11
Die Straßen waren schlecht beleuchtet. Der Bürgersteig war schmal. Die Bäume wirkten entlang der unverputzten Mauer, hinter der hin und wieder ein Güterwagen polternd über die Abstellgleise rollte, auffällig kümmerlich und krank.
»Das kommt vom Altöl«, erklärte mir Franco, »das sie auf der andern Seite in den Boden laufen lassen.«
Ich fragte mich, was er an dieser Gegend interessant fand. Wenn man einen Menschen traf, schaute der, als fürchte er seinen eigenen Schatten, und lief schneller. Vielleicht, weil wir auf Francos Rad so eigenartig aussahen: Franco fuhr, während ich mürrisch das Gleichgewicht zu halten suchte, beide Hände fest verkrallt in seinem ausgebleichten T-Shirt. Ich stand auf dem Gepäckträger. Franco trat und schwitzte.
Manchmal war mir sein Interesse an den Brüdern unheimlich. Es kam mir vor, als wollte er so sein wie sie. Er hatte mir erzählt, wir würden sehen, wie sie arbeiten. »Die verdienen richtiges Geld!« Mir war das egal. Ich wünschte mir, ich wäre nicht mitgekommen. Aber nach dem Treffen im Lagerraum des Obstgeschäfts waren plötzlich alle ihrer Wege gegangen, nur Franco hatte mich einfach mit sich mitgezogen.
»Und was wollen wir dann dort tun?«
Ich beugte mich nach vorn und brüllte. Franco strampelte, als habe er die Frage nicht verstanden. Ich beugte mich noch tiefer zu seiner Baseballkappe runter und brüllte ihm denselben Satz noch mal ins Ohr. Das Fahrrad schwankte. Franco fuhr zusammen. Wir kollidierten mit dem Buschwerk, das Bürgersteig und Mauer trennte. Ich hängte mich an Franco. Wir fielen mit dem Fahrrad langsam um.
»Blödmann!« Er saß neben dem Lenker, sah mich an und murmelte: »Was soll die Frage?«
»Weil …«, sagte ich und zögerte, »was woll’n wir noch von Karl-Heinz und Eberhard? Von ihrem Alten, was weiß ich? Die Brüder kommen so schnell nicht wieder. Die sind erst mal vom Unterricht ausgeschlossen! Und wenn wir etwas Schwein haben, fliegen sie ganz von der Schule!« Ich rappelte mich auf. »Dann sind wir die beiden endgültig los.«
Franco musterte mich lange, zupfte Gras von seiner Hose, die er sich vor ein paar Tagen – »siehst du, Alter, echt mit Schlag!« – in irgendeinem Keller gekauft hatte und seitdem trug, grinste kurz und wisperte: »Eins: Du wirst dich irren. Zwei: Es wird dich interessieren. Drei: Du bist mein Kumpel, deshalb kommst du mit.«
Ich sah Franco zweifelnd an: Das Wort Kumpel klang nach Bau, nicht nach Freundschaft. Trotzdem klopfte ich mich ab, half ihm seinen Fahrradlenker zurechtzubiegen und stieg, als er nickte, wieder hinten auf.
»Es riecht hier seltsam«, sagte Franco. Vor uns stand ein flacher Bau. Dach und Wände waren aus Wellblech. An der Rückseite Container. In den Trögen Innereien, Reste. Hinter uns ein Hafenbecken. Wir hockten, verdeckt von einem Schuppen, nah den großen Eingangstoren, die sich gerade öffneten. Das Fahrrad hatten wir auf der andern Seite des Hafens gegenüber dem Schlachthof in einem Gebüsch versteckt.
Ich senkte meine Stimme: »Du wolltest doch hierher, nicht ich. Außerdem, was gibt es hier zu sehen?«
»Hm, es riecht hier eigenartig«, sagte Franco unbehaglich, »das war tagsüber noch nicht so.« Seine Stimme klang im Dunkeln klein, belegt, nicht mehr bestimmt wie vorher.
Ich musste husten, weil mir der Geruch des Bluts den Atem nahm. »Tagsüber ist alles besser, weil man alles besser sieht.«
Franco schien das nicht zu trösten.
»Vielleicht«, fügte ich hinzu, »wird tagsüber hier auch nicht so viel geschlachtet.«
Ich flüsterte unwillkürlich, obwohl ich schon mal gesehen hatte, wie ein Huhn geköpft wird. »Das, was riecht, ist das Blut der Tiere, der Schweine.«
Franco malmte: »Kann schon sein. Trotzdem wird mir schlecht.«
Und gerade, als ich sagen wollte: Kotz aber lieber leise, weil sie uns sonst entdecken!, genau in dem Moment erkannten wir die Brüder, die durch die Halle stapften. Jeder trug ein totes Tier. Die Halle war erleuchtet. Die Tore waren riesig und standen sperrangelweit auf.
»Das«, murmelte Franco, »das hab ich dir zeigen wollen. Und wie sie mit ihren Messern alles in Portionen teilen …«
Ich fragte, ob sie das dürften, wo sie doch erst sechzehn waren. Franco übergab sich.
Vielleicht hätte uns keiner der Arbeiter entdeckt, obwohl man Francos Erbrechen über den Hof hallen hörte. Vielleicht hätte der Schatten der Schuppenwand uns auch verborgen. Aber als Franco anfing, sein letztes Essen vor sich auf die Bahnschwellen zu speien, ging gleichzeitig der Scheinwerfer an einem Sattelschlepper an und zudem kroch ein Güterzug, drei Lichter in der Dunkelheit, langsam auf uns zu.
So sahen uns gleich zwei. Die Brüder waren nicht darunter. Ich rannte mit Franco zum Hafenbecken. Und nur, weil wir ins Wasser sprangen, wurden wir nicht weiter verfolgt.
Es war ein stillgelegtes Becken. Im Wasser trieben Dosen und Reste toter Schweine. Hier mal ein Knochen, dort noch Schwarte. Dazwischen schillerte Benzin. Und obwohl ich befürchtete, dass Franco untergehen würde, schwamm er und kotzte währenddessen. Es war ein widerlicher Anblick. Doch auch dass wir im Hafenbecken an alte Kotelettknochen stießen, war nicht besonders angenehm.
Wenn ich nicht gerade Wasser schluckte, dachte ich an meine Eltern. Sie würden fragen, weshalb ich so nass sei und außerdem nach Kraftstoff rieche. Mein Vater sagte immer Kraftstoff. Manchmal überlegte ich, ob er vielleicht durch seinen Beruf ein bisschen ungewöhnlich war. Die Leute kamen zu ihm in die Praxis und legten sich auf eine Couch. Und während sie zur Decke schauten, begannen sie zu reden. Mein Vater saß nur da und lauschte. Und hin und wieder schrieb er ein Wort auf einen Block und unterstrich es. Er lauschte wirklich und hörte nicht nur einfach zu. Und weil er wirklich lauschte, bekam er dafür Geld.
In der Schule redete ich niemals von der Arbeit meines Vaters. Ich wusste, alle würden lachen. Ich lachte manchmal auch. Aber nur heimlich. Und manchmal musste ich auch heulen. Besser wäre es gewesen, mein Vater hätte so wie der von Ayfer Gemüse oder Obst verkauft. Oder wie der von Sürel in der Fabrik gearbeitet – von mir aus auch wie Francos Vater auf dem Bau. Aber er lauschte nur, was andere sagten. Und schrieb vereinzelt Wörter aufs Papier.
Als Franco und ich die andere Seite des unbenutzten Hafenbeckens erreichten und dort an der Mauer sogar die Eisenleiter fanden, dachte ich daran, dass mein Vater hin und wieder sagte: »Vielleicht solltest du doch aufs Internat.«
Ich kannte Internate nur aus Filmen. Sie wirkten fremd und altertümlich und ähnelten in ihrer Art dem komischen Gehabe Viktors. Ich zuckte jedes Mal die Schultern. Ich wusste, was mein Vater als Nächstes sagen würde: »Aber wahrscheinlich ist es besser, du bleibst dort, wo du bist. Ist viel konkreter.«
Ich ahnte, dass mein Vater die Mitschüler im Auge hatte, wenn er das Wort konkret benutzte, und fragte mich, ob alle von uns dazu gehörten oder nicht. Ein bisschen klang das Wort – so, wie er es benutzte – nach einer Krankheit, die man nur ab und zu mal spürt.
Die Leitersprossen, an denen Franco und ich uns festhielten, um erst mal zu verschnaufen, waren voll mit Schmiere, glitschig und mit Moos bedeckt. Obwohl die Luft noch warm war, fingen wir an zu frieren.