sich nicht beirren.

Nach einer Weile guckte kaum noch einer zu ihm hin. Nur Ayfer. Das gab mir zu denken. Sie verfolgte Viktors stummes Ringen mit den Brüdern in jeder Pause, achtete genau darauf, wie er reagierte. Eine Woche später war es dann so weit.

Viktor lief die erste Runde. Eberhard lief neben ihm. Und auf Viktors Kreisbahn wartete Karl-Heinz, Hände in den Taschen.

Viktor ging ohne zu zögern auf ihn zu. Die Arme hingen wie zwei dürre Stecken an ihm herunter. Er wollte wie gewohnt kurz vor dem Zusammenstoß ausweichen. Doch Eberhard schubste ihn, sodass sich Viktor, um nicht hinzufallen, an dem zweiten Bruder festhielt und dabei, weil er stolperte, auf dessen Zehenspitzen trat.

Sicher hatte Karl-Heinz durch die dicken Stiefel kaum etwas gespürt. Dennoch sah er nach den Kappen, hielt Viktor am beigen Mantel Zentimeter von sich weg und sagte: »Du hast meine Schuhe bekotet, also wisch die Scheiße wieder ab – mit deinem Mantel.«

Viktor lächelte, ein Hauch: »Nein.«

Danach schien er lange über etwas nachzudenken. Ehe ihn die Brüder hinknien lassen konnten, sagte er, anscheinend ohne dabei Furcht zu spüren: »Denn das eben, das war Absicht. Außerdem …« Viktor machte eine Pause, um die Wirkung seiner Worte noch zu steigern: »Außerdem, wer vor einer Lampe flüchtet, ist für mich ein Schlappschwanz.«

Viktor hatte laut gesprochen. Vor Verblüffung und vor Scham stutzten die Janetzkis und wandten sich den andern zu, uns, die von der Treppe aus den Zwischenfall verfolgten.

Niemand lachte laut, doch alle, selbst die Lehrer, mussten grinsen. Auch wenn wenige verstanden, worauf Viktor sich bezog.

Und die grinsenden Gesichter gaben ihm genügend Zeit, seinen steifen weißen Kragen glatt zu streichen und die Runde fortzusetzen. So, als hätte keiner ihn behindert.

Sie wussten ihn nicht einzuschätzen. Uns ging es ebenso. Sie sagten: »Sieh dich lieber vor!« Wir sagten überhaupt nichts.

Aber die Brüder ließen ihn in Ruhe.

Viktor lief weiter seine Runden, ließ seine Gehirnzellen Luft schnappen während der Pausen, wurde kaum beachtet und redete mit niemandem.

Am neunten Tag, nachdem er zu uns gekommen war, sprach Tina ihn vorsichtig an. Nicht während er den Schulhof umrundete, sondern erst nach der letzten Stunde.

Wir standen in der Nähe und warteten, nicht sehr gespannt. Sie fragte: »Willst du rauchen?«

Viktor erwiderte: »Nein, vielen Dank, ich rauche nicht. Rauche niemals, weißt du. Danke.«

Wir mochten Tina nicht besonders, hielten sie für eigenartig. Nicht so wie Viktor – anders. Schon in der siebten Klasse hatte sie einen älteren Freund gehabt. Wir hatten ihr nachgestellt. Sie hielt uns für kleine Kinder. Wir starrten ihr, wenn sie nicht guckte, zwischen ihre Oberschenkel. Die Röcke, die sie trug, waren schmal und rutschten oft beim Gehen hoch. Sie zog dann dran. Es nützte nur für kurze Zeit. Und selbst wenn sie mal Hosen trug: Es lohnte sich, sie anzuschauen. Sie hatte schon richtig große Brüste. Nicht wie Schneewittchen: weder Arsch noch Tittchen. Und die Brüste konnte man unter ihrem T-Shirt gut erkennen.

Viktor lief ein Stück vor, bückte sich am Fahrradständer. Doch bevor er sich auf sein Fahrrad setzen konnte, holte Tina ihn noch einmal ein.

Sie hatte sich den Mund mit rotem Lippenstift bemalt, und ehe Viktor seine Tasche mit einem alten Lederriemen am Rad befestigt hatte, sagte sie: »Wenn du willst, ich hätte Lust mich morgen Nachmittag mit dir zu treffen.«

Wir grinsten: Das war Tina. Sie gab nicht so leicht auf. Viktor sperrte seinen Mund auf, starrte sie verwundert an. Dann gelang es ihm, zu nicken, wenngleich ein bisschen ungelenk. Wie ein Blechspielzeug zum Aufziehen. Dennoch formten seine Lippen eine Frage: »Wann?«

»Fünf Uhr«, sagte Tina laut. Und blickte, als sie ihm zum Abschied noch die Hand gab, triumphierend zu uns rüber. Griente, während Franco mich anstieß und mir zuzischte: »Sag mir mal, was will die denn von dem?«

»Etwas daran stimmt nicht«, sagte Franco. »Und ich zeig’s dir auch.«

Was stimmt nicht, wollte ich ihn fragen. Doch ehe ich den Mund aufmachen konnte, fügte er hinzu: »Musst mir nur vertrauen. Ich hol dich heut um neun Uhr abends ab.«

Seit der Sache mit den Heftchen hatte ich mit Franco, obwohl er in meiner Bank saß, nicht mehr reden wollen. Manchmal glaubte ich zu spüren, dass er sich schämte, weil er wegen der Fotos noch nicht mal gemerkt hatte, wie die Brüder in den Garten kamen. Aber Franco würde niemals zugeben, dass er, beinahe ein Spanier, etwas falsch gemacht hatte. Nur wenn Viktor mit ihm sprach und Franco ihm nicht mehr aus dem Weg gehen konnte, wirkte er verlegen: weil Viktor uns geholfen hatte und er in Francos Augen trotzdem ein Trottel blieb.

Neun Uhr abends. Franco schellte. Ich stand schon in Turnschuhen im Flur.

Auf der Straße hielt er an. Nahm mich brüsk beiseite, sagte: »Wir gehn wieder in die Gärten. Wenn du Schiss hast, sag’s sofort. Aber, Alter, glaub mir, ich bin jede Nacht dort.«

Und nach einer kurzen Pause: »Hab sogar rausbekommen, was mit Viktors Onkel ist. Mit dem Bastler, weißt du? Hab den Garten von dem Onkel vor zwei Tagen erst entdeckt. Ist tatsächlich voller Plunder. Und der Onkel ist ein Kauz. Wie aus einem Gruselfilm. Aber nicht so unheimlich. Hat mir erzählt, dass Viktor immer mal bei ihm geparkt wird. Damit meint er: abgestellt. Denn der Vater, der hat tierisch Kohle. Aber, Alter, der ist dauernd unterwegs.«

Alter, dachte ich und horchte noch Momente nach dem Klang von Francos Stimme, die mir Eindruck machen sollte. »Alter!«, sagte Francos Vater. Francos Vater arbeitete auf dem Bau. Er errichtete Gerüste.

Ich nickte nur. Wir gingen. Der Himmel wurde dunkel. Die Luft roch noch nach Staub und trockner Hitze. Und während Franco fortfuhr: »Die Hütte von dem Onkel hättest du sehen sollen!«, fragte ich mich, warum er ausgerechnet mich mitnahm.

Er lief ein Stückchen vor mir her. Ich folgte ihm und dachte: Die Antwort ist vielleicht ganz einfach – ich bin der Einzige, der ihm nie widerspricht.