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»Wir hatten es uns vorgenommen«, sagte Ayfer ärgerlich. »Wir wollten ihnen folgen. Wollten sehen, wo sie wohnen, was sie tun. Und wir wollten rausbekommen, warum sie so sind, wie sie gestern waren. Damit wir dann alles … Und warum steht ihr jetzt bloß …?« Ayfer biss sich auf die Lippen und brach mitten im Satz ab. Dann schaute sie jeden von uns lange an.
»Stimmt schon«, sagte Kai. Er tastete nach seiner Brille, die er nach der Schlägerei mit zwei Streifen Leukoplast repariert hatte. »Das ist eigentlich schon richtig.« Kai fuhr mit den Turnschuhspitzen sanft über die Gehwegplatten, zeichnete die Fugen nach. »Aber auf der andern Seite kann es auch gefährlich werden.«
»Besonders wenn es dunkel wird.« Lisa pflichtete ihm bei. »Ist schon kurz nach acht.« Sie deutete auf die Uhr an einer Haltestelle.
Franco murmelte: »Und wir waren hier noch nie. Sollte man ja auch bedenken, oder?«
Plötzlich sahen alle mich an, weil ich wieder nichts gesagt, sondern nur gewartet hatte, was die anderen entscheiden würden. Diesmal schwieg ich nicht nur, weil ich meistens wenig sagte. Diesmal schwieg ich, weil ich wusste: Wenn ich meine Lippen öffnen würde, wenn ich meine Vorderzähne nicht mehr aufeinanderpresste, würden sie in meinem Mund anfangen zu klappern. Denn wir standen an der Kreuzung, hinter der das Kastenviertel mit dem dunklen Park begann.
Wir nannten es so, weil die Häuser aussahen wie Schuhkartons. In das Kastenviertel gingen wir fast nie. Die Türken mieden es besonders.
Denn die Leute, die dort wohnten, mochten Hunde, aber Türken allenfalls als Straßenkehrer. An den Wochenenden schraubten die Männer an ihren zierleistenbesetzten Autos oder wuschen sie – der Lack spiegelte die tief stehende Sonne. Wenn sie die Motorhaube wachsten oder die Kotflügel picobello polierten, hörten sie Heino oder Volksmusik. Ihre Haare klebten meistens eng am Kopf. Bei ihren Frauen waren die Frisuren wasserstoffblondiert.
Jeder von den Männern wirkte wie ein Hauswart. Hauswarte, wohin man sah. Deshalb auch die Schäferhunde. Keiner der Jugendlichen aus dem Kastenviertel ging auf eine Schule wie unsere. Außer jetzt die beiden Brüder mit dem kahlen Kopf.
Wir standen da und trauten uns nicht auf die Kreuzung. Ich knirschte mit den Zähnen, damit keiner hören konnte, wie sie aufeinanderschlugen, sobald ich den Mund ein wenig offen stehen ließ. Ich fürchtete, die andern würden lachen, obwohl ihnen selbst die Angst ins Gesicht geschrieben stand. Doch durch Lachen kann man sich befreien.
Darum zuckte ich die Schultern, deutete nur, weil ich plötzlich etwas sah, das seltsam war, mit der Hand in Richtung Ampel, eine Querstraße entfernt. Die andern drehten sich erschrocken um und folgten mit den Augen meinem ausgestreckten Arm. Danach blickten wir verblüfft jeder einem andern ins Gesicht.
Was wir sahen, konnten wir zuerst nicht glauben: An der Ampel wartete eine hutzelige Frau, links und rechts gestützt von den Janetzkis. Eine Frau mit Einkaufswagen, der die beiden Brüder flugs über die Straße halfen, als die Ampel grün geworden war. Das alte Einkaufswägelchen wirkte hinter dem breiten Körper des einen wie ein Spielzeug, das man nicht mehr mag. Doch trotz des Widerwillens, den man auch an der Haltung des Kopfes und der Schultern erkennen konnte, liefen die Brüder vorsichtig neben der alten Frau her und stützten sie, sobald es nötig wurde.
Sie hatten erst drei Viertel der Fahrbahn überquert, als das Ampellicht auf Rot sprang. Da hoben sie die Frau, indem sie das magere Persönchen an beiden Achseln unterfassten, etwas hoch, trugen den hutzeligen Körper – zwei Schritte nur, ein letzter Schwung – bis auf den andern Bürgersteig und setzten ihn dort ab.
Wir staunten erst mit ungläubigen Augen. Dann schluckten wir und sahen uns, während es schon dämmerte, noch einmal lange an.
»Vielleicht ist das ihre Oma«, sagte Lisa ungläubig.
»Bestimmt nicht«, meinte Kai, »die ist zu winzig.«
»Vielleicht ’ne Nachbarin?«, vermutete Franco. Aber auch er sah nicht so aus, als ob er von dem, was er sagte, überzeugt sei.
Während wir weiter mutmaßten und ich wie immer schwieg, verließ uns etwas von der Angst, der Anspannung der letzten beiden Tage. Selbst Ayfer sah mit einem Mal nicht mehr so verbissen vor sich hin. Und ich, ich merkte, wie sich meine Zähne beruhigten. Die Wangen wurden weich.
Am Himmel färbten sich die Wolken erst dunkelrot, dann langsam lila. Und während sich die Brüder mühten, mit den kurzen Schritten der alten Frau zurechtzukommen, gingen zwischen den Häusern die Peitschenmastlaternen an. Und wir beschlossen fast erleichtert, den Brüdern unbemerkt zu folgen, obwohl uns die Gegend immer noch unheimlich war.
Sie hatten die Frau vorsichtig in einen Hauseingang geführt und blieben darin kurze Zeit verschwunden. Das Licht im Treppenhaus ging an. Nach wenigen Minuten kamen die Brüder ohne die alte Frau zurück. Sie sahen sich nicht um, sondern liefen durch die Siedlung, als seien sie in Eile, durchquerten rasch den düstren Park. Wir folgten ihnen, immer in sicherem Abstand. Es war dunkel. Keiner der beiden achtete auf mögliche Verfolger. Wir mussten rennen, um die Brüder nicht aus den Augen zu verlieren.
Hinter dem kleinen Park schloss sich die Laubenkolonie an, kleine Gärten, schmal wie ein Handtuch, ziemlich gerade Beete und Gartenzwerge unterm Pflaumenbaum.
Wir kannten Kleingärten. Wir hatten, als wir jünger waren, dort hin und wieder Obst geklaut. Von diesen aber wussten wir nur aus Erzählungen, und die Geschichten hatten wie Warnungen geklungen.
Die Kolonie erstreckte sich bis zum Kanal. Nach dem Wasser waren die Gärten fast verwildert. Die Gartenzwerge, die zuvor wie Wachmannschaften gewirkt hatten – bemützte, heimtückische Wächter, die aussahen, als könnten sie plötzlich aus ihrem Steingutschlaf erwachen –, gab es dort nicht mehr. Am Ufer, wo die Dächer vieler Lauben eingebrochen waren, fehlten zwischen den Grundstücken häufig auch die Zäune und der Stacheldraht.
Wir hatten, weil wir sichergehen wollten, den Abstand in der Kolonie ein wenig größer werden lassen und deshalb, als wir den Kanal schon riechen konnten, die Brüder plötzlich an einer Gabelung verloren.
Die Dunkelheit war wie ein Sack. Mit einem Mal erschien uns die Luft viel kälter als zwischen den Häusern. Kai setzte sich auf einen Stein und sagte: »Es ist sinnlos. Wir haben sie verloren. Mir gefällt die Gegend nicht!«
Lisa sog nachdenklich am Daumen und nuschelte: »Wir waren unvorsichtig. Nur weil die beiden einer alten Schachtel über die Straße helfen, heißt das noch nix!«
Franco sagte: »Stimmt.«
Aber er sagte es nicht laut, weil Franco nicht als Feigling gelten wollte. Denn das war seine größte Angst: dass irgendwer ihn feige nannte. Er lief dann im Gesicht rot an, ballte die Fäuste, stampfte auf, und nichts geschah. Oft musste er auch heulen, nur wegen seiner Wut.
Jetzt schabte er mit einem Schuh Rost von dem Drahtzaun ab, an dem ich neben Ayfer lehnte.
Und Ayfer sagte: »Geht doch! Haut ab! Ich suche weiter.«
Sie war so brüsk, weil ihr das meist geholfen hatte, bei uns etwas durchzusetzen.
Doch diesmal grinste Kai nur schüchtern und murmelte dann: »Tu ich auch.«
Und Lisa meinte leise: »Können wir alles morgen machen. Wenn du gehst, Kai, komm ich mit dir mit.«
Während sie sich abwandten und mit gebeugten Köpfen zögernd auf dem schmalen Weg davontrotteten, als müssten sie noch einmal überlegen, sah Ayfer Franco an. Aber gerade als er etwas sagen wollte, fragte sie mich, ob ich wenigstens bliebe. Sie fragte nicht wirklich, sie sagte: »Du bleibst doch, oder?«
Weil ich Ayfer immer, trotz aller Furcht, gefolgt wäre, nickte ich und erwiderte: »Doch, ja … ich glaube … doch, ich denke … doch ja, ich denke … eigentlich ja, schon.«
Und deshalb sagte Franco, obwohl ihm unbehaglich war: »Na gut. Dann gehn wir weiter.«