Die folgenden Tage vergingen in dem tröstlichen Gefühl, dass nichts Unvorhersehbares geschehen würde. Ich lernte und hatte Prüfungen. Es gab Decker, aber keine Hände, die an mir zerrten, kein Gehirn, das juckte, keine nächtlichen Ausflüge ans Ende der Straße. Vielleicht war ich geheilt. Vielleicht brauchte ich einfach nur Zeit. Vielleicht musste ich mich voll und ganz in mein Leben hineinfallen lassen und nicht mehr über das Sterben nachdenken. Oder über wiederauferstandene Großeltern.
Am Donnerstag waren die Prüfungen beendet und Decker kam vorbei. Ich hatte Pläne gemacht, um beschäftigt zu bleiben.
»Ich habe ein Projekt für uns«, sagte ich.
Decker schaute durch das Fenster auf die vom Himmel rieselnden Schneeflocken. »So ähnlich wie das, bei dem wir die verschiedenen Arten von Schnee bestimmen mussten wie die Eskimos?«
»Überhaupt nicht. Und es waren nicht die Eskimos, das hatte ich mir selbst ausgedacht. Ich wusste nicht, dass andere Leute vor uns schon auf die gleiche Idee gekommen waren.«
Er drehte sich zu meinem Bücherregal um. »Müssen wir etwa wieder deine Bücher und dann die Lebensmittel im Küchenschrank nach dem Alphabet ordnen?«
»Das mit den Lebensmitteln war doch deine Idee.«
»Mir war eben total langweilig.«
»Wie auch immer. Ich will während der Ferien alle Bücher lesen, die fürs nächste Halbjahr auf der Leseliste stehen.«
Decker rollte mit den Augen. »Das ist ein ziemlich schnarchiger Plan.«
»Der Plan ist genial. Wir haben im Frühjahr Zeit ohne Ende.«
»Du hast einen wesentlichen Aspekt vergessen. Ich lese keine Bücher, die ich lesen muss.«
Als wir zehn waren, hatte Decker Fotos von jedem Schneehaufen gemacht und in ein Ringbuch geklebt. Unter jedes Bild hatte er Notizen gemacht. Ich hingegen hatte Schneeproben genommen, in Einweckgläser gefüllt und in die Tiefkühltruhe gestellt. Bei der Kontrolle am nächsten Tag hatten alle gleich ausgesehen. Mit dreizehn hatten wir die Lebensmittel in den Vorratsschränken meiner Eltern nach dem Alphabet geordnet. Ich orientierte mich an den Markennamen: Campbell, Kellogg, Kraft. Er sortierte nach Ober- und Unterkategorien. Suppe: Erbsensuppe, Hühnersuppe, Minestrone.
Er würde mitmachen. Da war ich mir sicher. Es war nur eine Frage von Leistung und Gegenleistung. »Ich würde dafür einen Monat lang deine Hausaufgaben in Mathe übernehmen.«
Er zog die Augenbrauen hoch und grinste. »Abgemacht.«
»Du bist billig zu haben«, sagte ich, während ich die Bücher im Regal durchging.
»Nee, das war ein Eigentor: Ich hätte es sowieso gemacht.«
Ich reichte ihm Victor Hugos »Les Misérables«.
Decker riss überrascht die Augen auf. »Vergiss es. Du hast doch gewonnen. Das ist ein Witz, oder?«
Ich saß auf meinem Bett und ließ mich nach hinten in das Kissen sinken, dabei betrachtete ich das Planeten-Mobile, das über meinem Kopf kreiste. »Am besten fängst du gleich an.«
Decker blätterte durch den Roman. »Das sind über tausend Seiten!«
»Wie gesagt, am besten fängst du gleich an.«
Decker setzte sich auf die Bettkante, kreuzte die Beine auf Höhe meiner Taille und begann zu lesen. Mein rechter Arm hing über seinen Knöcheln.
Während er das erste Kapitel las, löste und verkreuzte er mehrmals die Beine, schließlich sagte er: »Also, die Sache mit Carson.«
Es dauerte einen Moment, bis ich merkte, dass er nicht mehr las. »Hmmm?«
»Carson. Ich kann nicht glauben, dass du auf ihn stehst.«
Ich setzte mich im Schneidersitz auf und pulte an meinen Fingernägeln herum. »Das habe ich nie gesagt.«
Decker ließ die Füße zu Boden gleiten. »Was zum Teufel hast du dann mit ihm auf der Couch gemacht?«
Ich untersuchte meine Fingernägel sehr, sehr gründlich. Decker und ich waren Experten darin, unangenehme Gespräche zu vermeiden, und ich war ziemlich irritiert, dass er jetzt damit anfing, Wochen später, ein halbes Leben danach. Aber es stimmte, ich stand nicht auf Carson. Jedenfalls war es nicht so, wie er dachte. Aber niemand hatte mich jemals zuvor so angesehen. Niemand hatte mir zuvor das Gefühl gegeben, begehrt zu werden oder zumindest einen zweiten Blick wert zu sein. Als er mich damals angelächelt, seinen Kopf geneigt, einen Arm um meine Hüfte gelegt und mich an sich gezogen hatte, hatte ich ihn nicht weggeschoben.
Decker war mein bester Freund. Aber er war auch ein Junge. Manche Dinge konnte man ihm einfach nicht erklären. Deshalb sagte ich: »Das würdest du nicht verstehen.«
Decker knallte das aufgeschlagene Buch so fest mit den Seiten nach unten auf meinen Schreibtisch, dass der Buchrücken brach. »Oh nein, ich verstehe sehr gut.« Er stand auf, streckte die Arme über den Kopf und ging zur Tür.
»Du fährst mich morgen Abend, oder?«
»Fahren, wohin?«
»Zur Party.«
»Du gehst auf die Party? Weil Carson dich eingeladen hat?«
»Ich gehe, weil ich hingehen will.«
Er antwortete nicht, aber ich wusste, dass er nicht ohne mich fahren würde. Ich war fast davon überzeugt, dass er mich nach der Sache am Falcon Lake nie wieder alleinlassen würde.
An diesem Abend brachte mich Dad zum nächstgelegenen Einkaufszentrum, damit ich meine Weihnachtseinkäufe machen konnte. Er fuhr etwa eine halbe Stunde, nahm mehrere Zwanzig-Dollar-Scheine aus seinem Portemonnaie, gab sie mir und ließ sich dann auf einer Holzbank vor dem Eingang nieder.
Ich schlängelte mich durch die Menschenmassen – und durch die Weihnachtsdeko. In der Mitte des Einkaufszentrums kam der Besucherstrom fast zum Erliegen, weil jemand die glorreiche Idee gehabt hatte, dort eine riesige Schneekugel aufzubauen, in der sich die Nachbildung des Nordpols befand. Kinder und Erwachsene drängten in die Kugel und warteten auf den Auftritt von Santa Claus, während künstliche Schneeflocken von oben herabrieselten.
Was für eine Verschwendung. Diese Show wäre vielleicht etwas für einen Ort mit tropischem Klima. Aber hier? Wir hatten das Original. Ich wich in den nächstbesten Laden aus, um mich von der wogenden Menge zu erholen. Und wie der Zufall es wollte, stolperte ich direkt in das perfekte Geschenk für Decker.
Mit meinem Glücksgriff in der Hand verließ ich den Laden wieder. Vorher atmete ich noch mal tief durch. Ich hielt mich immer dicht an den Wänden, um Zusammenstöße möglichst zu vermeiden. Dann schlüpfte ich in ein Elektrogeschäft, um ein Geschenk für Dad auszusuchen. Ich kaufte eine Taschenrechneruhr mit Wort-des-Tages-Anzeige, total unpraktisch, aber auf seinem Schreibtisch würde das Teil sich bestimmt gut machen.
Mit zwei Tüten bewaffnet, fuhr ich meine Ellbogen aus, um die große Halle zu durchqueren. Ein paar Kids pressten ihre Gesichter von außen an die Schneekugel, in der Hoffnung, einen Blick auf den weißbärtigen Mann in Rot zu erhaschen. Als ich an all die Bakterien dachte, die sich mittlerweile dort angesiedelt haben mussten, zuckte ich zusammen und wich instinktiv einen Schritt zurück. Dabei stolperte ich über einen Fuß und landete auf meinem Hinterteil. Niemand half mir hoch. Alles Deppen.
Ich rappelte mich auf und kämpfte mir den Weg zu einer Boutique frei, begleitet von den wüsten Beschimpfungen der Leute, mit denen ich zusammenstieß. Ich brummelte immer noch vor mich hin, als ich im hinteren Teil der Boutique Taras unverwechselbar unverschämte Stimme erkannte.
»Da ist aber jemand gar nicht in Weihnachtsstimmung«, spottete sie. Sie wurde von zwei identisch gestylten Freundinnen flankiert. »Kaufst du mir einen neuen Pulli?«, fragte sie. Dann legte sie mir den Arm um die Schultern. »Kleiner Scherz! Mensch, Delaney, bleib locker!«
»Sorry, war gerade dabei. Ich bin gerade dabei. Bis jetzt hab ich noch keine Zeit gehabt.«
»Kein Problem. Hey, du und Decker, seid ihr zusammen? Du weißt schon.«
»Nein.« Die Wendung, die dieses Gespräch nahm, gefiel mir ganz und gar nicht. Sie stand dicht vor mir, alles an ihr duftete wunderbar, ihr Duschbad, ihr Shampoo, ihr Waschmittel. Die Typen mussten ihr allein wegen des Geruchs zu Füßen liegen.
»Dann ist das heute dein Glückstag. Wir sind quitt.«
Ich hatte das dumpfe Gefühl, dass ich gerade etwas eingetauscht hatte, von dem ich mich gar nicht trennen wollte. Ich streckte mich und löste mich aus ihrer Quasi-Umarmung. Dann durchsuchte ich einen Stapel hellgrüner Pullis in einem Regal vor uns und zog mit Absicht einen hervor, der Tara garantiert eine Nummer zu groß war, mindestens.
»Hier«, sagte ich, hielt ihr den Pulli hin und zählte ihr das Geld in die Hand.
Sie lachte, warf den Pullover auf den Stapel zurück und gab mir das Geld wieder. Dann drehte sie sich auf dem Absatz um und verließ den Laden. Ich war so verwirrt, dass ich den lächerlichen grünen Pulli für Mum kaufte und das Shoppen aufgab.
Um meine Nerven zu beruhigen, atmete ich tief durch. Und dann spürte ich es. Ein schwaches Ziehen, wie ich es schon im Krankenhaus wahrgenommen hatte, und zwar in Dads Richtung. Ich schloss die Augen und ließ mich von dem Gefühl lenken. Ich stieß andere Leute zur Seite. Ihre Geräusche, ihre Gerüche und ihre Einkaufstüten, alles prallte an mir ab, während das Ziehen stärker wurde, ein Tunnelblick der Sinne. Als ich mich dem Ort näherte, wo ich Dad zurückgelassen hatte, verwandelte es sich in ein energisches Zerren, das mich wie magnetisch zu der Bank zog. Mein Vater war nicht allein.
»Geschafft«, sagte ich, als ich vor ihm stand.
»Das ging aber schnell.«
Ich zuckte mit den Schultern. »Bei den vielen Leuten macht es keinen Spaß.«
»Ich verstehe genau, was du meinst«, sagte er und warf einen kurzen Blick auf den Mann direkt neben sich. Das Gesicht des Alten war mit Altersflecken übersät und sein schwerer Atem übertönte sogar den Lärm der Menge. In seiner schlaffen Haut hätte gut auch noch ein zweiter Körper Platz gehabt. Sein Stock lag quer auf seinem Schoß und dehnte sich bis in die Intimsphäre meines Vaters aus. Um den Stock war ein rotes Band gewickelt, sodass er wie eine Zuckerstange aussah. Der Mann hielt ihn locker zwischen den knochigen Fingern.
Als Dad aufstand, glitt dem Alten der Stock vom Schoß und rollte über den Boden. Ich zuckte zurück, als der Mann seine Hand in unsere Richtung ausstreckte. Aber Dad hatte oft mit alten Leuten zu tun, sodass er sie nicht so unangenehm fand wie ich und sich auch nicht so ungeschickt benahm. Er bückte sich, hob den Stock auf und gab ihn dem Mann zurück. Der Alte nickte ihm dankbar zu und zog sich an den Rand der Bank zurück, seine dünnen Knochen falteten sich zusammen wie die Holzlamellen einer Jalousie.
Der Atem des Mannes stockte, er röchelte und begann zu husten. Dabei spuckte er Schleim, Bazillen und Arzneimittelgeruch in meine Richtung. Erschrocken wich ich zur Seite, legte schützend einen Arm vor mein Gesicht und stieß mit dem Bein gegen eine andere Bank.
»Hey, Delaney!«
Ich blickte nach links. Auf der Bank lümmelte Troy, die Beine weit von sich gestreckt. Sein Gesicht wurde teilweise von den braunen Haaren und der grauen Kapuze seines Sweatshirts bedeckt. Seine blauen Augen funkelten mich an und er hatte wieder sein schiefes Lächeln aufgesetzt.
Dad trat zu mir und Troy stand auf. Er zog die Hände aus der Tasche seines Sweatshirts, streifte die Kapuze ab und strich sich die Haare aus dem Gesicht. Er wippte von den Zehen auf die Fersen und machte einen Schritt auf mich zu.
»Delaney, willst du mir deinen Freund nicht vorstellen?«
Er war kein Freund. Ich wusste nicht mal genau, wer er überhaupt war. Ein Fremder war er nicht. Ein Bekannter? Laut Janna konnte er in der Zeitung nichts über mich gelesen haben. Ein neugieriger Großstädter vielleicht? Es ist ja nicht so, als gäbe es in unserer kleinen Stadt irgendjemanden, der noch nichts über meinen Unfall gehört hatte. Warum sich also an Kleinigkeiten hochziehen?
»Dad, das ist Troy. Troy, mein Vater.«
Troy streckte seine Hand aus und Dad schlug ein. Einige Sekunden lang schüttelten sie sich fest die Hände, dann lösten sie sich wieder.
Es folgte eine leere Stille – ein Loch in der lärmenden Menge. Troy sah mich an. Dad sah Troy an und ich sah Dad an.
Ich räusperte mich und sagte: »Wir müssen los.«
»Okay, wir sehen uns später«, sagte Troy. Er setzte sich wieder auf die Bank und starrte den Mann mit dem rot umwickelten Stock an.
Dad legte mir eine Hand auf den Rücken und begann mich durch die Menge zu schieben, die uns entgegenströmte. Hinter mir hörte ich Troy sagen: »Du hast es verstanden, oder?«
Ich reckte den Hals, blickte an Dad vorbei nach hinten und fragte: »Was meinst du?«
Aber die Sicht auf Troy war von den Einkaufswütigen versperrt. Meine Frage wurde von den Menschenmassen und Plastiktüten verschluckt, die als Antwort raschelten.
Am Freitagmorgen tauchte Decker nicht auf. Am Freitagnachmittag auch nicht. Und er ging nicht ans Handy. Mum war einkaufen gegangen und hatte mir genaue Anweisungen gegeben, was ich tun durfte (duschen, fernsehen, meine Wäsche zusammenlegen) und was nicht (den Herd einschalten, das Haus verlassen). Ich versuchte zu lesen, aber nach dreieinhalb Seiten bekam ich Kopfschmerzen. Als ich die Garagentür hörte, wartete ich bereits ungeduldig darauf, etwas zu tun zu bekommen.
Mum stellte eine Papiertüte auf die Arbeitsplatte und lächelte mich an. »Auspacken?«
»Klar.« Das machten wir immer zusammen. Eine Art Tradition, denke ich. Das klingt zwar banal, aber in diesem Moment war es etwas Beruhigendes, alles wurde wieder wie vorher. Ich fragte mich, ob Mum das schon mit ihrer Mutter gemacht hatte. Ob sie auch lieb gewonnene Rituale gehabt hatten. Ob Mum nicht nur negative Erinnerungen hatte.
Ich zog das Brot und die Konserven aus der Tüte und räumte alles in den Küchenschrank. Die ganze Zeit versuchte ich mir vorzustellen, wie Mum in meinem Alter gewesen war. Ich fragte mich, warum sie den Kontakt zu ihren Eltern abgebrochen hatte. Ob sie ihr Schlaftabletten gegeben hatten? Dachten sie, ihre Tochter hätte Halluzinationen? Hielten sie ihre Tochter für eine Mörderin? Wohl kaum.
Nein, dachte ich und pfefferte ein Glas Tomatensoße auf die Arbeitsfläche. Das ging nur mir so. Wütend wirbelte ich herum und stieß mit dem Handrücken gegen das Glas. Ich sprang vor, um es aufzufangen, aber es war zu spät. Das Glas knallte auf die Fliesen. Die Scherben spritzten über den Boden und die Tomatensoße in mein Gesicht. Mum kniete sich inmitten der Glasscherben vor mir auf den Boden, ihre beige Hose färbte sich dunkelrot. Dann nahm sie mein Gesicht zwischen ihre Hände.
»Es ist nur Soße«, sagte ich.
Mum wischte mir mit dem Ärmel ihrer Bluse Tomatenstückchen und Oreganoblättchen aus dem Gesicht. Mit den Augen und den Fingerspitzen untersuchte sie mich nach Verletzungen. Als sie keine fand, schob sie mich von sich. Sie stand auf und betrachtete das Chaos am Boden, ihre bekleckerten Klamotten, mein verschmiertes Gesicht.
»Verdammt, Delaney.«
»Es tut mir leid, ich …«
»Verschwinde hier und mach dich sauber.« Dann sank sie wieder auf die Knie, um mit zitternden Fingern den bis eben noch weißen Fliesenboden nach Sprüngen abzusuchen.
Decker sah mich kaum an, als er mich abholte. Er war wohl immer noch sauer wegen der Carson-Sache. Und Mum gab sich alle Mühe, ihn einzuschüchtern.
»Du fährst, also trinkst du nichts. Nicht einen Schluck. Verstanden?«
Wir beide nickten und sahen zu Boden.
»Und wenn es Probleme gibt, rufst du an. Habe ich mich klar ausgedrückt? Delaney? Decker?«
Wir brummelten etwas.
Sie sah Decker an. »Du bringst sie sicher wieder nach Hause.« Dann wandte sie sich an mich. »Ich will meine Entscheidung nicht bereuen müssen.«
»Peinlich«, sagte Decker, als wir im Auto saßen. Er schaute mir immer noch nicht ins Gesicht.
»Ach, echt?«
»Mein Vater droht damit, mir das Auto wegzunehmen, aber irgendwie macht mir deine Mum mehr Angst.«
»Schnick, Schnack, Schnuck, wer was trinken darf?«, fragte ich.
»Das ist unfair dir gegenüber. Du machst sowieso immer Papier«, sagte er in die Dunkelheit hinein.
»Gar nicht.«
»Dann ist es unfair, weil ich weiß, dass du dieses Mal kein Papier machen wirst. Ich werde Stein machen. Ich kann gar nicht verlieren.«
»Ich habe einen Hirnschaden, weißt du. Und das ist gemein.« Er schaute mich immer noch nicht an, aber er lächelte zumindest.
Wir fuhren einen weiten Bogen um die Stadt, weil die Umgehungsstraßen geräumt und viel sicherer waren. Um zurück ins Zentrum zu kommen, nahm Decker auf der anderen Seeseite eine Abkürzung. Wir kamen ganz nah an der Stelle vorbei, zu der wir an dem Tag wollten, als ich ins Wasser gefallen war.
Das Haus am See gehörte den Baxters und wurde während der Sommermonate vermietet. Im Winter stand es leer. Kein Tourist wollte im Dezember nach Maine. Die Sicht auf den See wurde von hohen Bäumen verdeckt, was mir nur recht war. Wir parkten am Ende der Schotterstraße auf der Wiese. Die gewundene Einfahrt war bereits Stoßstange an Stoßstange zugeparkt. Wir stiegen die Steinstufen zum Eingang hinunter und betraten das Haus.
»Oh mein Gott«, rief ein schon nicht mehr ganz taufrischer Zwölftklässler, »schaut mal, wer da kommt!«
Ich wollte keine Spaßverderberin sein und knickste. Jemand gab mir ein Bier und ich zwinkerte Decker zu.
Unsere Freunde hatten sich auf zwei Sofas verteilt und winkten uns zu sich. Carson schubste Kevin neben sich weg und schob ihn mit dem Fuß auf das andere Sofa. Ich setzte mich auf den frei gewordenen Platz. Decker blieb an der Seite stehen.
Ein schrilles Kreischen kündigte Taras Auftritt an. Sie schoss aus der Küche, umarmte Decker und presste sich an ihn. »Decker! Schön, dass du da bist!«
»Kein Grund zur Euphorie. Ich bin nur der Fahrer«, sagte er und zeigte in Richtung Couch.
»Oh, hi«, sagte Tara, machte sich aber nicht mal die Mühe, mich anzulächeln. Sie warf die langen braunen Haare über die Schultern nach hinten und sah Decker an. »Also, ich bin in der Küche, falls du dich hier langweilen solltest.« Dann blickte sie zu mir, um klarzumachen, wen Decker hier vielleicht langweilig finden könnte. Schließlich stolzierte sie davon.
Die Leute auf der Couch gingen meinen Unfall bis zum Erbrechen durch, wieder und wieder. Oder besser, meinen Sturz, wie sie es nannten. Als wäre ich ausgerutscht, hätte mir das Knie aufgeschlagen, wäre wieder aufgestanden und hätte mir den Matsch von der Hose gewischt. Nichts Besonderes, Alltag eben. Decker begann sich tatsächlich zu langweilen, denn irgendwann während der dritten Wiederholung verschwand er.
»Und dann haben Justin und Kevin ihn gepackt«, sagte Carson.
»Das haben sie nicht«, wandte Janna ein, »sonst wäre das Eis gebrochen.«
»Oh, entschuldige bitte. Sie haben ihn an den Gliedmaßen gesichert und wieder ans Ufer genötigt. Besser so?«
Justin und Kevin grinsten. Das war ihr Teil der Geschichte. Ihr Moment. Ich fragte mich, ob ich das auch für sie getan hätte. Ein schöner Gedanke, wenn die Antwort Ja gewesen wäre. Aber wenn es um Angriff oder Flucht ging, gehörte ich eher zur Fluchtfraktion. Nahm ich jedenfalls an.
Ich konnte die beiden die ganze Zeit nicht aus den Augen lassen. Kevins braunes Haar war raspelkurz und ich ertappte mich dabei, wie ich auf seinen Schädel starrte und über seine Hirnwindungen nachdachte. Welches Areal in seinem Hirn wohl für seinen Mut verantwortlich war? Dann fixierte ich Justins braunen Lockenkopf und überlegte, warum es bei ihm anders war.
Zu ihrem Glück – oder Unglück – hatten die beiden schon ihren Ruf weg, den sie der Party einer Sechstklässlerin zu verdanken hatten. Becca Lowry, die letztes Jahr weggezogen war, hatte ihren zwölften Geburtstag in dem Hallenbad gefeiert, in dem auch die Kunstspringer trainierten. Die meiste Zeit verbrachten wir deshalb im Sprungbecken und stachelten uns gegenseitig an, vom Zehnmeterturm zu springen.
Kevin war mutiger als die meisten anderen. Er machte Arschbomben und Rollen, sprang rückwärts und schlug ein Rad in Richtung Abgrund. Am Ende waren wir alle gesprungen, bis auf Justin.
In den ersten zehn Minuten hatte er alle möglichen Ausreden vorgebracht. »Das Wasser ist zu kalt« und »Ich glaub, mir geht’s nicht gut« und »Oh Mann, ich glaub, Carson hat in den Pool gepinkelt«, bis er es schließlich nicht mehr leugnen konnte. »Ich habe Höhenangst«, sagte er schließlich und ging in die Bar.
Ich hatte auch Angst. Aber als ich dran war, bat ich Decker, mit mir gemeinsam zu springen, was er auch tat. Armer Justin. Ein Junge zu sein und jemanden zu bitten, mit ihm zu springen, war ungefähr so, wie jemanden zu bitten, ihm die Hand zu halten.
»Justin«, unterbrach ich. Alle schienen überrascht, dass ich mich in meine eigene Geschichte einmischte. »Warum hast du das gemacht?«
Er biss sich auf die Lippen. »Warum habe ich was gemacht?«
»Dass du Decker nachgegangen bist. Ich meine, so was machst du doch sonst nicht.«
»Wie meinst du das?«
Alle Blicke waren jetzt auf mich gerichtet.
»Na ja«, sagte ich leise, »du bist nicht gerade der Mutigste.«
Das war nicht böse gemeint. Es war nun mal eine Tatsache. Ich wollte einfach nur wissen, wie das Gehirn funktionierte. Ob ich auch so gehandelt hätte. Ob wir mehr sein können, als wir zu sein scheinen.
Carson lachte. »Na super. Ich bin echt froh, dass wir dir das Leben gerettet haben.«
»Ich auch«, sagte Janna.
Alle nickten, bis auf Justin. Eine stumme Erinnerung daran, dass ich für immer in ihrer Schuld stand.
»Mann, Delaney, danke. Ich schätze mal, ich bin mutiger, als du gedacht hast, was?« Dann setzte er sein Bier an und leerte es auf ex.
Jetzt wurde mir auch langweilig. Dafür hatte ich meine Mutter weich gekocht? Um mir immer wieder die Geschichte des schlimmsten Tags meines Lebens anzuhören, dabei lauwarmes Bier zu trinken und von Justin wütend angestarrt zu werden? Ich ging ins Bad. Als ich zurückkam, stand Justin in der Küche, direkt neben dem Kühlschrank, und wartete auf mich. Er stolperte auf mich zu und packte mich an der Schulter.
»Ich hab gelogen«, sagte er. Sein Gesicht war so nah vor meinem, dass ich seine Alkoholfahne riechen konnte. »Ich habe es nicht gemacht, weil ich mutig war, sondern weil ich ein Feigling bin. Genau wie du vermutet hast.«
Ich wich zurück, aber er ließ mich nicht los.
»Justin, du warst ein Held. Es tut mir leid, dass ich das vorhin gesagt habe.«
Sein Griff wurde fester. »Nein, ich hatte eine Scheißangst. Ehrlich gesagt, hatte ich mehr Angst, Decker zu verlieren als dich.«
Ich legte meine Hände auf seine Schultern und schob ihn von mir weg, dabei stolperte ich gegen die Wand. Zeit zu gehen.
Ich ließ Justin vor dem Kühlschrank stehen, wo er nach Eis für einen weiteren Drink suchte. Er war einfach nur er selbst, nicht mehr und nicht weniger. Die Menschen sind genau das, was sie vorgeben zu sein, auch wenn es von außen betrachtet manchmal anders aussieht.
Ich holte meinen Mantel und machte mich auf die Suche nach Decker. Er war nicht im Wohnzimmer und auch nicht in der Küche. Vielleicht im anderen Bad? Ich ging das schmale, holzvertäfelte Treppenhaus hinunter. Da hörte ich Tara kichern und blieb abrupt stehen.
Ich konnte nur ihren Rücken sehen. Sie stand in einer finsteren Ecke, Decker war irgendwo dahinter, eingeklemmt zwischen Badezimmertür und Wand. Ich grinste und machte einen Schritt nach vorn, um ihn vor Tara zu retten, aber in diesem Moment stellte sie sich auf die Zehenspitzen. Genau wie ich es vor ein paar Tagen bei Decker zu Hause hätte machen sollen. Decker blickte nach unten und berührte ihren Mund mit seinen Lippen. Einfach so. Als wäre es nichts Besonderes. Als hätte er es schon tausendmal gemacht.
Dann lächelte er sie an, nahm ihr Gesicht zwischen seine Hände und strich ihr durchs Haar. Und dieses Mal stellte sich Tara nicht auf die Zehenspitzen. Decker legte seine Hände auf ihren Rücken, zog sie zu sich heran, beugte sich nach unten und küsste sie wieder. Er war nicht betrunken und küsste sie. Er hatte mich hergefahren und sie geküsst. Falsch: Er küsste sie immer noch.
Das Bier begann in meinem Magen zu rumoren, die Säure stieg nach oben und ich presste die Hand auf den Mund, weil ich dachte, ich müsste mich übergeben. Ich ging einen Schritt zurück und stieß gegen irgendein Möbelstück an der Wand. Eine Lampe fiel herunter. Das schwache Licht breitete sich über den Boden aus.
Decker blickte auf und sein Mund öffnete sich. Er bewegte die Lippen, um etwas zu sagen, aber ich hörte ihn nicht. Ich tastete mich durch den dunklen Flur, bis ich eine angelehnte Tür gefunden hatte. Ich drückte sie auf und verschwand.