15
An der Tür stand: Frankie’s Billard. Franco ging voran. Die Brüder, Hände in den Hosentaschen, folgten. Ihre Köpfe saßen auf dem Rumpf, als seien sie zwei Rammböcke aus Stein. Ich hielt mich noch im Hintergrund, weil ich mit dem Billardqueue überhaupt nicht umgehen konnte, ließ die anderen drei vor und tat so, als würde ich die Getränkepreise aufmerksam studieren.
»Komm schon«, sagte Eberhard, »echt, das kannste lernen.«
Alle Plätze waren besetzt. Am Tresen standen die, die auf einen freien Tisch warteten oder Termine vorbelegen wollten.
Der Raum war lang gestreckt, fast eine Halle, und nicht sehr hoch. Die Spieler rauchten. Sie hielten ihre Zigaretten im Mundwinkel und kniffen ein Auge zu. Die Luft war warm und stickig und schien über dem grünen Filz der Billardtische zu verharren. Franco bestellte einen Schnaps. Er hatte sich verändert, seitdem wir uns nachmittags mit den Brüdern trafen. Wir trafen uns mit ihnen trotz ihrer sonderbaren Eltern. Die zählten nicht – die Brüder zählten. Und das, was sie unternahmen. Besonders Franco war versessen darauf, die beiden kennenzulernen. Alles, was sie wie selbstverständlich taten, machte er so, als müsse er darin der Beste werden.
Egal, ob er den nackten Frauen in Videokabinen zusah, in neuen Heftchen blätterte oder an Glücksspielautomaten auf Ziffern und Symbole starrte: Es interessierte ihn nicht nur anders als der Unterricht, es hielt ihn fest, nahm ihn gefangen, war nicht bloß Neugier wie bei mir. Manchmal ging er deshalb sogar nicht zur Schule.
Ich schwänzte auch, doch nicht so oft. Und obwohl ihm sein Vater – »Bin ich denn dein Bimbo?« – selten die Entschuldigungen für die Lehrer unterschrieb, fehlte Franco viel häufiger. Für mich war es nicht schwierig, Entschuldigungen zu bekommen. Meine Eltern waren abends häufig abgelenkt und hörten nur mit halbem Ohr, was ich von ihnen wollte: Sie unterschrieben ohne hinzusehen.
Und da die Brüder nach wie vor vom Unterricht beurlaubt waren, weil erst entschieden werden sollte, was wegen des Zwischenfalls mit Viktor zu geschehen habe, bekam nur Franco Schwierigkeiten. Hin und wieder sah man das, weil er eine geschwollene Backe hatte.
Vor uns in der Billardhalle warteten drei Türken. Und ein großer Araber mit offenem Hemd. Zwischen den Haaren auf der Brust hing eine Kette.
»Das ist echtes Gold, mein Lieber«, sagte Eberhard.
Die Türken und der Araber bekamen den letzten Tisch. Sie spielten Pool. Wir warteten am Tresen, tranken Kaffee.
Karl-Heinz buffte mich am Arm. »Kaffee, weil beim Billard Klarheit angesagt ist. Klarheit, Kleiner!«
Eberhard ging zu den Tischen, schaute eine Weile zu und stieß, als er sich umdrehte, dem Araber versehentlich an dessen rechten Stoßarm.
Ich hatte all die Fachwörter gelernt, um zu verstehen, wovon die andern redeten, und konnte trotzdem genauso wenig spielen wie vorher.
Der Queue des großen Arabers berührte die schwarze Acht. Sie rollte sehr gemächlich auf eins der Mittellöcher zu. Karl-Heinz fuhr vor und fing sie auf, bevor sie fallen konnte.
»Da habt ihr echtes Schwein gehabt«, sagte der große Araber und legte sich die Kugel, um seinen Stoß zu wiederholen, erneut zurecht. Er grinste.
Man konnte, weil er seinen Mund weit aufriss wie ein Pferd, das gähnt, die goldbesetzten Zähne sekundenlang betrachten.
Ich sah, wie sich Karl-Heinz schon spannte, sah, wie er sich bereitstellte, sah auch, dass zwei der Türken den Billardqueue fester umfassten, und wusste, dass der Araber aus den Augenwinkeln darauf achtete, was Karl-Heinz oder Eberhard unternehmen würden.
Sie taten nichts. Eberhard hielt seinen Bruder an den Armen fest.
Und deutete, ein unscheinbares Nicken, auf Frankie, den Besitzer – und auf den großen Dobermann, der neben der Musikbox auf einer Decke lag.
Der Araber platzierte die schwarze Acht im letzten Loch, kassierte von den Türken Geld und alle gingen, während sich die Brüder Kugeln und Queues bereitlegten, zum Tresen, wo der Dobermann auf seine Decke sabberte.
Nachdem die vier bezahlt hatten, schlurften sie zum Ausgang und fingen an sich laut zu streiten. Man hörte sie im Treppenhaus: Türkisch, Deutsch, Arabisch oder nur Gebrüll.
Vielleicht waren ihr Streit und das Gebrüll nur vorgetäuscht. Doch daran dachte ich erst später. Sollte vielleicht der Anlass sein, um mit zwei deutschen Kahlköpfen ein Spiel zu spielen: Wer von uns ist besser? Wer hat vor wem am meisten Schiss? Man weiß so etwas immer erst, wenn alles schon vorbei ist.
Wir standen um den Tisch herum, rückten die Kugeln an die Stelle, wo sie am Anfang liegen müssen. Ich merkte, dass meine Hände vor Aufregung schon schwitzten. Da drängten sich die vier dazwischen.
Nicht grob, nur so, als wär der Tisch von ihnen noch belegt. Der Araber erklärte uns, sie bräuchten unbedingt Revanche. Ich wusste, was passieren würde. Deshalb fing ich an zu zittern. Ich dachte an den Nachmittag im Park, als die Brüder Franco und Kai verprügelt hatten, sah den Ausdruck, der die Gesichter der beiden stumpf erscheinen ließ, als habe man die Züge, die gerade noch lebendig waren, in kaltes Wachs gegossen. Nur in den Augen blieb ein Glanz, hart, ruhig und böse.
»Nein«, sagte Eberhard, »das ist unser Tisch.«
Der Araber schlug mit einer Flasche zu. Doch Karl-Heinz fing den Schlag mit dem Unterarm ab, rammte dem Araber den Kopf gegen den Brustkorb. Und dann sagte er leise, aber so, dass auch die Türken es verstanden: »Ihr fickt doch eure Mütter. Verpisst euch in den Busch.«
Der Araber war sicherlich sechs Jahre älter als die Brüder. Auch die Türken wirkten so, als seien sie schon achtzehn. Doch würde ihnen, selbst wenn Franco und ich nur einfach stehen blieben, um zuzusehen, der Unterschied kaum etwas nützen. Genauso wenig wie der Queue, mit dem ein Türke ausholte, als Karl-Heinz ihm gegen die Knie trat.
Der Türke fiel nach hinten. Der Dobermann am Tresen knurrte. Vorm Fenster zündeten die Lampen, weil es draußen dämmerte.
Frankie, der aus dem Keller kam, griff nach dem Schlagstock, brüllte: »Halt!« Und Eberhard warf eine Billardkugel dem zweiten Türken mitten ins Gesicht.
Der Türke spuckte Blut. Die Gäste rückten von ihren Tischen ab. Die Kugeln rollten unbehelligt über das grüne Billardtuch, und manche fielen in ein Loch.
Der Dobermann war aufgesprungen und biss jetzt einer Frau ins Bein. Frankie schrie: »Das bezahlt ihr mir!« Und Eberhard, in jeder Hand zwei weitere Kugeln, klickediklack, darunter auch die schwarze Acht, trat dem großen Araber, der sich im Billardfilz verkrallte, in den Unterleib. Das Messer, das er in der Hand hielt, klirrte vor ihm auf den Boden, weil er stöhnen musste und sich dann erbrach.
Während sich die Gäste, und zwischen ihnen Frankie, mit dem Dobermann abmühten, murmelte Karl-Heinz: »Kacke. Hauen wir ab.«
Ich sah mich im Spiegel nicken. Nur Franco, der dem dritten Türken mit einem Queue gegen den Kopf schlug – von hinten, und man konnte hören, dass etwas im Kopf zerbrach – hatte mich vielleicht gesehen. Aber da war ich ihm schon lange nicht mehr wichtig.
Der dritte Türke fiel, ohne die Hände noch vor sein Gesicht zu heben, auf einen Billardtisch im Eck und blieb – sein Haar war voller Blut – reglos zwischen den bunten Kugeln auf dem grünen Billardfilz liegen.
Karl-Heinz nuschelte: »Komm jetzt endlich!« Der Dobermann zerbiss zwei Mäntel. Ein Gast versuchte die Geldscheine aus der Kasse zu nehmen. Frankie versprühte Tränengas. Der Türke, der sich sein Knie hielt, sagte zu Franco: »Mann, bist du ein Feigling!«
Und obwohl Franco schon drei Schritte zum Notausgang gemacht hatte, blieb er nun stehen, ballte seine Fäuste, knirschte mit den Zähnen und wurde puterrot. Obwohl es ihm sehr schwerfiel, sich überhaupt noch zu bewegen, nicht aufzustampfen und zu schreien oder vor Wut zu heulen, drehte er sich dem Türken zu, der wegen seinem Knie nur sitzen konnte, und trat ohne zu zielen gegen den Oberkörper, die Arme und den Kopf des Hockenden. Der Türke schaute ihn nur an und lachte – trotz der Schmerzen. So, als ob er sagen wollte: Mann, bist du ein jämmerliches Würstchen!
Mir fiel ein, dass er beim Billardspielen einen Arm, sonderbar steif, eng an den Körper gepresst hatte und seinen Queue vor jedem Stoß erst ungeschickt zurechtrücken musste. Jetzt rutschte der Ärmel seines Sweatshirts ein Stück hoch. Und während er noch lachte, obwohl aus seinen Augenbrauen schon Blut in seine Augen lief, konnte man sehen, dass sein Arm bis an den Ellenbogen eine Prothese war.
Trotzdem trat Franco weiter zu. Bespuckte den am Boden Verkrümmten und beschimpfte ihn. Er schrie: »Ich werd dir zeigen, wer hier ein Feigling ist!«
Und auch, als Eberhard ihn hochnahm, ihn durch das trübe Tränengas, verknäulte Gäste, Billardkugeln und Biergläser zum Notausgang zu schleppen versuchte, strampelte Franco weiter mit den Beinen. Und schrie dem Türken zu: »Ich kriege dich!«