30

Wir zogen uns zum Sport um. Alle, auch die Brüder, bewegten sich sehr vorsichtig. Niemand schaute dem andern in die Augen. Keiner sprach.

Jeder tat nur, was er immer tat, wenn wir nachmittags noch Sport hatten.

Viktor hielt sich abseits, von allen, auch von mir und Kai. Wenn ihm Karl-Heinz oder Franco zu nahe kamen – und zu nahe hieß näher als zwei Meter –, begann er am ganzen Körper zu zittern. Aber er hielt durch.

Er hätte zu unserem Sportlehrer sagen können: »Mir ist schlecht.« Der Lehrer hätte ihn angeschaut und Viktor, der noch bleicher wirkte als sonst, nach Hause gehen lassen.

Aber selbst diese Möglichkeit schien ihm verstellt zu sein. Es war, als liefe er auf Schienen. Am Ende der Gleise stand ein Prellbock und ohne anzuhalten fuhr Viktor darauf zu.

Ich überlegte, dass es etwas wie ein Zwang sein musste, Hypnose oder so was, und deshalb rempelte ich Viktor gleich zu Beginn der Stunde an. Er fiel hin, schlug sich ein Knie auf, betrachtete verwundert das frische Blut und tupfte mehrmals mit dem Zeigefinger gegen die aufgeschürfte Haut.

Doch obwohl er danach wacher wirkte, schien er noch immer nicht zu begreifen, was wirklich um ihn herum geschah. Er sah mich nur mit großen Augen an.

Der Sportlehrer verwarnte mich, gab einen Freistoß und fragte Viktor, bevor er das Spiel wieder anpfiff, ob Viktor weiterspielen könne.

Viktor schaute auf das Blut, schüttelte erstaunt den Kopf, so, als habe er noch nie eine Schürfwunde gesehen, hob die Hand, als regle er den Verkehr, und sagte überdeutlich: »Ja.«

Wir spielten Fußball. Viktor spielte ungeschickt wie immer in der Verteidigung und war für niemanden ein Hindernis.

Als der Pfiff des Sportlehrers das Fußballspiel beendete, ging er genau wie alle andern zurück zur Umkleidekabine. Er trottete, um weder Franco noch Karl-Heinz oder Eberhard zu nahe zu kommen, einfach ein paar Meter hinter den anderen her.

Ich war mir sicher, dass in der Kabine etwas passieren würde. Ich hatte keine Ahnung, was. Und wusste auch nicht, wie ich Viktor hätte helfen können. Ich war nur derart konzentriert auf das, was mit absoluter Sicherheit gleich geschehen würde, dass mein Körper steif wie ein Stock war.

Die Haut fühlte sich taub an. Die Hände wurden auf dem Weg zur Umkleidekabine feucht. Die Lippen flatterten. Ich knirschte mit den Zähnen.

Vor der Kabinentür stand Tina. Sie wartete auf Eberhard. Ich sah nach Viktor: Er wusste nichts. Er zog sich ohne Eile aus und schlidderte dann in den Duschraum. Einige der andern gingen nach Hause ohne erst zu duschen. Aber Viktor duschte immer, jedes Mal. Später dachte ich, dass vieles verhindert worden wäre, wenn er an diesem einen Tag darauf verzichtet hätte.

Er tat es nicht. Auch diesmal musste er sich noch waschen. Weil es sich so gehörte. Oder weil Gewohnheiten für ihn heilig waren.

Als Kai und ich uns ausgezogen hatten und, um in Viktors Nähe zu bleiben, ebenfalls in den Duschraum gingen, kam uns erst Eberhard entgegen. Kurz danach verließ auch Viktor, das Handtuch um die Hüften und so, als wolle er mit uns nichts mehr zu schaffen haben, den gekachelten Raum, in dem der Wasserdampf sämtliche Scheiben beschlug.

Ich merkte, dass ich immer noch mit den Zähnen knirschte. Viktor hingegen watschelte, als habe er mit allem auf seine Art schon abgeschlossen, blicklos Richtung Tür. Er schien, trotz der Nähe Eberhards, nicht mal mehr zu zittern.

Kai und ich sahen uns ratlos an. Kai musste blinzeln, weil er seine Brille in der Hand hielt und deswegen ausgesprochen wenig sehen konnte.

Der Strahl der Dusche prasselte hart auf die grünlich gelben Kacheln. Im Umkleideraum blieb es still, als Viktor aus der Dusche kam. Man sah seine Fußabdrücke, Flecken auf dem Linoleum im Gang, von dem die Klos abgingen. Patsch machten seine Füße. Dann hatte er die anderen erreicht.

Wir zuckten mit den Schultern, weil uns die Stille unheimlich vorkam. Wir runzelten die Augenbrauen und ich überlegte, als Kai mich fragte: »Na, und jetzt?«, ob ich Viktor folgen sollte. Trotz dieser Art, mit der er uns zu verstehen gegeben hatte, dass alles nur noch ihn etwas angehe, ihn allein.

Ich drehte am Duschknopf. Das Wasser wurde wärmer. Kai sagte: »Komm, wir gucken mal.«

Dann brach der Tumult los.

Wir rannten ohne Handtücher den kurzen Gang entlang und sahen, als wir die Tür zum Umkleideraum erreichten, dass Franco und Karl-Heinz Viktor auf eine Bank hoben.

Viktor ließ es willenlos geschehen. Er sperrte sich nicht, strampelte weder, noch rief er etwas. Er stieg nur nicht von allein auf die Bank. Karl-Heinz musste den nackten, schmächtigen Körper hochheben. Und Franco stellte Viktors Füße auf der Holzbank ab.

Die andern – fast alle kahlrasiert und angezogen – klatschten rhythmisch oder schlugen mit den Schuhen an die Wände.

Inmitten dieses Kessels stand, noch immer unbekleidet, Viktor, der nicht mal mehr fähig war zu zittern.

Der Lehrer war wohl schon gegangen. Kai setzte seine Brille auf. Sie fiel ihm fast herunter.

Nackt und mit Brille wirkte er hilfloser als zuvor. Und als die Gläser rasch beschlugen, obwohl er dran herumwischte, sah Kai fast gar nichts mehr.

Viktor stand jetzt, ohne dass ihn irgendjemand festhielt, auf der Bank. Das Trommeln steigerte sich noch. Und während ich für Augenblicke meinte den Sog zu spüren, den Drang, der meine Hände, unabhängig von mir selbst, dazu bewegen wollte, auch zu klatschen oder an die Tür zu hämmern, rhythmisch und zunehmend schneller, sagte Franco, und er holte währenddessen ein Springseil unter der Bank hervor: »Wir hängen Viktor auf!«

Die Worte füllten den Umkleideraum aus bis unter die Decke.

Das Trommeln wurde trockener. Einige, die gejohlt hatten, hielten jetzt die Klappe. Doch das Klatschen der anderen forderte von Franco, die Schlinge, die er mit zwei, drei kurzen Handgriffen geknüpft hatte, um Viktors Hals zu legen. Noch wusste man nicht, ob es nur ein Scherz, bloß ein makabres Spiel sein sollte.

Aber gerade als ich merkte, wie mich die Lähmung wieder überfiel – die, die es mir unmöglich machte, zu sprechen und mich zu bewegen –, warf Franco das andere Ende des Seils über ein Heizungsrohr an der Decke. Und während er langsam die Schlinge an Viktors Hals zuzog, baumelte das lose Ende neben Viktors Ohren.

Kai hatte die Brille heruntergerissen und öffnete den Mund. Das Klatschen war stumpf, doch immer noch treibend. Viktor stand reglos auf seiner Bank und hielt die Augen geschlossen.

Es schien, als wäre der Vorgang ihm beinahe gleichgültig. Als stünde er dort, um sich auszuruhen. Als wäre nicht er der, den alles betraf. Und diese Teilnahmslosigkeit war schrecklicher, als wenn er laut geschrien hätte.

Karl-Heinz sagte beiläufig: »Siehst du, jetzt ist es so weit.«

Viktor erwiderte nichts.

Nur Eberhard, der sich bisher bloß abgetrocknet und danach ruhig angezogen hatte, der weder geklatscht noch irgendwie getrommelt hatte, wisperte, ohne dabei seinen Kopf zu heben und dennoch so, dass alle ihn verstehen mussten: »Lasst ihn los.«

Weil die wenigen Worte wie eine Drohung klangen, drehte sich Karl-Heinz rasch um, musterte seinen Bruder und trat ihm zwischen die Beine.

Tina, die an der Tür des Umkleideraums wartete, rief: »Das kannst du doch nicht machen!«

Kai schlidderte, noch immer nackt, auf Franco und das Springseil zu.

Eberhard krümmte sich zusammen. Seinem Blick war anzusehen, dass er von nun an seinen Bruder genauso wie den Vater hassen würde.

Kai, dem jemand ein Bein stellte, kippte in eine Ecke.

Noch immer klatschten einige. Tina schlug beide Hände erschrocken vor den Mund und ächzte.

Franco, der neben Viktor stand, schien erst noch kurz zu zögern. Dann zog er an dem Seil.

Aber das Heizungsrohr gab nach. Das Seil glitt herunter. Das Geräusch, das dabei entstand, klang so, als ob die Halterung des Rohres stöhnen würde.

Und obwohl Viktor mittlerweile schon blau war im Gesicht und an den Lippen, ließ er sich von Karl-Heinz und Franco zu einem Handwaschbecken zerren, ließ es geschehen, dass die Schlinge unter dem Wasser festgezogen wurde.

Als Franco sagte: »Noch einmal!«, und nur darauf zu warten schien, dass Karl-Heinz nicken würde, stellten auch die Letzten ihr Klatschen endlich ein.

Doch erst als Tina an der Tür mehrmals hintereinander, wenn auch nur leise, seufzte: »Nein!«, erst als Kai sich in der Ecke aufrappelte und Eberhard, die Hände auf dem Unterleib, keuchte: »Du bist nicht mehr mein Bruder!«, erst als Karl-Heinz sich in dem Raum, der plötzlich eng wirkte, wild umsah, gelang es mir, mich wieder zu bewegen.

Ich bückte mich zu meiner Fahrradpumpe, hob sie hoch über meinen Kopf, umklammerte sie fester und ging auf Franco zu.


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