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Die großen Ferien waren vorbei. Trotzdem blieb der Sommer heiß. Sobald man aus dem Hausflur trat, umfing einen die Glut. Noch roch die Stadt verheißungsvoll – nach Unbekanntem, Abenteuer. Wir aber mussten wieder jeden Morgen, vom Wecker aus dem Bett gerissen, zur Schule gehen.
Es blieb uns nichts als auf dem Schulweg Käfer von Ästen abzupflücken, sie auf die Handflächen zu setzen, zu streicheln und, indem wir den Zeigefinger für Momente über den Tierchen schweben ließen, zu sagen:
»Siehst du, das ist der liebe Gott. Er hilft dir und er streichelt dich sanft. Jetzt kommt er, um dich besser zu beschützen.«
Und dann zerquetschten wir – ein kurzes Knacken – die Käfer auf der Hand zu Mus.
Kein schönes Spiel, aber den Jungen gefiel es, auch den meisten Mädchen. Und den Freunden zu gefallen war wichtig. Selbst wenn man sich heimlich vor verschmierten Käferresten auf den Händen ekelte.
Wir waren die Ersten im großen, dunklen Schulgebäude. Die hohen Fenster beugten sich zu uns herab und doch drang wenig Licht ins Innere des Hauses. Wir mochten die noch leeren Flure, die sonderbare Ruhe, bevor der Lärm die Gänge füllt. Wir mochten den Geruch nach frischem Bohnerwachs, den Glanz, bevor die Schuhe ihn verschrammen. Wir wussten nicht, wieso, doch jeder von uns verstand den anderen, auch ohne dass wir redeten. Wir waren gute Freunde, und das zählte.
Es war ein altes Schulgebäude, das hallte, wenn man darin lachte. Wir lachten eine Zeit lang, um dem Hallen noch einmal hinterherzulachen. Erst dann betraten wir – ein Pulk von sechs, vielleicht auch sieben – den Flur, an dessen Ende das Klassenzimmer lag. Alles war wie immer. Noch nicht einmal ein andrer Raum, in dem die Stunden zäh wie Leim an uns heruntertropfen würden, Tag für Tag.
Ayfer drückte die Klassenzimmertür sanft auf. Und verharrte unterm Rahmen, war mit einem Mal ganz starr. Auch wenn wir nur ihren Rücken sehen konnten, wussten wir: Etwas hatte sich doch geändert. Etwas, das bedrohlich war, das zwischen dem Tanz der Schatten wartete, die die Blätter vor dem Fenster auf den Klassenboden warfen – das nicht einfach wartete, sondern vor uns lauerte: etwas, das das Sonnenlicht trüber werden ließ. Wir spürten es wie einen kalten Luftzug. Und als wir selbst ins Klassenzimmer schauten, da sahen wir zwei kahl geschorene Köpfe vorn in der ersten Reihe hocken und wussten gleich: Die zwei, die ohne Regung auf die geputzte Tafel starrten, waren anders, ängstigend, groß, sehr breit und kräftig.
An sich war es verwunderlich, dass sie in unserer Klasse saßen. Denn zu uns kamen selten die, die man von andern Schulen des Bezirks verwiesen hatte: Randalierer, Autoknacker, Schüler, die den Lehrerinnen drohten – klick, ein kleines Messer: »Warte, nach der Schule …«
Wir gingen zwar nicht auf ein Gymnasium, sondern auf die Gesamtschule, aber unsere Schule war besser als die meisten Gesamtschulen der Stadt. Wir hatten eine Oberstufe. Man konnte bei uns Abi machen. Auch wenn in allen Klassen bis zur Zehnten immer ein paar Schüler saßen, die dumm waren wie Brot: Unsere Schule hatte einen guten Ruf. Denn es gab bei uns Fächer, die es sonst nirgends gab. Wir waren keinesfalls der Abfalleimer des Bezirks.
Nur weil in diesem Jahr die Gelder fehlten und in einigen Schulen Klassen zusammengelegt wurden, hatte man die beiden offenbar zu uns geschickt. Und deshalb saßen sie nun in der ersten Reihe: die Köpfe kahl rasiert, die Schädel auf gedrungenen Hälsen.
Wir mussten uns nicht ansehen, um zu wissen, was wir dachten: Die zwei sind nicht nur Sitzenbleiber, sondern solche, denen man besser aus dem Weg geht.
Ayfer zögerte. Es war ihr Platz und der von Sürel, wo jetzt die beiden Neuen saßen. Wir hörten Sürel schon im Flur. Es war leicht, ihn zu erkennen, denn er rannte. Rannte immer statt zu gehen. Immer so, als würde er, weil sein Körper zu weit vorn lag, stürzen, doch geschah das nie. Nur seine Füße eilten seinem Körper, egal wie schnell er ging, ein bisschen nach.
Jeder von uns konnte sehen, wie sich Ayfer einen Ruck gab. Möglich, dass nur ich meine Hände, die schon schwitzten, zu verkrampften Fäusten ballte. Ich war schließlich auch der, der Ayfer ganz besonders mochte – obwohl das keiner wusste.
Erst machte Ayfer einen Schritt, dann zwei, drei kurze Trippler. Tippte schließlich dem ersten Kahlkopf auf die Schulter, sagte: »Hallo.« Dann, als er nicht drauf reagierte: »Das ist mein Platz. Bitte steh auf!«
Wir, die wir noch zaudernd an der Tür zusammenstanden, fanden Ayfer mutig. Andererseits war es unmöglich, einfach mir nichts, dir nichts auf den eigenen Platz zu verzichten: Plätze haben Bedeutung. Und wenn man den eigenen aufgibt, stellt man sich vor allen seinen Freunden bloß.
Ayfer wusste das. Sie wusste es genauso wie wir Deutschen. Da gab es keine Unterschiede. Jeder kannte die Regeln. Jeder musste sich dran halten. Oder alles wäre sinnlos. Egal, was man sonst noch tat.
Also tippte Ayfer Glatze 1, der rechten, sachte auf die Schulter, atmete tief durch und sagte: »Du, es gibt noch andre Plätze, aber das hier wäre meiner.«
»Wäre?«, wiederholte Glatze 1 und würdigte Ayfer nicht mal eines Blickes.
Glatze 2, ein dumpfes Gurgeln: »Was heißt wäre?«
Dann erst drehten sich beide langsam um und musterten Ayfer, als wären sie verblüfft, dass jemand neben ihnen stand.
Vielleicht hatten sie sich wirklich von ihr überraschen lassen. Doch wahrscheinlich taten sie nur so. Ihre Blicke wanderten ausgiebig an Ayfer hoch und runter: So eine ist das also, die uns was sagen will!
Der eine schnippte mit den Fingern an der Stelle, wo sie ihn berührt hatte, etwas Unsichtbares – plipp! plipp! und noch mal plipp! – von seinem T-Shirt.
Auf dem T-Shirt stand ein Wort: Scheiße. Das Wort war unterstrichen. Es fiel mir auf, als Sürel sich eilig an uns vorbei ins Klassenzimmer drängte.
»Nicht nur wäre«, sagte Ayfer, jetzt im Ton schon etwas schärfer, »sondern ist!«
Sürel, der nun neben sie trat, nickte. Immer noch schien sich sein Körper viel zu hastig vorwärtszubewegen. »Es ist unser Platz, versteht ihr?«, sagte er. Die beiden Schädel blickten sich nur fragend an.
Sie verschränkten ihre Arme. Doch bevor noch irgendjemand etwas hätte sagen können, ruckten ihre schweren Leiber von den Lehnen weg nach vorn. Und die fast geschlossenen Münder zischten: »Von Kanaken lassen wir uns gar nichts sagen! Merkt euch das!« Danach hörten wir das Klingeln.
Mit dem Klingeln wühlte sich unsere Klassenlehrerin zu uns durch. Wir standen immer noch im Türrahmen und glotzten. Stumm, ein regungsloser Pulk, der mit offenen Mündern staunte. Auch wir nannten im Streit manchmal einen Türken Scheiß-Kanake. Doch das war nur so gesagt, während man dem Ton der Glatzen anhörte, dass für sie jeder Türke ein Kanake war.
Nichts geschah, obwohl wir horchten. Wie Nebel blieb der Satz im Klassenzimmer hängen. Eilig lief die Lehrerin nach vorn zu ihrem Pult. Sah sich um, sah auch Ayfer, die sehr blass geworden war. Hatte sicherlich auch Sürel, der sich auf sie zu bewegte, schon bemerkt und hätte doch als Lehrerin etwas unternehmen müssen. Aber unsere liebe Lehrerin – Maren Schubert: »Für euch Maren!« –, die wir seit der siebten Klasse, also seit zwei Jahren hatten, sah die beiden sitzen, Glatze 1 und Glatze 2, jetzt zurückgelehnt, die Arme klobig vor dem breiten Brustkorb. Sah sich um und meinte: »Ach! Ihr habt euch anders hingesetzt?«
Pause, dann: »Das ist doch hübsch.« Eines ihrer Lieblingswörter. Doch es klang, als würde sie selbst nicht glauben, was sie sagte.
Ihre Augen blinzelten. »Wartet rasch, ich muss noch etwas holen.«
Kurzes Flattern, und im Raum blieb nur der Geruch ihres Deos. Und die Stille, die sich vorzutasten schien. Ein Krake, groß, hässlich, gemein und ungerührt.
Jeder konnte sehen, dass Ayfer vor Erregung bleich war und sich nur mit Mühe noch beherrschte. Dennoch hielt sie Sürel fest, der schon einen Schritt auf seinen Platz zu machen wollte. Und sie murmelte mit weißen Lippen: »Warte!«
Durch ihren Körper ging ein Ruck. Diesmal musste sie nicht trippeln, sondern baute sich entschlossen vor dem Kahlkopf Nummer 1 auf und tippte ihm noch einmal an die rechte Schulter. Dann sagte sie mit Nachdruck: »Da gibt es nichts zu schnippen, nur weil dich jemand antippt. Also steh jetzt auf.«
Diesmal war das knappe Schweigen angespannt. Und weil wir uns unwohl fühlten, malten wir mit unseren Schuhen auf den Klassenboden Muster, die wir danach angestrengt betrachteten, als könnte man noch etwas dran verbessern.
Glatze 1 stand auf und trat dicht an sie heran. Er hob sogar die eine Hand, als ob er Ayfer schlagen wolle. Doch der rechte Arm blieb ihm plötzlich in der Leere hängen. Und man sah, dass er sich etwas anderes hatte einfallen lassen. Immer noch gespanntes Schweigen. Dann trat er zurück und legte Ayfer beide Hände auf die Brüste.
Was danach geschah, ist schwierig eins nach dem andern zu erzählen, obwohl ich nah bei Ayfer stand. Denn die Dinge kamen durcheinander.
Ayfer wich, obwohl es viele sicherlich erwartet hatten, nicht zurück. Sie nahm die Finger des großen, breiten Kahlkopfs einzeln und vorsichtig, als seien sie zerbrechlich, zwischen ihre Fingerspitzen, sammelte sie sorgfältig vorn von ihrem hellen T-Shirt ab.
Ihr Gesicht war dabei leer, durchsichtig wie Wasser. Nur die Augen brannten schwarz, tief versteckt in ihren Höhlen.
Glatze 1 tat nichts dagegen. Er besah sich weder seine Hände noch die Ayfers, zog die Pranken auch nicht vor ihr weg. Nur das Lächeln, das er sich aufs Gesicht geheftet hatte, schien ihm auf den Lippen zu gefrieren.
Aber er hielt wie unter Hypnose still, folgte mit den Augen jeder der Bewegungen – Ayfer war mit einem Mal wieder eine Türkin. Nicht mehr nur dem Namen nach, sondern ganz: ihr Kopf, der Körper. Plötzlich hatte jemand etwas in ihr aufgerissen, das man sonst im Alltag nicht bemerkte. Doch das sah vielleicht nur ich.
Klar, auch jedes deutsche Mädchen hätte sich erschrocken: Keiner von uns legte unvermittelt seine Hand auf den Busen eines Mädchens. Aber jedes deutsche Mädchen hätte laut geschimpft und wäre nicht bloß innerlich erstarrt wie die Frau der Bibel, die zu Salz wird.
All das ahnte wohl auch der Kahlkopf, aber er war erst einmal verblüfft. So, als wäre ihm unvermutet etwas in der Hand zerbrochen. Auch als einige von uns anfingen ihn auszubuhen, tat sich wenig. Er blieb stehen, ebenso wie Ayfer. Doppeldenkmal aus Beton, auf dem sogar Vögel hätten landen können.
Das Ganze dauerte nicht länger als ein paar Sekunden. Als Sürel vorschnellte und sich auf den Kahlkopf warf, wie ein wild gewordener Hamster an ihm hing und nach seinen Beinen trat, schubste der Kahlrasierte Ayfer zwischen Tisch und Stühle, dass es krachte.
Immer noch schien alles Blut aus ihrem Gesicht gewichen. Wie ein Sack fiel sie zu Boden. Hielt sich nicht mal an den Möbeln, die zur Seite kippten, fest. Glatze 2 umfasste Sürel, riss ihn hoch und warf ihn hinter Ayfer her.
Jetzt erst konnte man erkennen, dass sich die Gesichter der Kahlköpfe wie in blindem Hass verzerrten. Beide sprangen vor und holten mit den schweren Stiefeln aus, die sie trotz der Hitze trugen. Und die meisten von uns wichen noch mal bis zur Tür zurück. Nicht allein aus Feigheit oder Angst vor Schlägen. Auch weil wir überrascht waren, zu erstaunt, um etwas tun zu können. Denn alles kam so unvermittelt, ohne jede Vorbereitung. Niemand von uns hatte es erwartet.
Doch bevor die beiden Sürel oder Ayfer treten konnten, kam Frau Schubert – Maren – zurück in die Klasse.
Wieder der Geruch des Deos, wieder flatterte ihr Kleid, wieder ignorierte sie, was sie doch sehen musste, wünschte uns, als wäre nichts, ein fröhliches: »Hallo!« Einer von Marens Einfällen: Damit sich niemand benachteiligt vorkam, hatte sie unsere Sitzplätze, jeweils zu Paaren, neu verlost.
Ayfer und Sürel saßen vorn, die Brüder schräg dahinter. Frau Schubert hatte sie inzwischen vorgestellt: Karl-Heinz und Eberhard Janetzki. Wir nannten sie: die Brüder. Oder eben heimlich Glatze 1 und Glatze 2.
Ich saß hinten, neben Franco. Deshalb konnte ich die Klasse überschauen. Konnte sehen, wie die Brüder sich noch einmal vorbeugten zu Sürel und ihm drohten, ehe der Unterricht begann. Ich wusste, ohne dass ich hören musste, was sie sagten: Sie würden auf ihn warten. »Scheiß-Kanake! Nach der letzten Stunde, Arschloch! Um halb zwei!« Ich sah auch, dass Sürel, obwohl er genauso blass wie Ayfer war, sich umdrehte und den gestreckten Finger – »Fickt euch selber!« – hob und auch noch lächeln wollte. Aber das gelang ihm nicht. Es blieb ein ungeschicktes Grinsen. Und man sah, dass ihm sogar das verrutschte Feixen Mühe machte.
Während vorn der Unterricht begann und Ayfer immer noch die Arme wie ein Kreuz vor ihre Brust hielt – noch immer wirkte sie verstört, noch immer nicht wie Ayfer, die wir kannten –, tauchte ich langsam in vertrauten Bildern, die wie Filme waren, unter.
Ich sah vor mir die Rücken, die breiten Körper, kahlen Köpfe, und obwohl ich mich dagegen wehrte, wurden die Brüder zu Gestalten, die nicht nur die Wörter kannten: Baseballschläger, Gaspistolen, Schreckschuss mit durchbohrtem Lauf, Tschakos oder Schusterahlen, Schlagringe und Fahrradketten, Wurfsterne und Butterflymesser mit mehreren Klingen. Die Gestalten, die ich sah, konnten mit den Waffen auch hantieren.
Und während vor der Tafel Maren Schubert von Karl dem Großen redete, sah ich mich wieder wie so oft in einer dunklen Sackgasse, in die ich mich geflüchtet hatte, hinten am toten Ende kauern.
Weil ich, am Ende meiner Kraft, an irgendeiner Tordurchfahrt falsch abgebogen war, begannen die Verfolger mich langsam einzukreisen. Es waren ungeschlachte Kerle, deren Gesichter ich kaum erkannte, die aber in den Händen Gegenstände hielten. Nur meine Hände waren leer und kamen mir zerbrechlich vor. Denn ich war, obwohl ich ahnte, dass es dort keinen Ausweg gab, auf diesen Hinterhof gelaufen, um mich vor ihnen zu verstecken. Und stand auf einmal den Schemen, die mich in der Dunkelheit umstellten, gegenüber. In meinem Rücken spürte ich die Steine einer viel zu hohen Mauer.
Während die Verfolger lächelnd näher kamen – nur dieses Lächeln konnte ich erkennen –, fuhren ihre Fahrradketten singend durch die Luft.
Und weil mir der Mut fehlte, mich zu entscheiden, konnte ich mich weder wehren noch auf den Boden werfen. Ich stand nur da und wartete auf den ersten Schlag.