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Als man uns am nächsten Morgen vor der Schule fragte, woher wir die Schrammen hätten, schwiegen wir. Die Brüder schwiegen ebenfalls. Wieder flatterte Frau Schubert, um sich einen süßen Duft aus Parfüm und Deo, unstet durch das Klassenzimmer, während sie vorn an der Tafel Schaubilder entstehen ließ: Karl der Große, Kaiserkrönung, Schlachten, Feldzüge und Seuchen, alles einmal umgerührt. Schaubilder gefielen ihr, auch wenn niemand von uns sie verstand.
Wieder fiel die weiße Sonne zwischen windbewegten Blättern auf den Boden. Wieder war es warm und hell. Einzig Sürel lag zu Hause mit geprellten Rippen, einer Platzwunde. Und Kai trug an einer Hand einen Verband.
Nichts geschah. Die große Pause kam und ging vorbei. Wir blieben im Klassenzimmer. Denn obwohl wir genau wussten, wie man sich verhalten muss – dass man Ältere nicht ansieht, ihnen nicht zu lange ins Gesicht schaut und schon gar nicht in die Augen, dass man ihnen aus dem Weg geht, auch bestimmte Gegenden meidet und am Freitagabend nicht mit jeder S-Bahn oder U-Bahn fährt –, wussten wir nicht, was wir angesichts der Brüder machen sollten. Jedes Mal, ehe man anfing, sich mit einem andern rumzuprügeln, gab es zuerst einen Ablauf: schubsen, pöbeln, rempeln, buffen. Niemand würde sofort losschlagen, nur einfach so. Und keiner würde jemanden, der vor ihm auf dem Boden lag, mit Stiefeln treten und nichts dabei sagen.
Dass die beiden Brüder geschwiegen hatten, als sie Kai und Sürel im Park zusammenschlugen, machte es beinah noch schlimmer. Das Schweigen der beiden war schrecklich gewesen, weil sie dadurch nicht zornig oder wütend wirkten, sondern kalt und berechnend.
Wir warteten das Ende der letzten Stunde nicht mehr ab.
Wir sprangen kurz vorm Klingeln auf, liefen durch den Seitenausgang, rannten fast die Schultreppe hinunter.
Und auch als uns die Brüder weder im Park erwarteten noch irgendjemanden verfolgten, wurden wir nicht langsamer. Im Gegenteil, wir schauten uns ständig nervös nach ihnen um.
Natürlich hätten wir uns fortan von Ayfers Onkeln und Cousins abholen lassen können, bis die Kahlköpfe genügend eingeschüchtert waren. Ayfers Onkel wussten, was man hätte machen müssen. Türken wissen so was meistens besser als die Deutschen.
Aber wir, wir hätten ratlos im Fond eines Wagens gesessen und uns dabei geschämt. Wir wären im Polster eines Straßenkreuzers versunken, um uns Chrom und weiches Leder. Wir hätten uns hinter den Scheiben auf dem Rücksitz klein gemacht.
Wir hätten uns geduckt, und jeden Morgen hätte uns ein anderes Auto bis zum Schulhoftor gebracht. Denn Ayfers Onkel handelten mit Autos – die manchmal fuhren, manchmal nicht.
Und vielleicht hätten Ayfers Cousins irgendwann sogar etwas gegen die Glatzenköpfe unternommen. Sie sagten: »Glatzenköpfe.« Doch danach hätten wir uns immer noch geschämt.
Deshalb sagten wir niemandem etwas von den Kahlrasierten: weder Ayfers Onkeln noch ihren Cousins. Sondern wir beschlossen selbst zu handeln.