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Das grüne Krepppapier war dick genug. Auch die Kerzen auf den Fensterbrettern blakten nur matt, der Klassenraum blieb schummrig. Und als es draußen endlich dunkel wurde, ließ Maren Schubert sogar das Licht seitlich der großen Tafel aus.

Viktor kam als Erster. Er setzte sich am Rand des Raums auf einen Stuhl, als käme er zum Unterricht und nicht zu einer Klassenfete. Nach fünf Minuten stand er auf, holte aus seiner Schultasche eine Menge Knabberzeug und stellte es behutsam auf den dafür vorgesehenen Tisch.

Schließlich nahm er eine Schachtel, riss sie ohne Eile auf und schob sich das Salzgebäck langsam in den Mund.

Dreimal wanderten die Finger zu den Lippen. Krümel klebten an Viktors Vorderzähnen. Franco stieß mich an. Wir schauten beide auf die Armbanduhr: Exakt jede Minute aß Viktor einen Cracker, das hieß, er lutschte einen nach dem anderen.

Ayfer kam ein wenig später, sah sich um, entdeckte Viktor, der ihr zunickte, als grüßte er bloß eine Nachbarin. Danach griff er wieder in die offene Schachtel und schob sich den nächsten Cracker in den Mund.

Franco stieß mich erneut an. Er tippte sich mit einem Finger an die Stirn und grunzte: »Panne.«

Sürel kam herein und lehnte sich in einer Ecke an die Wand. Eine Zeit lang geschah wenig. Ayfer tanzte mit zwei Mädchen.

Türken wirbelten im Breakdance auf dem gelblichen Linoleum. Doch als Maren Schubert Sürel von der Wand wegziehen wollte, weigerte er sich mit ihr zu tanzen. Blieb reglos stehen, blickte finster, band sich, ganz Karatekämpfer, schließlich ein rotes Tuch um seinen Kopf.

Franco stieß mich an und sagte: »Panne. Hier ist jeder irgendwie bekloppt.«

Später wurde die Musik ruhiger, doch die Tanzfläche blieb noch für eine gute Viertelstunde leer.

Endlich drehten sich zwei Mädchen zu der langsamen Musik, hielten aber großen Abstand. Zwischen beiden hätte glatt noch ein Dritter Platz gehabt. Franco murrte: »Auch nicht, was wir sehen wollten, oder?«

Nach dem sechsten Lied erhob sich Lisa, die die ganze Zeit Kai am Kinn beknabbert hatte. Viktor aß inzwischen weiter seine Cracker. Einmal pro Minute wanderte die Hand zum Mund. Lisa zog Kai, der sich sträubte, mitten in das Klassenzimmer und schlang ihm die Arme um den Hals.

Kai drehte sich, weil er wusste, dass wir ihn beobachteten, ungeschickt und tapsig auf der Stelle. Dabei streckte er, um Lisa nicht versehentlich am Bauch zu berühren, seinen Hintern in die Luft. Franco griente und zerbrach eine Salzstange zu Krümeln. »Sieht doch aus, als hätte er – Mann! – die Hose vollgeschissen, oder?«

Franco buffte mich ans Bein, feixte, während er die Krümel auf den Boden bröseln ließ, und meinte: »Muss die Brillenschlange machen, weil er einen Ständer hat! Deshalb traut sich Kai, die Pfeife, nicht so richtig ran …!«

Nichts war ungewöhnlich. Auch nicht, dass ich mich nicht traute Ayfer aufzufordern, die in einer Ecke saß und an ihren Knöcheln kaute. Nicht mal, dass Frau Schubert jetzt mit einem Türken tanzte, der zuerst noch Faxen machte, dann jedoch die Augen schloss.

Erst als Ayfer sich erhob, zögernd durch den Raum zu Viktor und der Crackerschachtel ging, erst als sie ihm direkt in die Augen sah und leise fragte: »Tanzt du mal mit mir?«, da erst war etwas geschehen, was sonst nicht geschah.

»Sie als Mädchen«, sagte ich und spürte wieder einen Stich im Magen.

Franco meinte: »Eine Türkin!« Er vergaß mich anzustoßen.

Möglich, dachte ich, doch heute ist sie wieder Ayfer und sonst nichts.

Beide wagten wir weder ein- noch auszuatmen. Und weil gerade die Minute abgelaufen war, schob sich Viktor einen Cracker in den Mund.

Danach sagte er bestimmt: »Nein, ich möchte nur hier sitzen. Aber ich bedank mich für dein Angebot.«

»Jetzt«, ächzte Franco, »jetzt passiert was.«

Die mühsam vorgebrachten Worte schienen ihm noch halb im Hals zu stecken. Denn passieren sollte heißen, dass Ayfer, die vor Viktor stand, als habe er sie angebrüllt, die Schachtel mit dem Knabberzeug nimmt und ihm ins Gesicht wirft.

Nichts geschah. Wir atmeten wieder, weil man das nach einer Weile einfach tun muss. Die Musik lief langsam weiter. Ayfer stand, noch immer reglos aufgebaut, vor Viktor, als sich die Klassenzimmertür ruckartig öffnete. Alle blickten auf. Tina betrat ohne Hast den Raum. Sie sagte: »Hallo!«, und Frau Schubert lachte, blickte uns an und meinte: »Je später der Abend …«

Viktor stellte seine Schachtel mit den Crackern neben sich auf den leeren Schemel und erhob sich. Der giftig grüne Dämmer ließ ihn dünn und bleich erscheinen. Er schob Ayfer vorsichtig zur Seite. Dann ging er direkt auf Tina zu und fragte: »Tanzt du?« Sie nickte und das nächste Lied begann.

Seine Hand in ihrem Nacken. Ihre Hand an seiner Hüfte. Kleine, unscheinbare Schritte. Viktor wirkte nicht mehr so, als ob er aus alten Filmen aufgetaucht sei und nur staksen könnte statt zu gehen. Er war endlich angekommen. Die Schachtel mit den Crackern blieb im giftig grünen Licht unbeachtet liegen.

Es blieb ihnen eine Minute, bis die Tür erneut mit einem kurzen Ruck geöffnet wurde. Herein kamen die Brüder. Sie blieben stehen und schauten Tina zu.

Unwillkürlich packte Franco mich am Arm.

Man konnte sehen, wie sich Sürel an der Wand duckte. Seine Muskeln spannten sich unter seinem T-Shirt. Trotz des Zwielichts sah man seine Sehnen, die am Hals hervortraten, weil er seine Zähne aufeinanderbiss.

Ich begann zu schwitzen.

Franco zischte: »Das geht schief.«

Maren Schubert tanzte weiter. Nur der Türke, der von Sürel eingeladen worden war, rückte langsam von ihr ab und glitt, eine große Katze, die sich in den eignen Schatten duckt, zurück zur Wand, zu Sürel.

Sehr seltsam benahm sich Ayfer. Hielt nach einem Schritt kurz inne. Wendete sich wie im Traum mir zu, trippelte zurück, drehte sich im Kreis, stieß mit dem Knie an einen Stuhl, setzte sich und stützte ihren Kopf in beide Hände.

Alle warteten.

Die Brüder gingen langsam durch den Raum. Schlichen nicht und wirkten dennoch so, als schluckten ihre Sohlen jeden Laut, obwohl die Stiefel auf dem gelblichen Linoleum tickten – tick, tack, tick – bei jedem Schritt.

Viktor tanzte enger, eng, ohne darauf achtzugeben, was um ihn herum geschah. Tina – das war sonderbar – blieb trotz der stillen Drohung bei ihm. Drückte sich noch dichter an ihn.

Ayfer vergrub ihr Gesicht in den Händen.

Doch als sich die beiden Brüder vor dem Tisch mit den Getränken aufstellten und Maren Schubert sich zu ihnen gesellte, spürte ich, wie Franco sich entspannte. Ich sah, wie sogar Sürel sich neben seinem Freund bewegte, und hörte, wie Ayfer aufzuatmen schien.

Später dachte ich, vielleicht hatte sie auch nur geschluchzt. Doch zunächst war ich wie alle anderen erleichtert. Bis Karl-Heinz die Colaflasche, die er in der Hand hielt, an der Tafel ansatzlos zerschlug.

Eberhard riss Tina weg von Viktor, ohrfeigte sie zweimal, ohne dass sie reagieren konnte, schubste sie danach in eine Ecke.

Sürel, der nach vorn stürzte, wurde durch sie aufgehalten, konnte folglich nicht verhindern, dass Karl-Heinz den Flaschenhals durch Viktors Gesicht zog.

Später stellte sich heraus, dass die Wange zwar zerschnitten, die Wunde aber harmloser war, als wir zuerst dachten. Doch im Augenblick sahen alle bloß das Blut, das vom Gesicht stetig auf den Boden tropfte, um sich dort als dunkle Lache auszubreiten. Viktor, der die Augen schloss, hob die Hände und fuhr hilflos mit den Fingern durch die Luft.

Die Musik lief langsam weiter. Und auch das Licht blieb giftig grün. Nur der Freund von Sürel griff, während alle warteten, ohne Eile nach der Hand, aus der noch der Flaschenhals vorragte, und hielt sie fest.

Nichts passierte. Für Momente schien die Zeit auszusetzen. Jeder von uns blieb an seiner Stelle, blieb, wo er gestanden hatte, stehn.