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Vielleicht hätte mich dieser Kuss tagelang beschäftigt. Vielleicht hätte er mich, auch wenn er nur kurz, trocken und eher winzig war, wieder für eine Weile zurück in die alte Starre fallen lassen. Aber da die Ereignisse zu rasch aufeinander folgten, kam ich nicht dazu, über Küsse nachzudenken.
Es hatte sich tatsächlich bis zu den Brüdern herumgesprochen, dass Ayfer mit den Lehrern reden wollte, obwohl man – klare Regel – so etwas nicht tut.
Wir waren zu dritt, als wir am ersten Schultag morgens die Klasse betraten: Ayfer, ich und Viktor. Ich ging mit Ayfer Hand in Hand und spürte ihre Finger bis in den Bauch, vielleicht sogar noch tiefer.
Viktor lief ein Stück voraus. Im Schulflur hallten unsere Schritte. Auch Viktors Schlurfen war zu hören. Er erreichte die Tür der Klasse, während er sich nach uns umsah, drückte die Klinke, so, als sei sie sehr zerbrechlich, vorsichtig nach unten. Schaute kurz ins Klassenzimmer, schrak zusammen, zögerte, drehte sich erneut um, wollte Ayfer am Betreten unseres Klassenraums hindern, brachte jedoch keinen Laut über die Lippen, schüttelte nur langsam seinen Kopf.
Vielleicht hätte man lachen müssen wegen des Anblicks, doch Ayfer schob Viktor beinah grob zur Seite und betrat den Raum. Zuerst sah man zehn kahle Köpfe, die in der Klasse an den Tischen saßen und auf die Tafel starrten. Sie saßen so, dass man die Absicht in der Anordnung erkannte. Sie bildeten im Raum das Muster einer lang gestreckten Raute. Und sahen so, wie sie dort saßen, alle gleich aus. Gleiche Glatze, gleiche Jacke, gleiche Hose, Springerstiefel, gleicher Blick, verschlossene Lippen, alle stellten sie ein ähnlich unbewegtes Gesicht für uns zur Schau.
Neben Franco und den beiden Brüdern waren es die sechs, die bei der Wahl für Franco gestimmt hatten.
Auch Tina saß als einziges Mädchen am hinteren Ende der Raute. Doch sie erschien mir mit dem kahl geschorenen Schädel nicht nur eigenartig fremd, man sah auch, dass sie sich sehr unwohl fühlte. Ihre Augen flackerten, und schließlich schloss sie sie sogar. Später begriff ich, dass sie nur wegen Eberhard dort saß. Doch im Moment waren die Gründe nicht so wichtig. Denn die zehn Uniformierten mit ihren kantigen Köpfen und ihren überwiegend stoischen Gesichtern gaben ein eindrucksvolles Bild ab, das bedrohlich wirkte.
Der Anblick ließ mir einen Schauer langsam den Rücken herunterrieseln. Einen Moment lang glaubte ich den Sog zu spüren, der von der Gruppe ausging. Obwohl die, die dort saßen, nur Beiwerk waren. Wichtiger war das, was mit roter Kreide an der Tafel stand: Es ist nicht richtig dass eine Türkin – Türkin war durchgestrichen worden, darüber stand: TÜRKENFOTZE – bei uns Klassensprecher ist.
Daneben war ein Galgen mit einem Strichmännchen gemalt, das einen Rock trug, zusätzlich ein Kopftuch.
Wir standen zu dritt nah der Tür. Einen Augenblick lang herrschte in der Klasse vollkommene Stille.
In diesem kurzen Moment schaute ich zu Eberhard, der mich nicht ansah, sondern weiter nach vorn zur Tafel stierte. Aber ich merkte, dass er sich unsicherer fühlte als die andern, die dort saßen, ausgenommen vielleicht Tina.
Er senkte schließlich seine Lider, und während ich ihn anschaute, fiel mir wieder ein, wie seine Augen ausgesehen hatten, wie hasserfüllt sie damals gewesen waren, als Viktor seinen Bruder vor der gesamten Klasse bloßgestellt hatte. Und ich erinnerte mich plötzlich, dass er schon mal den gleichen Ausdruck in den Augen gehabt hatte.
Weil ich damals glaubte Eberhard zu mögen, hatte ich ihn – bevor wir zum Billardspielen gingen – gefragt, ob er oder sein Bruder nicht manchmal überlegten was gegen ihren Vater zu tun. Und er hatte mit diesem Blick, in dem die ganze Trauer lag und wie eine Folie dicht darüber der Hass, vor sich hin gestarrt und dann gezischelt: »Irgendwann mach ich ihn alle. Wenn unsere Mutter es will.« Er schien mich dabei nicht mehr wirklich neben sich wahrzunehmen, sondern sah so aus, als ob er nur noch aus kalter Wut bestünde.
Ich betrachtete Eberhard, wie er vorn zur Tafel stierte. Ich überlegte, ob sein Verhalten das bezeichnen könnte, was man solidarisch nannte. Ich kam zu keinem Entschluss mehr. Ayfer lief weinend hinaus.
Und während ich, ehe ich ihr hinterherlief, noch daran dachte, dass nach den großen Ferien nur zwei mit Glatze dort gesessen hatten und jetzt schon zehn, ging neben mir durch Viktor ein Ruck.
Man konnte es spüren. Er riss sich zusammen. Und stakste, so, als habe er noch einmal alle seine Kräfte mühsam versammeln können, vor an die Tafel, nahm den Schwamm, wischte über den Satz und löschte besonders sorgfältig den Galgen.
Dann schrieb er mit ebensolcher Kreide, wie Franco sie benutzt hatte – ich kannte Francos Schrift –, auf die noch feuchte Fläche: Vielleicht habt ihr ja Recht.
Er zögerte kurz, sah sich um. Doch alle schwiegen. Er schrieb weiter, noch sauberer als vorher, gestochen scharf: Weil ihr eines Menschen – das Wort unterstrich er – gar nicht würdig seid.
Die Luft im Klassenraum war heiß und trocken. Deshalb tauchte die Schrift – man konnte dabei zusehen – auf der noch feuchten Tafel rasch rot und leuchtend auf. Ich dachte: Jetzt passt das Wort zu Viktor – würdig. Und rannte Ayfer, die im Gang vor einem Fenster lehnte, hinterher.
Diesmal gelang es mir, sie in den Arm zu nehmen und zu trösten. Das lag wahrscheinlich an dem Kuss. Gemeinsam mit Lisa brachte ich sie nach Hause. Wir sagten: »Ruh dich erst mal aus.« Und blieben bei ihr.
Aber am Nachmittag ging ich, weil wir noch Sport hatten und weil mich eine Ahnung dazu trieb, in die Schule zurück.
Ich fragte Kai, ob noch was vorgefallen sei, aber er zuckte bloß die Schultern und sah ein bisschen ratlos aus. Wie jeder hatte er damit gerechnet, dass die Brüder oder Franco etwas gegen Viktor unternehmen würden. Doch alle Kahlgeschorenen hatten sich gleichgültig verhalten. Sie sahen Viktor weder an, noch taten sie ihm etwas.
Kai murmelte: »Aber es herrscht so eine Ruhe, als würden alle abwarten, als ob sich irgendwas zusammenbraut.«
»Und wie hat sich Viktor verhalten?«
»Sonderbar. Eigenartig. Irgendwie, als ob er sein Urteil kennen würde – und sich damit schon abgefunden hat.«
»Und warum geht er nicht nach Hause?«
Kai zögerte. Man sah, wie er begann zu grübeln. Dann zuckte er die Schultern. »Weil er sich abgefunden hat.«