Ich schlief bis Mittag wie ein typischer Teenager, obwohl ich kein typischer Teenager war und sonst nie so lange schlief. Normalerweise weckte mich der Duft von Mums Frühstück schon früher auf. Als ich hinunterkam, lief Dad unruhig in der Küche umher, als suchte er nach etwas zu essen. Offensichtlich war Mum noch im Schlafzimmer.
»Ohne Mum bin ich wirklich aufgeschmissen«, sagte Dad. »Ich hatte Müsli zum Frühstück. Im Moment denke ich über Toast zum Mittagessen nach.«
Ich drehte mich zum Vorratsschrank. »Ich kann das machen, Dad. Was hättest du gern?«
Er musterte mich und ich versuchte, mein Gesicht im Schrank zu vergraben, um meine blutunterlaufenen Augen und das vom Weinen geschwollene Gesicht zu verstecken.
»Delaney, wie war die Beerdigung?«, fragte er.
»Schrecklich«, sprudelte es aus mir heraus. »Aber so sollten Beerdigungen doch sein, oder?« Mein Atem begann hektisch zu werden.
»Was hältst du davon, zum Mittagessen auszugehen?«
»Wo ist Mum?«
»Sie schläft noch.« Dad drehte sich zum Küchentresen. Ich folgte seinem Blick und sah dort meine Medikamente liegen. Sie waren nicht mehr über dem Kühlschrank versteckt. Ich wollte gerade etwas sagen, aber Dad kam mir zuvor. »Sandwiches. Ein Sandwich wäre doch was. Hast du Lust?«
»Ich hab Lust.«
Wir fuhren in den Nachbarort, in die Straße, in der Dad arbeitete und wo ihn jeder kannte.
»Ich erinnere mich an dich, Schätzchen«, sagte eine Verkäuferin, »allerdings warst du damals gerade mal so groß.« Sie hob die Hand in Taillenhöhe.
Ich lächelte möglichst freundlich und folgte Dad zu einer Sitzecke. Während ich mein Truthahnsandwich aß, spürte ich die ganze Zeit den Blick der Verkäuferin auf mir ruhen. Starrte sie mich an, weil ich mich so verändert hatte oder weil ich eigentlich tot war? Was es auch war, es verdarb mir den Appetit.
Ich hob abrupt den Kopf und musterte die Frau hinter dem Tresen. Aber ich hatte mich geirrt. Sie schaute gar nicht mich, sondern Dad an. Mir war nichts Besonderes an ihm aufgefallen, es gab keinen Grund, ihn anzustarren. Seine Haare waren wie immer so stark gegelt, dass sie einem Tornado standhalten würden. Er ging jeden Morgen zur gleichen Zeit zur Arbeit und trug einen Anzug. Er wurde immer etwas zu überschwänglich, wenn er über Geld sprach. Und ich glaube nicht, dass er für eine ruhige Nacht Schlaftabletten brauchte.
Er griff nach seinem Sandwich und zum ersten Mal bemerkte ich schwache Ringe unter seinen Augen. Er räusperte sich. »Bestell doch was für deine Mutter.«
Ich schüttelte den Kopf. »Sag du mir, was sie mag … ich weiß es nicht.«
»Du weißt es nicht?« Er wischte mit der Hand über sein Tablett und lehnte sich zurück. »Du weißt es wirklich nicht, oder?«
Alles wurde eng – mein Magen, mein Brustkorb und dann meine Kehle. Dad sprach mit mir, als wäre ich jemand anders.
»Nun, dann will ich dir mal etwas erzählen«, fuhr er fort. »Eines Tages, als deine Mutter etwa in deinem Alter war, hat sie ihr Elternhaus verlassen und ist nie wieder dorthin zurückgekehrt. Sie ist einfach gegangen. Und vielleicht denkt sie, oder zumindest dachte sie es, dass ihr das Gleiche als Mutter passieren würde. Als sei das so etwas wie ihr Karma. Natürlich ist die Situation eine ganz andere, aber das ist ihre größte Angst.«
»Sie ist einfach gegangen?«
»Ich glaube, einfach ist das falsche Wort. Es gibt verschiedene Arten von Missbrauch. Einige sind offensichtlicher als andere. Ihr Vater, dein Großvater, war besessen von Werten wie Familie, Zuhause und allem, was damit zusammenhing, deine Mutter eingeschlossen. Und er bestrafte sie, nicht auf körperlicher, aber auf seelischer Ebene. Wenn sie ihre Kleider nicht in die Waschküche brachte, warf er sie weg. Wenn Krümel auf dem Teppich lagen, gab es kein Abendessen. Und eines Tages, ihr letzter Tag zu Hause, kam sie nicht zur vereinbarten Zeit nach Hause. Zur Strafe schloss er sie im Keller ein, die ganze Nacht und den ganzen nächsten Tag, eine ausweglose Situation. Als er dann abends die Tür aufschloss, blieb sie zunächst im Keller. Sie wartete einfach ab. Ich glaube, sie hatte entschieden, dass es reichte. Sie ging durch das Wohnzimmer, wo er auf der Couch saß, direkt an ihm vorbei, und verließ das Haus. Danach wohnte sie bei verschiedenen Freunden und die Entfernung von zu Hause wurde immer größer. Sie kehrte nie zurück. Vielleicht hilft dir das, deine Mutter besser zu verstehen.«
Ich starrte auf die Speisekarte über dem Tresen, weil ich nicht wusste, wohin ich sonst schauen sollte.
»Die Geschichte kanntest du nicht«, sagte er, »aber du kennst Mum.« Er tätschelte meine Hand, damit ich seine Logik spüren konnte. Wenn er davon ausging, dass ich meine Mutter immer noch kannte, dann war er auch davon überzeugt, dass ich immer noch die gleiche Delaney war.
»Du kennst sie«, wiederholte er.
Ich stand auf, um etwas zu bestellen, als mir einfiel, dass ich noch etwas über sie wusste. Etwas, das Mum ihm offensichtlich nicht gesagt hatte. Sie war nicht wegen ihres Vaters gegangen. Das hatte sie mir erzählt. Sie war wegen ihrer Mutter gegangen. Weil sie nichts unternommen hatte, als sie im Keller eingeschlossen war.
Wer hatte damals noch auf der Couch gesessen, als sie für immer das Haus verließ? Ihre Mutter, die auch dann nichts tat. Mum hatte verstanden, dass das Nichts schlimmer sein konnte als das Etwas. Wie die Finsternis. Das Nichts ist wahrscheinlich das Schlimmste von allem. Auch ich hatte das verstanden.
Als wir zu Hause in die Einfahrt fuhren, sah ich eine Gestalt auf der Veranda. Mum saß nach vorn gebeugt auf der Hollywoodschaukel, eine Hand umklammerte die Eisenkette, ihre Haare flatterten im Wind. Dad seufzte und ging durch die Garage ins Haus.
»Sag deiner Mutter, dass wir ihr etwas zum Mittagessen mitgebracht haben.«
Ich ging langsam die Einfahrt hinauf und überquerte den Rasen, der Schnee knirschte unter meinen schweren Stiefeln. Mit jedem Schritt lockerte sich ihr Griff an der Kette. Ich setzte mich neben sie und die Schaukel schwang hin und her.
»Wo seid ihr gewesen?«, fragte sie und bemühte sich gar nicht erst, ihre Sorge zu verbergen.
»Wir haben dir was zu essen geholt.« Ich hielt die weiße Papiertüte hoch, aus der unten Mayonnaise heraustropfte.
Sie nahm mir die Tüte aus der Hand und stellte sie neben sich. Ich wünschte, sie würde etwas essen. Oder etwas sagen. Oder bemerken, dass ich immer noch da war.
»Mum«, sagte ich.
Sie zuckte kurz mit dem Kopf und antwortete mit einem undefinierbaren Geräusch, das tief aus ihrer Kehle kam.
Und dann stellte ich ihr die Frage, die ich der alten Frau hatte stellen wollen, bevor Troy aufgetaucht war. »Wenn du noch einen Tag zu leben hättest, was würdest du tun?«
Sie wich zurück und schüttelte den Kopf, um den Satz aus ihrem Kopf zu löschen. »Sag so was nicht«, zischte sie.
Ich legte meine Hand auf ihren Arm, um mich zu vergewissern, dass sie nicht wegging. Und ich fragte erneut: »Was würdest du tun?«
Ihre Augen zuckten hektisch, sie suchte nach Antworten. Dann murmelte sie: »Vieles. Zum Beispiel, dir verbieten, auf dem See zu spielen.«
Ich drückte ihren Arm. »Das kannst du nicht mehr ändern. Ich meine, jetzt. Wenn es jetzt so wäre. Was würdest du heute tun?«
Ich fragte mich, was diese alte Frau getan hätte, wenn sie die Chance dazu gehabt hätte. Ich fragte mich, was ich anders gemacht hätte, bevor ich im Eis eingebrochen war. Was ich auf diese Frage geantwortet hätte.
Ich sah zu, wie Mums Augen über den Himmel wanderten und dann an etwas hängen blieben. Ich reckte mich, um zu erkennen, was es war, doch es war nur eine kleine Wolke zu sehen. Nichts Ungewöhnliches. Aber ihr Mund öffnete sich, sie atmete geräuschvoll aus und konnte den Blick einfach nicht davon lösen. Und dann sagte sie: »Das.«
Die Wolke wurde vom Wind weggeweht, aber Mums Augen bewegten sich nicht. Ich legte den Kopf schräg und schaute genauer hin. Klarer blauer Himmel, mehr nicht. Ich verstand sie nicht.
»Mum?«, fragte ich.
Aber sie antwortete nicht. Sie stieß sich mit den Fußzehen vom Boden ab und schaukelte vor und zurück, als hätte sie mich nicht gehört. Ihr Kopf lehnte an der hölzernen Rückwand und ihre Augen waren geschlossen. Aber sie war nicht traurig oder wütend oder entmutigt. Sie war hier und doch nicht hier. Sie hatte das Gesicht der Sonne zugewandt, saugte sie regelrecht in sich ein, als hätten wir einen heißen Sommertag.
Und dann legte sie ihre Hand auf meine und ich hielt sie fest. Denn ich begriff, was sie mit »das« gemeint hatte.
Mich. Sie meinte mich.
Wir schaukelten. Mum hielt die Augen geschlossen. Ich sah weiter in den Himmel und fragte mich, ob er auch für mich eine Antwort hatte. Dann räusperte ich mich und sagte: »Wenn du gegessen hast … können wir dann Sachen für das nächste Schulhalbjahr besorgen?«
»Ja, Delaney. Ja, das machen wir.«
Ein ganz normaler Teenager. Genau das war ich heute. Ausschlafen. Mit Dad zu Mittag essen. Schulsachen kaufen mit Mum. Ich könnte Jahrgangsbeste werden, wenn ich Mathe in den Griff bekam. Wenn nicht, konnte ich immer noch unter den besten fünf Prozent meiner Klasse sein. Nicht die Allerbeste, aber ich hatte trotzdem viele Pluspunkte für meine Collegebewerbung. Es würde für ein gutes College reichen und konnte eine solide Basis für die Zukunft sein.
Doch als wir den Schreibwarenladen verließen, kam es wieder, dieses Gefühl, dieses Ziehen, das mich daran erinnerte, dass ich kein normaler Teenager war. Wir saßen im Auto und es wurde stärker und stärker. Als wir an der Ampel standen, blickte ich nach rechts – in die Richtung, aus der das Ziehen kam – und sah Troys Wagen an der Tankstelle stehen. Ich beugte mich vor und tat so, als würde ich in den Einkaufstüten nach etwas suchen.
»Wir haben Batterien für meinen Taschenrechner vergessen.«
»Wir haben sicher noch welche zu Hause«, sagte Mum. Und dann lächelte sie mich an, als wäre sie glücklich darüber, dass ich mir Sorgen um die Schule machte, als wäre ich wieder die alte Delaney Maxwell. Sie wusste nicht, dass ich nur so tat.
»Lass uns hier noch welche mitnehmen, nur für den Notfall.«
Es zog mich in den Tankstellenshop. Das Ziehen war stark, aber ich spürte noch kein Jucken im Kopf und meine Finger zitterten nicht. Der Tod stand noch nicht unmittelbar bevor. Um ehrlich zu sein, wusste ich nie, wie nah der Tod wirklich war. Bei Carson war es unerwartet schnell gegangen. Bei der Frau im Altersheim lief alles viel langsamer ab, sie lebte noch, als ich sie das letzte Mal gesehen hatte. Mein eigener Tod dauerte elf Minuten. Troys drei Tage.
Aber hier war jemand krank. Definitiv. Und er würde sterben. Definitiv.
Mum parkte direkt vor der Tankstelle. Wir betraten den Laden und ich ging auf den Verkaufstresen zu. Die Batterien waren hinter der Kasse gestapelt, wo normalerweise die Zigaretten lagen. Ich trommelte mit den Fingern auf der dreckigen Glasoberfläche des Tresens und hinterließ gut sichtbare Abdrücke. Hinter dem Tresen war niemand. Wahrscheinlich war der Angestellte gerade auf der Toilette in der hinteren Ecke des Ladens. Denn genau dorthin wurde ich gezogen. Auf dem einzigen Klappstuhl davor saß jemand mit einer Zeitung vor dem Gesicht und einer Tasse Kaffee neben sich.
»Hi, Troy«, rief ich.
Troy ließ die Zeitung sinken. Er schien nicht überrascht, mich zu sehen, eher neugierig. Als Mum hinter mir auftauchte, riss er verblüfft die Augen auf.
»Troy! Ich habe dich gar nicht gesehen. Was machst du hier?«
Ich lächelte ihm süffisant zu und fragte stumm: Ja, was genau machst du hier?
Er raschelte mit der Zeitung. »Ich lese hier im Warmen die Zeitung. Mein Auto hat keine Heizung.«
Mum runzelte die Stirn. Das hätte ich sicher auch gemacht, wenn ich nicht schon in seinem Auto gesessen und gewusst hätte, dass es eine Heizung hatte.
Die Toilettentür öffnete sich und ein korpulenter Mann kam heraus. Das Hemd hatte er in seine Baggy-Jeans gestopft. Das schüttere braune Haar war mit grauen Strähnen durchzogen. Und ihm fehlte der Unterkiefer. Sein Mund stand nicht offen oder hing herunter, der Knochen, der dort normalerweise war, fehlte einfach. Außerdem hinkte der Mann stark. Er zog ein Bein hinter sich her und hatte eine Hand auf den Oberschenkel gelegt. Sein schlaffer Fuß machte ein schleifendes Geräusch, wenn er ihn über den Boden zog. Als würde er sich wehren.
Als er näher kam, spürte ich, dass das Ziehen des Todes von ihm ausging. Als würde das Schleifen winzige Partikel am Boden hinterlassen, bis sich der ganze Laden nach Tod anfühlte. Es war erdrückend. Und verwirrend. Ich wollte nur noch weg, einfach verschwinden, aber ich konnte Troy nicht mit ihm allein lassen.
Zu allem Überfluss kannte ich den Mann, zumindest vom Sehen. Er war einer der Fischer, ein Verwandter von James McGovern, in dessen Haus meine Freunde eingebrochen waren, um mich zu retten. Vielleicht waren sie Brüder oder Cousins. Das wusste ich nicht genau. Von mir zu Carson über James McGovern zu dem Mann in der Tankstelle, der sterben würde. Bekannt um drei Ecken.
»Leroy«, sagte Mum, die ihn offensichtlich besser kannte, »wie geht es dir?«
»Ich bleib dran«, antwortete er, aber er war kaum zu verstehen, denn er sprach nur mit Zunge und Gaumen.
Ich fixierte einen Punkt genau hinter ihm, nahm all meinen Mut zusammen und sagte kumpelhaft: »Hallo Leroy, kennst du Troy?« Ich deutete auf Troy, der immer noch in dem Klappstuhl saß. »Das ist Troy Varga. Troy, Leroy.«
Troy funkelte mich an, dann lächelte er Leroy zu, der grüßend die Hand hob.
»Hey, die Namen reimen sich sogar. Einfach zu merken, oder?« Mum lachte.
Troy blickte finster drein, er wusste genau, was ich vorhatte. Aber er konnte mich nicht aufhalten.
Troy würde Leroy nichts tun, wenn er verhindern wollte, dass man sich an ihn erinnerte, wenn man an Leroy dachte. Er war vor dem Feuer weggelaufen, aus dem Hof meiner Nachbarin geflüchtet und hatte mich mit Carson allein gelassen, als wir die Sirenen hörten. Er hatte Angst, man könnte ihn mit irgendetwas in Verbindung bringen. Deshalb lebte die Frau im Altersheim auch noch, weil er dort arbeitete. Er wollte nicht in Verdacht geraten.
Mum kaufte die Batterien, während ich im Hintergrund neben Troy stehen blieb.
»Habt ihr zwei heute Abend schon was vor?«, fragte Mum.
»Ich wollte Silvester mit dir und Dad verbringen. Wie immer. Wir könnten Karamellbonbons machen.«
»Tolle Idee. Troy, du bist herzlich eingeladen.«
Diesmal war es Troy, der süffisant lächelte, und ich fragte mich, ob ich Leroy gerettet und dafür Mum und Dad in Gefahr gebracht hatte.
»Ich bin im Auto, Delaney«, sagte Mum, nachdem sie die Batterien bezahlt hatte.
Troy sah mich schräg an, beugte sich vor und flüsterte: »Du bist …« Er ballte die Fäuste und löste sie wieder.
Ich wusste, was er dachte. Ich war das Mädchen, das wegrannte, wenn man es erschreckte. Das Mädchen, das sich im Beerdigungsinstitut versteckt hatte. Das Mädchen, das man aus dem See gerettet hatte. Aber er kannte mich nicht wirklich. Vor allem wusste er eines nicht: Ich war nicht dumm, ich war clever. Ich wusste, was ich tat.
»Du hilfst ihm nicht«, sagte er.
»Aber ich töte ihn auch nicht«, flüsterte ich zurück.
Endlich verstand ich, was möglich war und was nicht. Ich konnte keinen Sterbenden vor dem Tod bewahren. Das Leben hat ein Ende. Für die anderen wie für mich. Aber ich wusste auch, was ich tun konnte. Troy hatte Unrecht. Denn was auch immer dahintersteckte, ein beschädigtes Gehirn, ein tieferes Wissen, ein Gefühl, oder – wovon Troy ausging – eine Absicht: Ich würde helfen.
Ich tänzelte nach vorn. »Leroy«, sagte ich, »Troy und ich haben gerade eine kleine Meinungsverschiedenheit. Und wir würden dich dazu gern etwas fragen. Wenn du nur noch einen Tag zu leben hättest, was würdest du tun?«
Troy wurde grün im Gesicht.
Leroy grinste. »So was wie meinem Chef die Meinung sagen oder das Motorrad kaufen, auf das ich immer schon scharf war?«
»Was auch immer«, erwiderte ich. »Wofür würdest du dich entscheiden, wenn es das Letzte wäre, was du tun könntest?«
Er ließ sich auf den Plastikstuhl hinter der Kasse fallen und fuhr sich mit der Hand durch das schüttere Haar. »Nun, ich würde den Hund nehmen«, dabei zeigte er auf das schnarchende braune Knäuel zu seinen Füßen, »und dann ans Meer fahren. Die Wellen anschauen.«
»Das würdest du tun?« Troy stand auf und kam auf uns zu.
»Ja, das wär’s«, erwiderte Leroy und bewegte seine Zunge dorthin, wo normalerweise der Unterkiefer war.
Troy schüttelte den Kopf und verließ den Laden. Ich beugte mich über den Tresen und sah Leroy an, der seinem Hund über den Kopf streichelte.
»Leroy«, flüsterte ich, »mach es!«
Ich schluckte den Kloß in meinem Hals hinunter, als wir vom Parkplatz fuhren. Durch die dreckigen Schaufenster konnte ich Leroy in die Ferne starren sehen. Ich fragte mich, ob ich das Richtige getan hatte. Ich musste daran glauben, dass der Tod nicht das Ende war. Vielleicht gab es ja einen Himmel oder etwas in der Art.
Ich hoffte, er würde seinen Hund nehmen und ans Meer fahren. Ich hoffte, dass er noch genug Zeit dazu hatte. Ich stellte mir vor, wie er auf den grauen Felsen saß, inmitten der spritzenden Gischt der Wellen. Vielleicht würde er das tiefe Rauschen des Ozeans hören, die grenzenlose Kraft spüren und daran glauben, dass es noch etwas anderes gibt. Etwas Größeres. Vielleicht war sein Himmel dort am Meer, mit dem Kopf seines Hundes in seinem Schoß, um ihn herum nichts als Wasser und Tiefe bis zum Horizont.
»Delaney«, fragte Mum leise, »warum weinst du?«
Ich fasste mit der Hand an meine feuchte Wange und wischte mir dann die Tränen aus dem Gesicht. »Ich weiß es nicht.«
Mum machte an diesem Abend Karamellbonbons, wie ich es mir gewünscht hatte. Die Maxwells inszenierten sich selbst. Dad gewann im Scrabble, während Mum und ich an seinen Wörtern zweifelten, obwohl wir genau wussten, dass sie korrekt waren. Er sollte sich clever fühlen. Ich aß Karamellbonbons. Obwohl mich die Schokolade an Troy erinnerte und ich einfach nur in mein Zimmer gehen und schlafen wollte. Aber die alte Delaney Maxwell würde nie auf Karamellbonbons mit Schokoladenüberzug verzichten. Oder auf Scrabble, wenn wir schon dabei sind. Und Mum sah so zufrieden aus.
Als es wenige Stunden vor Mitternacht an der Tür klingelte, zuckte ich zusammen. Ich presste das kleine Buchstabensteinchen so fest zwischen meinen Fingern zusammen, dass ich es fast zerquetscht hätte.
Ich hielt die Luft an, als Dad die Tür öffnete. Er fasste nach draußen in die Dunkelheit und zog Decker herein. Dad lächelte und klopfte ihm auf den Rücken. »Wo warst du, mein Junge?« Er führte ihn zum Sofa.
Ich reichte Decker den Teller mit den Bonbons und lächelte. Decker schob mich mit dem Fuß zur Seite und ließ sich zwischen mich und Mum auf die Couch fallen. Ich beugte mich nach vorn und fragte: »Was machst du hier?«
Er warf sich eine Handvoll Bonbons in den Mund und nuschelte: »Das, was ich jedes Jahr mache.«
Doch es steckte mehr dahinter, das wussten wir beide. Zwischen uns war noch immer diese tiefe Kluft, zu viel war gesagt worden, zu viel ungesagt geblieben. Wir konnten nicht mehr zurück, kamen aber auch nicht voran.
Deshalb taten wir einfach so, als wäre alles in Ordnung. Wir spielten Trivial Pursuit, wobei Decker sich über meine Unkenntnis in Sachen Entertainment lustig machte, während ich auf seinen Wissenslücken beim Thema Literatur herumritt. Wir taten so, als hätte er nicht gesagt, dass er mich liebt. Wir taten so, als hätte ich sein Geständnis nicht ignoriert und wäre danach nicht gegangen. Wir taten so, als könnten wir wieder so sein wie früher. Und als wir den Countdown auf Mitternacht herunterzählten, drückte Decker meine Hand und ich tat so, als wünschte ich mir nicht, sie festzuhalten und nie wieder loszulassen.
Ich war eine gute Schauspielerin, löste meine Finger von seinen, wünschte »Frohes Neues Jahr« und stand auf, um ins Bett zu gehen. Decker erhob sich ebenfalls.
»Wo willst du hin?«, fragte Mum.
Decker sah verwirrt aus, als wüsste er nicht, wen von uns sie angesprochen hatte. »Ich? Nach Hause.«
»Oh, nur weil ihr glaubt, dass ihr jetzt erwachsen seid, werden wir die Tradition nicht brechen, mein Junge. Deine Eltern verlassen sich darauf, dass ich mich an Silvester um dich kümmere, so wie jedes Jahr. Und das nehme ich ernst. Ron, holst du bitte die Bettwäsche?«
Mum klappte die Bettcouch auf und Dad machte das Bett. Decker grinste mich an, als würde er das witzig finden. Ehrlich gesagt war ich ziemlich erleichtert, denn ich wusste, dass Troy irgendwo da draußen war. Ich brauchte das Gefühl, dass alle Menschen, die ich liebte, an einem Ort waren. Dass sie alle zusammen und in Sicherheit waren.
Kurz darauf gingen wir schlafen. Der Wind frischte auf und heulte durch die Lücken zwischen den Häusern. Die Wände knirschten, ächzten und stöhnten aus Protest. Und dann zischte und knisterte es und der Strom fiel aus. Die Heizung funktionierte nicht mehr. Der Kühlschrank verstummte. Die Leuchtziffern der Uhr erloschen und ließen mich in der Finsternis zurück.
Selbst der Mond versteckte sich hinter den Wolken. Die Straßenlaternen waren aus. Alles was blieb, war tiefschwarze Nacht. Schatten. Leere. Und Troy.