19
Es war noch immer heiß, obwohl die Bäume die Blätter langsam abwarfen, es schien, als hätte sich die Hitze zwischen den Häuserwänden festgesetzt.
Zunächst geschah sehr wenig. Trotz Viktors Liebesbrief hätte man denken können, alles sei so wie früher. Nur unter der Oberfläche gab es eine unsichtbare Spannung. Und jeder von uns sah sich bei allem, was er tat, besonders vor.
Viktor war für ein paar Tage nicht zum Unterricht erschienen. Die Brüder gingen ihrer Wege. Franco folgte ihnen wie ein Hund. Einige aus unserer Klasse schlossen sich den Brüdern an. Vielleicht nur, weil die Brüder größer waren und stärker als die meisten.
Abgesehen von Viktor war Tina die Einzige, für die sich nach dem Vorlesen des Briefs etwas geändert hatte. Sie wirkte nachdenklich und einmal sagte sie unverhofft zu Lisa: »Ich hätte ihnen von dem Brief nichts sagen sollen, nie.«
Sie traf sich sogar nachmittags mit Lisa, um mit ihr zu reden. Doch während sie im Park spazieren gingen, kam zuerst Kai und später Eberhard dazu. Deshalb sprachen Tina und Lisa kaum von Viktor. Und als Eberhard erschien, redeten sie gar nicht mehr, sondern liefen schweigend nebeneinanderher.
Kai erzählte es mir schon am nächsten Tag. Er war erstaunt, dass Eberhard Tina nachmittags im Park traf, ohne dass sein Bruder oder Franco mitgekommen waren. Ich wunderte mich weniger, denn ich hatte die vier im Kleingarten beobachtet – mich hatte Eberhard vor der Tür der Laube überrascht. Und mir hatte er zugenickt, bevor ich mich verdrückt hatte. Mich verblüffte es kein bisschen, dass er sich mit Tina verabredete ohne seinen Bruder.
Manchmal dachte ich auch, dass es nur ihm zu verdanken sei, dass mich Franco und die Brüder vollkommen in Ruhe ließen, obwohl ich von ihnen nichts mehr wissen wollte und mich sogar mit Ayfer wieder traf. Aber wahrscheinlich war es bloß wie immer: Man übersah mich. Für die andern war ich einfach nicht vorhanden. Und seit ich neben Ayfer saß und nicht mehr mit ihnen Billard spielen ging, wurde ich wieder ein Schatten, wie vorher. Es war nicht mal Absicht. Nein, sie vergaßen mich.
Nur Franco wollte ganz bewusst nichts mehr von mir wissen. Er hatte sich entschlossen, die Brüder toll zu finden, mich bescheuert.
Der Einzige, der unbeirrt das tat, was er sich vorgenommen hatte, war Sürel. Obwohl er nach wie vor beim Laufen fast zu fallen schien, trainierte er inzwischen jeden zweiten Tag Kung-Fu oder Karate.
Ayfer und ich besuchten ihn einmal in seinem Dojo, in dem das Training stattfand. Man durfte diesen Dojo nur betreten, wenn man die Schuhe vorher auszog. Und ehe Sürel und die andern mit einer Dehnübung begannen, mussten sie erst den Boden wischen. Danach saßen sie fast fünf Minuten auf ihren nackten Hacken, niemand sprach.
Später taten sie so, als würden sie wirklich miteinander kämpfen, einige traten gegen einen Sandsack. Und obwohl der Meister – so nannte Sürel seinen Trainer – am Anfang der Stunde davon geredet hatte, dass Karate und Kung-Fu nicht zum Angriff dienen sollten, konnte man an den Gesichtern der gegen die Sandsäcke springenden Karatekämpfer ablesen, wofür sie all das taten.
Es waren fast ausschließlich Türken. Als wir den Dojo nach kurzer Zeit wieder verließen, fragte ich Ayfer, ob sie das alles nicht auch ein bisschen albern fände.
Aber sie erwiderte, während uns der Schweißgeruch zu verfolgen schien, dass ich ganz einfach allgemein von Sport nichts verstünde, weil ich nichts davon hielt. Sie hatte Recht.
Als wir aus der Haustür traten, hatte es gewittert. Dennoch war die Luft nicht kühl, sondern feucht und drückend.
Wir liefen über einen Hof. Ich betrachtete Ayfer, die ein Stück vor mir ging. Schlank und federnd sprang sie über eine Pfütze. Früher waren die Etagen Teil einer Fabrik gewesen. Jetzt stand mehr als die Hälfte leer. Ich dachte: Schön, dass ich mit Ayfer einen Nachmittag allein bin.
Doch vor Ayfers Obstgeschäft warteten bereits Kai und Lisa. »Wo seid ihr gewesen? Wir haben euch schon überall gesucht.«
»Wir waren bei Sürel«, sagte Ayfer. »In seinem Dojo. Beim Karate.«
Ich stand reglos da und dachte: Jetzt ist der Nachmittag allein mit Ayfer wohl vorbei.
»Gut, dass wir euch gefunden haben«, meinten Kai und Lisa.
Neben ihnen saß in einem Auto, dessen Verdeck zurückgeklappt war, ein Mann mit silbergrauem Haar und einer Goldrandbrille. Auf der Motorhaube sah man noch die letzten Regentropfen.
»Das ist der Vater«, sagte Kai.
»Welcher Vater?«, fragte Ayfer.
»Der von Viktor«, sagte Lisa. Leise fügte sie hinzu: »Der, der immer so viel reist.«
Er hatte uns die Hand gereicht, als sei er – fast so wie Viktor – ein Mann, der Kutschenschläge öffnet. Wir waren bei ihm eingestiegen, weil Kai und Lisa meinten: »Kommt!« Der Wagen war sanft angefahren. Wir hatten uns zurückgelehnt und waren in der Rückbank fast versunken. Das sicherlich sehr teure Auto schwebte mehr, als dass es rollte.
»Warum reist er?«, fragte Ayfer auf der tiefen Rückbank leise.
»Ist Geschäftsmann«, sagte Kai. »Oder so was Ähnliches. Viktor und sein Vater ziehen immer um.«
Ich sah, dass Ayfer grübelte. Vorne tat Viktors Vater so, als ob er nichts verstehen könne. »Und wo geht Viktor dann zur Schule?«, entfuhr es Ayfer, so, als sei die Frage ganz besonders wichtig. »Wie macht er das in all den andern Ländern?«
»Das ist nicht so schwierig«, meinte Lisa. »Deutsche Schulen gibt es beinah überall.«
Und während ich mir überlegte, ob Viktor wohl an jeder Schule genauso seltsam gewirkt hatte, bremste Viktors Vater lässig, wandte sich um und sagte: »Wir sind da.« Kein Schloss. Noch nicht mal eine Villa. Bloß ein Einfamilienhaus mit Garten. Und selbst der Garten hatte nur drei Beete und etwas bräunlich gelb verbranntes Gras.
»Kommt herein«, meinte der Vater. Wir stiegen zögernd aus dem Auto. Besonders zögernd rutschte Ayfer von der Rückbank, wand sich langsam aus dem offenen schwarzen Wagen und betrat das winzige Stück Wiese. Auch mir war nicht wohl. Denn ich sah Ayfer wieder vor Viktor stehen, erinnerte mich, wie sie ihn auf der Fete bat, mit ihr zu tanzen. Außerdem mochte ich Viktor seit dem Liebesbrief auch nicht mehr als früher.
Ich hatte sogar überlegt, als uns der Vater zu sich einlud, nicht mitzugehen. Aber dann hatte ich gedacht, dass es besser wäre, Ayfer zu begleiten. Denn man konnte ja nicht wissen, ob Viktor die Liebesbriefe nun nicht eher Ayfer schrieb als Tina. Leuten mit gestelzten Gesten konnte man nicht trauen.
Im Haus war es kühl. Der Raum wirkte riesig, obwohl das Gebäude von außen nicht besonders groß ausgesehen hatte. In jeder Ecke hockten Porzellangeparden. Auf dem Tisch aus Glas lag eine Decke. Dann kam eine Frau aus Thailand mit einer Karaffe in den Raum.
Ayfer stand nur da und staunte. Kai und Lisa setzten sich. Beiden wurde eingegossen. Und während Kai sich unsicher an seine Brillenbügel griff, weil er nicht wusste, ob es ihm erlaubt war, sofort zu trinken, oder nicht, begann ich mich zu fragen, ob die Brüder, was Viktor anging, nicht im Recht sein könnten.
»Stinkt nach Kohle, ist ein Arschloch«, hatte Eberhard gesagt. Bis mir einfiel, dass auch meine Eltern sicher genug Knete hatten und auch bei uns manchmal eine Polin sauber machen kam.
Die Frau aus Thailand huschte lautlos aus dem Zimmer. Ayfer zerrte mich hinter sich her zum Esstisch. Die Stühle waren unbequem. Wir tranken vorsichtig den Saft. Frisch gepreßt und bunter Mischmasch. Der Vater saß nun ebenfalls. Ich fragte mich, wo Viktor blieb. Die Uhr, die neben dem Kamin stand, schlug übermäßig laut.
Ich hoffte, dass mir nicht das Glas umkippen und der rote Saft über das Tischtuch fließen würde. Denn so etwas geschah mir oft. Gerade in solchen Augenblicken. Und deshalb fasste ich das Glas mit beiden Händen an. Die andern schwiegen.
Sie schauten sich beklommen im übergroßen Zimmer um. Aber es gab nicht viel zu sehen. Den Tisch und eine Sitzecke. Und diese Porzellangeparden. Und einige Kakteen.
Ich hoffte, dass Viktors Vater endlich etwas sagen würde. Nippte am Saft und sah mich in Gedanken schon durch das große Fenster hechten. Kurz abrollen und am Swimmingpool vorbei zur Straße rennen. Als könnte er Gedanken lesen, sagte Viktors Vater ohne Grund: »Das Haus ist nur gemietet.«
Ich schrak aus meinen Träumen auf. Und beinah kippte mir das Glas doch noch auf den Tisch. Denn Ayfer stieß mir mit dem Fuß ans Schienbein, weil Viktor jetzt ins Zimmer kam. Doch er bewegte sich so leise, dass niemand außer Ayfer es bemerkt hatte.
Noch immer war die Narbe stellenweise nur verschorft. Sogar die dunklen Fäden ragten noch immer aus der Haut hervor.
Ohne uns ins Gesicht zu sehen, sagte Viktor müde: »Hallo, guten Tag.« Und ebenso wie Ayfer wurde mir mit einem Schlag klar, dass Viktor uns auf keinen Fall eingeladen hatte.
Dann setzte er sich zu uns. Trank still von seinem roten Saft, als sei in seinem Glas bloß eingefärbter Lebertran, stellte, während sein Vater unruhig hin und her rutschte, schließlich das Getränk ab, sah zu Boden.
Und weil die Einzige, die sich in dem großen Esszimmer bewegte, die junge Frau aus Thailand war, die mit leisen Schritten das Salzgebäck auftrug und danach schnell hinausging, und weil das einzige Geräusch außer der Uhr die Gläser machten, die an die Glastischplatte stießen, gelang es Viktors Vater nicht, sich länger zu beherrschen. Er meinte, wenn auch zögernd: »Ihr seid doch seine Freunde.«
Und dann stand Viktor auf. Als er den Raum verließ, sagte er nichts. Wir schwiegen auch. Was hätten wir sonst tun sollen?
Ich überlegte, was Viktor seinem Vater erzählt hatte, ob er den Brief erwähnt hatte. Kai musste husten.
Ayfer murmelte unwillkürlich und man merkte ihrer Stimme immer noch das Staunen an – über Haus, Raum, Uhr und die Porzellangeparden: »Ich habe ihn nur zweimal im Krankenhaus besucht.«
Und Lisa fügte rasch hinzu: »Wir eigentlich gar nicht.«
Der Vater öffnete den Mund, als wolle er erwidern: Aber er hat mir doch gesagt …! Nur klappte währenddessen die Klotür überlaut ins Schloss. Man hörte einen Haken, den Riegel. Danach Wasserrauschen. Der Vater erhob sich rasch und rannte zur Toilette. Die Goldrandbrille rutschte ihm fast vom Gesicht.
Und während er begann durch die geschlossene Klotür auf Viktor einzureden – man sah ihn nicht, man hörte ihn bloß –, schauten wir uns wortlos an, standen leise auf und schlichen, unbemerkt von Viktor und seinem Vater, aus dem Haus und rannten schließlich über den verbrannten Rasen bis zur nächsten Kreuzung.
Und dort sagte Kai, bevor wir uns voneinander trennten: »Nee, Mann, das glaubt uns keiner! Meine Fresse, echt.«