22

Am nächsten Morgen passierte alles überraschend schnell. Ayfer und ich hatten uns getroffen, um Viktor von der Bushaltestelle am Rathausplatz abzuholen.

Heute sollte gewählt werden. In der ersten Stunde, noch vor dem Unterricht.

Wir waren spät dran, hatten es eilig. Als Viktor ausstieg, zeigte die Turmuhr knapp zehn Minuten vor acht.

Am Eingang des Parks trafen wir Sürel. Zu viert rannten wir über die aufgeweichte Wiese. Als wir den Teich mit den Enten erreichten, sahen wir die Brüder.

Sie standen gemeinsam mit Franco, der neben ihnen schmal wirkte, wenige Meter vom Ufer entfernt mitten auf dem nicht sehr breiten Weg.

Ich dachte, wie schnell das geht mit den Seiten: Ein neuer Haarschnitt – und andere Freunde. Er redet davon, dass er Spanier ist – und rasiert sich seinen Schädel glatter als die Brüder. Karl-Heinz trat einen Schritt vor und winkte einladend. Dabei zeigte er, indem er die Schulter vorreckte, auf das kloakige Wasser des Teichs.

Wir blieben stehen und zögerten. Ayfer und Sürel sahen sich an. Viktor wirkte, als sei er mit dem Kiesweg verwachsen.

Doch dann – und das war eigenartig – ging ein Ruck durch seinen Körper. Und er bewegte sich langsam auf die Brüder zu.

Als der Abstand nur noch ungefähr fünfzehn Meter betrug, folgten ihm Ayfer und Sürel erschrocken. Noch stand ihnen das Staunen im Gesicht.

Sürel rannte los, um Viktor einzuholen. Diesmal stolperte er weder, noch fiel er nach vorn und über seine eigenen Beine.

Als Viktor die Brüder und Franco erreichte, stieß Karl-Heinz einen kurzen Pfiff aus. Und während es mir, trotz meines Zitterns und obwohl meine Zähne wieder aufeinanderschlugen, mühsam gelang, den ersten Schritt nach vorn zu machen, bog ein untersetzter, nicht sehr großer weißer Hund hinter den Büschen um die Ecke und blieb, als sei er festgefroren, neben den Brüdern stehen.

Ich hatte von dem Hund gehört. Karl-Heinz hatte ihn angeschafft. Tina hatte es erwähnt: »Soll wohl ein Kampfhund werden.«

Sürel erreichte Viktor. Eberhard sagte, und man hörte den bösen Spott in seiner Stimme: »Wir werden jetzt hier warten. Ich, ihr vier und der Hund … Während Franco in die Schule geht zum Wählen. Wenn keiner von euch kommt, wird er Klassensprecher. Klingt doch logisch, oder?«

Er sah mich an, während er sprach. Und ich erkannte in Eberhards Augen die feinen Spuren der Demütigung, die Viktor seinem Bruder gestern zugefügt hatte. Es war so ähnlich wie der Stolz, in dem sich Eberhard gekränkt sah, wenn ein Lehrer seine Antwort nicht für richtig hielt.

Schlagartig stand der kurze Augenblick wieder vor mir, als er mich vor der Gartenlaube überrascht hatte beim Spannen und als er mir zugenickt und gelächelt hatte. Aber das war lange her. Galt nicht mehr, und deshalb lief ich wie ein Spielzeugroboter auf die Brüder zu.

Ich hörte zwar noch, dass der Hund vor mir erwartungsvoll knurrte. Doch half mir das nichts. Denn ich musste, einmal in Bewegung, einfach weiterlaufen.

Franco brüllte: »Bleib doch stehen!« Karl-Heinz sagte: »Lass ihn doch.« Eberhard riss noch am Halsband. Doch der Hund, ein weißer Pittbull, der genauso aussah wie ein Schwein, machte einen Satz nach vorn.

Eberhard geriet kurz aus dem Gleichgewicht, stolperte und hielt nur noch das Halsband mit der Leine in den Händen.

Aber ehe sich der Kampfhund in meiner Hose – in Wade, Fuß, Hand oder Oberschenkel – verbeißen konnte, trat ihm Sürel, ein Vorteil von Karate, von unten in den Bauch.

Und weil sich Sürel wie die Brüder Stiefel mit Stahlkappen besorgt hatte, jaulte der Hund und flog, getragen von der Wucht des Tritts, ins trübe Teichwasser und ging dort unter wie ein Stein.

Wir standen alle schweigend und ziemlich verblüfft am Ufer, betrachteten die Blasen, die zur Oberfläche stiegen. Erst nach einer Minute tauchte der Pittbull wieder auf.

Doch ehe er ans Ufer kriechen konnte und sich mit eingezogenem Stummelschwanz im trockenen Schilf versteckte, als sei er dort in Sicherheit vor Sürels Springerstiefeln, brüllte Karl-Heinz. Ein Laut wie aus dem Dschungel. Er wollte sich auf Sürel stürzen, während ich wieder wie eine Puppe, die man zu heftig aufgezogen hatte, den Weg entlanglief Richtung Schule, so lange, bis mir Franco einen Stoß gab.

Ich kippte langsam auf den Kiesweg, schlug mir die Knie auf und war dennoch froh.

Karl-Heinz sprang vor. Sürel wich aus. Der Pittbull jaulte. Karl-Heinz geriet durch seinen Schwung an Viktor, der ihn erschrocken ansah und ungelenk schubste.

Eberhard, der nach wie vor den Ententeich betrachtet hatte, wandte sich wie ein Schlafwandler vom Ufer ab und musterte Ayfer, die ihr Messer vor ihm aufspringen ließ.

Karl-Heinz war durch Viktors Schubs gegen einen Stamm getaumelt, stieß sich von der Borke ab, lächelte und schlug dann Viktor ins Gesicht.

Eberhard wischte das Messer, mit dem Ayfer vor ihm durch die Luft gefuchtelt hatte – ein schneller Schlag – beiseite, hob sie hoch und wollte sie ins trübe Wasser werfen, dorthin, wo die Blasen aufgestiegen waren.

Aber während Sürel Franco mehrfach in den Magen boxte, gelang es ihr, sich noch mal loszureißen. Ich erhob mich und der Hund jammerte noch immer.

Als Franco trotz der Schläge, vielleicht weil die Turmuhr acht schlug, plötzlich Richtung Schule rannte, zog Viktor, dessen Narbe durch Karl-Heinz’ Faustschlag aufgeplatzt war, eine unscheinbare Dose, ähnlich einer Farbsprühdose, aus der Jackentasche.

Er fuhr sich mit den Fingern vorsichtig durchs Gesicht, als könne er nicht glauben, was mit ihm geschehen war, sagte dann hilflos: »Das hast du davon!«, und drückte auf die Düse.

Karl-Heinz lief, weil er erneut nach Viktor schlagen wollte, ins Tränengas, schrie auf, brach zusammen, hielt sich die Hände vors Gesicht und wälzte sich am Boden. Viktor murmelte: »Das ist CS-Gas…, wirkt sehr schnell.« Eberhard sah seinen Bruder, ließ von Ayfer ab und ging auf Viktor, der versonnen schaute, zu.

Ich sagte: »Nein!« Der weiße Pittbull lief hinter Franco her zur Schule. Er hinkte.

Ich rief noch mal: »Lasst uns in Ruhe!« Das Gas roch fast wie frischer Knoblauch. An einem Kirchturm schlugen Glocken. Viktor betrachtete die Dose, als wäre sie ein großes Wunder. Ayfer rappelte sich auf.

Und während ich es wieder schaffte, auf Eberhard, der Viktor schon beinahe erreicht hatte, langsam, aber stetig zuzugehen, nahm Sürel Anlauf und sprang ab.

Er trat zu, traf Eberhard an der Schulter und stieß ihn so heftig Richtung Ententeich, dass Eberhard die Böschung hinabtaumelte, umkippte und im flachen Wasser verwundert sitzen blieb. Als glaubte er noch immer an einen bösen Traum, der bald vorbeiginge, als müsste er nur seine Augen öffnen.