14
Die Wohnung roch nach Feuchtigkeit, obwohl der Sommer gerade erst vorbei war.
Karl-Heinz schloss hinter uns die Tür. Wir tasteten uns durch den Flur, in dem es keine Birne gab, bis in die Küche, einen Raum, der ungewöhnlich groß war und beinah quadratisch. Wir schauten uns verstohlen um: Die beiden Zimmer schlossen sich direkt an die Küche an. Nur das Bad und eine Kammer hatten eine Tür zur schmalen Diele.
»Warum gibt’s kein Licht im Flur?«, fragte Franco vorsichtig.
»Manchmal mag es unsre Mutter nicht, wenn es zu hell ist«, antwortete Eberhard, »dann dreht sie die Birnen aus der Fassung.«
Karl-Heinz ergänzte: »Und vergisst, wo eine fehlt … Manchmal müssen wir die dann ersetzen.«
Ich dachte: Sonderbare Mutter. Aber ich sagte lieber nichts. Es fiel nicht auf, weil ich ja selten etwas sagte. Und außerdem merkten wir alle plötzlich, dass die nassen Schuhe von Franco und mir auf dem Teppich Wasserflecken hinterließen.
»Zieht die Botten lieber aus«, murmelte Karl-Heinz.
Sein Bruder zuckte fast entschuldigend die Schultern: »Unsere Mutter ist da eigen. Sonst ist sie nett. Nur mit dem Dreck, da kriegt sie öfter eine Krise. Nicht immer. Aber wann, das weiß man nie.«
Jetzt erst, als ein bisschen Licht von der Küche in den Flur fiel, bemerkte ich, wie sauber es sogar in der Diele war. Der Teppich wirkte, als ob jemand jeden Fussel einzeln aufgehoben hätte. Und dort, wo das Licht direkt auf die Scheuerleisten fiel, glänzte das lackierte Holz. Es gab keinen Staub, in keiner Ecke.
Allerdings fiel das Licht nicht in allzu viele Ecken. Denn die Wohnung lag im Souterrain. Über den Räumen gab es je einen Hängeboden. Die Fenster, alle ebenerdig, blickten auf das Kopfsteinpflaster eines Bürgersteigs.
Tagsüber konnte man wahrscheinlich die Schuhe der Passanten sehen, denn die Fensterscheiben waren genauso sorgfältig geputzt wie die Fliesen an der Spüle. Nirgends lag etwas herum. Die Wohnung sah aus, als ob man einen Werbefilm für Ata drehen wollte. Zu ordentlich. Zu aufgeräumt. Und deshalb nicht geheuer.
Vor allem, wenn man die Janetzki-Brüder anschaute, die groß und klobig zwischen den Porzellanfiguren auf den Fensterbänken und all den gehäkelten Deckchen auf jedem Tisch oder Stuhl standen. Die beiden Brüder schienen sich in dieser Küche unwohl zu fühlen. So wie es einem im Kaufhaus in der Geschirrabteilung geht, wenn man sich kaum umzudrehen wagt.
Wieder hatte ich den Eindruck, die Brüder bedauerten, uns mitgenommen zu haben. Wahrscheinlich hatten sie nicht nachgedacht. Sie dachten sicher selten nach. Und als die Polizeibeamten uns angehalten hatten, waren wir in den Augen von Karl-Heinz und Eberhard wohl plötzlich tough und cool. Und jetzt standen wir hier in ihrer Küche. Und irgendetwas war ihnen daran nicht angenehm.
Vielleicht hatten sie erwartet, dass jemand da sein würde. Vielleicht – ich überlegte – war es so was wie ein Prinzip von ihnen: Weil ihr hier seid, bleibt ihr auch, basta.
Franco und ich fühlten uns unbehaglich. Der Teppich in der Diele war so hell, dass man die Flecken von unsern Schuhen trotz des dämmrigen Lichts ziemlich deutlich sehen konnte.
»Scheiße«, sagte Franco leise.
Und ich fragte, während ich mich behutsam umsah: »Wo ist denn eure Mutter?«
»Liegt vielleicht im Bett«, knurrte Karl-Heinz.
Er sah uns an, als ob damit alles gesagt sei, was es zu sagen gab. Deshalb schwiegen wir.
Franco setzte sich umständlich auf einen hellen Stuhl. Plötzlich wirkte der Stuhl in dieser Hochglanzküche irgendwie dünn und zerbrechlich.
»Leg lieber Papier drunter! Deine Hose ist bestimmt noch nass!« Eberhard reichte Franco, bevor er die Sitzfläche berührt hatte, hastig ein Stück alte Zeitung. Schob es ihm unter den Hintern. Seltsam war, dass die Seiten säuberlich gefaltet waren.
»Danke«, sagte Franco überrascht. Dann fragte er: »Was ist jetzt eigentlich mit den Klamotten? Zum Wechseln.« Und wieder sah ich, dass er sich Sorgen machte wegen seines Vaters.
Die Brüder zögerten und pulten verlegen in den Ohren, kratzten sich am Hals.
»Die Türen sind zu«, knurrte Karl-Heinz.
»Zu beiden Zimmern«, fügte sein Bruder vorsichtig hinzu. »Wir müssen warten.«
»Schicksal!«, brummte Karl-Heinz. Und wieder gab er uns zu verstehen, dass damit erst mal alles gesagt sei, fertig, aus.
Franco war verblüfft und schwieg.
Weil die Brüder merkten, dass wir uns nicht wohlfühl-ten, öffneten sie den Kühlschrank und boten uns ein Bier an.
Franco trank schnell. Ich nippte nur. Mir war die Küche unheimlich. Ich hatte das Gefühl, es könne nur eine Hexe darin wohnen, auch wenn ich wusste, dass es keine Hexen gibt. Aber als ich mich umsah, war ich mir nicht mehr so sicher. Denn die ganze Ordnung wirkte nicht echt, eher wie eine Falle. Als ob man irgendjemandem etwas vorgaukeln möchte.
Ich hatte mir die Wohnung völlig anders vorgestellt. Unaufgeräumt und schmuddelig. Mit dreckigem Geschirr und alten Sachen. Mit staubverschmierten Fensterscheiben, leeren Flaschen auf den Tischen, alten Zeitungen in den Ecken, durchgetretenen Dielen, löchrigen Gardinen oder sogar Spinnweben. Aber nichts von dem.
Und gerade deshalb fühlte ich mich unwohl. Es kam mir vor, als ob hinter den Türen irgendetwas lauerte, als ob in den beiden Zimmern etwas vorbereitet würde, während wir dasaßen. Etwas, das nicht gut war, ganz im Gegenteil.
Weil mir die Atmosphäre immer unheimlicher wurde, hätte ich die sonderbare Küche lieber schnell verlassen. Aber das war nicht mehr möglich. Ich wusste es. Obwohl ich an dem Bier, das vor mir stand, nur nippte, wurde mir langsam schwummrig. Die Brüder wurden unruhig, redeten aber trotzdem nicht. Franco, der die Stille nicht ertrug und dem die Frage sicher schon auf der Zunge brannte, fragte die Brüder noch mal nach dem Schlachthof.
Sie antworteten einsilbig. Wichen aus, blieben wortkarg. Wirkten, als würden sie auf etwas warten.
Franco bohrte trotzdem weiter. Tat, als ob er die Janetzkis schon seit Jahren kennen würde. »Warum seid ihr da? Ich meine, wo ihr doch erst siebzehn seid? Siebzehn – oder sechzehn?«
»In ein paar Wochen siebzehn«, sagte Eberhard.
»Ja, und warum dürft ihr dann … ? Ich meine, alles. Das mit den Schweinen. Überhaupt: arbeiten.« Franco kam mit seinen Sätzen durcheinander, weil die Brüder bloß auf ihre Bierflaschen starrten.
Endlich knurrte Karl-Heinz: »Wir dürfen das. Wegen unserm Vater. Der gibt uns da für achtzehn aus. Bei seinen Kollegen.«
»Schon … ja schon, aber warum … wollt ihr das?«
»Wir wollen nicht. Wir sollen.«
»Und warum sollt ihr?«
»Sollen ist nicht richtig: müssen.« Eberhard blies in die Flasche. Es gab einen hohlen Ton.
»Müssen«, murmelte Karl-Heinz. »Meistens müssen wir.«
Franco fuhr sich durchs Gesicht, das vom vielen Bier schon rot war. »Also«, sagte er, »noch mal: Durch euren Alten dürft ihr das? Weil der dort arbeitet?«
»Genau.«
»Und wieso müsst ihr?«
»Auch wegen ihm.« Eberhard öffnete die nächste Flasche.
»Weil’s bei ihm früher genauso war.« Karl-Heinz malte mit den Fingern Linien ins verkippte Bier.
»Deshalb zahlen wir auch Haushaltsgeld.«
»Oder helfen Mama.«
Weil Franco zu erstaunt war, konnte er nicht weiterfragen, sondern schluckte nur sein Bier und begann vor Aufregung zu niesen. »Aber …«, setzte er dann an.
Karl-Heinz knurrte: »Außerdem hat unser Vater noch ’ne Tussi. Und das kommt teuer, is’ ja klar.«
Bevor Franco fragen konnte, was es damit auf sich habe, pochte es in einem der beiden Zimmer mehrfach schüchtern gegen eine Schranktür oder an eine Kommode. Ich erschrak und fuhr zusammen. Eberhard lief schnell zur Tür, öffnete und schloss sie hastig.
In der Küche war es still. Unwillkürlich lauschten wir. Vielleicht bis auf Karl-Heinz. Doch weder ich noch Franco achteten auf ihn.
Hinter der Tür hörte man unterdrücktes Flüstern. Bettzeug raschelte. Pantoffeln schlappten gegen einen Schrank. Danach vorsichtige Schritte. Unter dem Türspalt war kein Licht. Tappen in dem dunklen Zimmer.
Dann führte Eberhard die Mutter langsam in die Küche. Wenn man sie von Nahem sah, wirkte sie überraschend jung. Nur die Hände zitterten. Manchmal zuckte das Gesicht, ohne dass die Frau daran etwas ändern konnte. Unwillkürlich dachte ich: Das ist die Hexe. Obwohl sie nicht bedrohlich wirkte und auch gar nicht hutzlig war. Sie lief nur sonderbar gebückt, als fürchte sie, es könne ihr jemand gleich eine Kopfnuss geben. Ihre Gesichtshaut war sehr bleich, wie straff gezogenes Cellophan. Das Erste, was sie tat: Sie zog, obwohl es draußen dunkel war, die Vorhänge vors Fenster.
»Das macht sie immer«, murmelte Karl-Heinz, »hab ich euch ja gesagt. Sie mag kein Licht.«
Es war ihm peinlich. Er stand auf. Lief rasch ins Zimmer, in dem die Mutter wohl geschlafen hatte, holte Sachen: Jeans, Sweatshirts und Pullover. Aber das Licht blieb aus.
Selbst in der Küche wurde die Lampe ausgeknipst. Es brannten nur zwei Kerzen. Eberhard zuckte die Schultern, als wolle er erklären: Von uns kann keiner was dafür.
Plötzlich roch ich den Schnapsgeruch. Und obwohl alles weniger verhext erschien, seitdem die Mutter aufgestanden war, wollte ich nur noch weg, ganz schnell nach Hause. Die Mutter war betrunken.
Franco fragte beklommen: »Wo ist denn euer Vater? Schläft der im andern Zimmer?« Plötzlich wurde auch Franco unheimlich zumute. Er rutschte auf seinem Stuhl umher und starrte Richtung Diele.
»Nee«, murmelte Eberhard, »da darf niemand rein.«
Er starrte unsicher auf die Zimmertür, als könne sie sich dennoch plötzlich öffnen.
Wir wechselten im Bad schnell unsre Sachen. Gingen zurück in die Küche. Schauten uns hastig an und steckten unser Zeug in Plastiktüten. Es roch nach Hafen. Hin und wieder plitschte ein Tropfen auf den Boden. Inzwischen war es kurz vor zwölf. Man hörte einen Schlüssel am Schloss der Wohnungstür.
Die Mutter wurde plötzlich steif. Der Schlüssel rutschte mehrfach ab.
»Wer ist das?«, fragte Franco.
»Vater«, sagte Eberhard. Und sah so aus, als sei er nicht nur völlig überrascht, sondern darüber hinaus fürchterlich erschrocken.
»Und wieso sagt er nichts?«
»Sagt nie was.«
»Und wieso lasst ihr ihn nicht rein?«
»Weil er ein Vieh ist, deshalb.«
Franco schaute ungläubig. Ich glaubte Eberhard sofort. Auch wenn mir vom Bier schon schwindlig war. Denn während sich der Vater am Schloss zu schaffen machte, konnte man sehen, wie Karl-Heinz und neben ihm auch Eberhard, ein Schatten ihrer selbst, verfielen.
Sie waren gar nicht mehr die Brüder, sondern nur unscheinbare Körper nah der Wand. Sie sahen aus, als wären sie nur noch bei sich, nicht mehr in der Umgebung, als würden sie auch nicht mehr wahrnehmen, was um sie her geschah.
Eberhard winkte uns mit einer schwachen Geste, wir sollten uns in eine Ecke ducken. Der Vater würde uns dann nicht beachten.
Ich sah, wie die Gesichter der beiden sich veränderten. Obwohl nur die zwei Kerzen brannten. Es war, als würde alles Fleisch am Kiefer, an den Wangenknochen zurück in ihre Schädel fallen. Die Zahnreihen rutschten nach vorn. Die Augen, stumpf und schwarz, vier Steine, glitten in ihre Höhlen. Haut überspannte das Skelett. Und nur die Sehnen, die wie Borke waren, traten nach außen und pulsierten leicht.
Franco und ich beeilten uns. Und während Eberhard die Kerzen in der Küche löschte, sodass nur noch das Straßenlicht durch die Ritzen der Vorhänge die Küche fahl beleuchtete, schaffte es der Vater endlich die Haustür aufzuschließen. Wir hörten, wie er sich räusperte. Er betrat den Flur.
An irgendeiner Kirchturmuhr schlugen die Glocken Mitternacht.
Die Mutter lehnte an der Wand. Franco ging langsam in die Knie. Dann begann er – das war seltsam, ich hatte es noch nie bei ihm gesehen – tonlos zu beten, faltete die Hände.
Ich wagte nicht zu lachen. Stand nur mit aufgerissenen Augen wie ein Pfahl in meiner Ecke und betrachtete die Küche, von der ich nicht glauben konnte, dass es sie wirklich gab.
Karl-Heinz und Eberhard verharrten dicht beieinander nah der Spüle. Nicht, als ob sie fürchteten, ihr Vater würde sie gleich schlagen, und doch in der Erwartung eines unabwendbaren Geschehens.
Franco betete. Ich merkte, wie der raue Stoff der Hose an den Oberschenkeln kratzte. Eberhard knirschte mit den Zähnen. Immer noch waren die Köpfe beider Brüder wie die Schädel von zwei Toten, die man erst nach Monaten ausgegraben hat.
In der Mitte, nah dem Tisch, stand der Vater. So, als könne er die Küche kontrollieren. Doch er schwankte. Und das Licht reichte nicht, um Gegenstände deutlich zu erkennen.
Er hätte auf den Schalter drücken können, aber das tat er nicht. Fuhr sich fahrig durchs Gesicht. Rieb sich ausgiebig die Augen. Musterte die schattenhaften Schemen der beiden Brüder, schüttelte den Kopf. Mich und Franco übersah er. Obwohl wir uns nicht versteckten.
Er wandte sich der Mutter zu, die leblos an die Tür gelehnt auf ihn zu warten schien – als sei er wer, dem man gehorchen müsse.
Er winkte ihr kurz mit dem Kopf. Sie löste sich vom Türpfosten und folgte seiner Geste, indem sie die dunkle Küche durchquerte und die Tür des zweiten Zimmers still und ergeben vor ihm öffnete.