Kapitel 8

Ich tauchte in Eis und Dunkelheit ein. Ich war wieder draußen, ganz nah am See. Der Mond war hinter Wolken verborgen, aber die Lichter aus dem Haus erhellten die Veranda. Gerade genug, um durch die Bäume den Abhang zu erkennen. Wenn ich zwischen den Bäumen hindurchginge, würde ich den Weg finden. Und wenn ich den Weg fände, würde ich es nach Hause schaffen. Ich stolperte den schneebedeckten Hang hinunter und stützte mich dabei an den Baumstämmen ab, bis ich schließlich unten angekommen war. Meine Füße waren nass und kalt. Ich hatte nicht damit gerechnet, dass ich Winterstiefel brauchen würde.

»Delaney!«

Ich ging schneller.

»Verdammt, Delaney, bleib stehen!«

Ich fuhr herum und sah Decker den Hang heruntereilen. Er bewegte sich wesentlich geschickter als ich und er war viel schneller. Gleich würde er mich einholen. Doch als er den Weg erreicht hatte, wurde er langsamer.

»Du hast kein Recht, dich darüber aufzuregen«, sagte er. »Nicht nach der Sache mit Carson.«

Ich hasste mich dafür, so durchschaubar zu sein. Aber er schien es endlich zu kapieren. Ich war stinksauer. Er öffnete den Mund und schloss einen Moment die Augen, dann streckte er die Hand nach mir aus.

»Delaney.« Er umfasste mein Handgelenk – mit der Hand, die durch ihr Haar gestrichen, die ihr Gesicht und ihren Rücken berührt hatte.

Ich schreckte zurück. »Fass mich nicht an.«

Er ballte die Hände zu Fäusten und stemmte sie in die Hüften. »Unglaublich! Erklär’s mir. Wie war es mit Carson? War es so, wie es alle Mädchen in der Schule erzählen?«

Ich kniff die Augen zusammen und wich zwei große Schritte zurück. »Ja, Decker, so war es. Es war genau so, wie ein erster Kuss sein sollte.«

Er sah mich entgeistert an. Ich hatte etwas in ihm zerbrochen und es fühlte sich besser an, als ich gedacht hatte. Carson war nicht mein erster Kuss. Und wir beide wussten das.

Vor zwei Jahren, in unserem ersten Jahr in der Highschool, hatten wir Manhunt gespielt. Gleicher Ort, gleiche Clique, mit noch ein paar anderen Gesichtern. Wir waren gerade mit einer Runde fertig, ich saß auf einem Stein und klopfte mir den Schnee von der Jacke. Decker kam von der Jungsgruppe zu mir herüber, ein feines Lächeln umspielte seine Lippen. Er hatte mir die Hand entgegengestreckt, ich griff danach und stand auf. Er ließ nicht los, zog mich näher zu sich, beugte sich nach unten und küsste mich.

Dreieinhalb Sekunden, so lange hatte es gedauert. Ich hatte seinen Kuss dreieinhalb Sekunden lang erwidert. Und dann hörten wir den Applaus.

»Dachte nicht, dass du es draufhast, Decker.« Carson war zu uns gekommen und legte Decker den Arm um die Schulter. Ich zog meine Hand zurück.

Decker sah mich weiter an. Hatte er mir damit vielleicht etwas sagen wollen? Doch ich weigerte mich, seinen Blick zu erwidern.

»Jetzt muss ich wohl blechen«, hatte Carson gesagt. Decker hatte die Wette gewonnen und fünfzehn Dollar verdient.

Das Geld in Carsons Hand schwebte zwischen uns in der Luft. Ich sah Decker direkt in die Augen, während ich mir mit dem Ärmel über die Lippen wischte.

Decker hatte das Geld genommen. Am folgenden Tag war er zu mir gekommen, als ob nichts passiert wäre. Er hatte sieben zerknitterte Dollarscheine und zwei Quarter auf mein Pult gelegt. »Das bin ich dir schuldig«, hatte er gesagt – seine Art, sich den Mund abzuwischen.

Er hatte mich nie wieder geküsst.

Jetzt ließ Decker den Kopf hängen und begann am See entlang in Richtung Heimat zu gehen.

»Komm schon.« Er legte mir eine Hand auf den Rücken. »Ich habe deiner Mum versprochen, dich heil nach Hause zu bringen.«

Ich wandte mich von ihm ab. Von seinen Händen, die Tara überall berührt hatten. »Ich hab gesagt, fass mich nicht an.«

Er drehte sich zu mir und starrte mich an. »Was willst du, Delaney?«

Ich wollte, dass mir nicht übel wurde, wenn ich ihn eine andere küssen sah. Ich wollte, dass es mir egal ist. Es sollte mir egal sein.

»Ich will, dass du mich in Ruhe lässt.«

Er kam näher und senkte den Kopf, sodass wir uns direkt ins Gesicht sehen konnten. Dann stellte er mir die gleiche Frage noch mal. Dabei betonte er jedes Wort, um sicher zu sein, dass ich die ganze Tragweite begreifen würde: »Was willst du?«

Er war mir so nah und alles, was ich riechen konnte, war sie – ihr Waschmittel, ihr Duschbad, ihr Shampoo. »Ich will, dass du dich verdammt noch mal verpisst.«

Decker zuckte zusammen, als ob ich ihm ins Gesicht geschlagen hätte. Er blinzelte und wich zurück. Es war nicht das erste Mal, dass er mich fluchen hörte. Und es war auch nicht so, dass ich ihn noch nie beschimpft hätte. Ich hatte es nur noch nie wirklich so gemeint.

Und dann ging er. Er ließ mich am Ufer stehen und boxte mit den Fäusten gegen die Baumstämme, während er den Hügel hinaufstapfte. Er war so wütend, dass ihm selbst der Ärger mit Mum egal war. Eine Wut, die dazu führte, dass er mich noch einmal verließ. Er verließ mich für Tara, bereit, sie mit seinen Händen wer weiß wo zu berühren.

Ich ging weiter, die Augen starr auf den Weg vor mir gerichtet. Ich hätte mein Leben bis zu diesem Augenblick in Momentaufnahmen schildern können.

Der erste Vorschultag, als ein Mädchen meinen Pferdeschwanz in blaue Farbe getunkt hatte. Traumatisch. Danach beschloss ich, unfreundlich zu meinen Klassenkameraden zu sein.

Ein braun-gelber Umzugswagen, der in die Einfahrt des leer stehenden Nachbarhauses fuhr. Ein Junge mit zu kurz geschnittenen schwarzen Haaren, der über den Hof kam und sagte: »Hi, ich bin Decker.« Aber da ich schon in meiner unfreundlichen Phase war, hatte ich nur die Arme vor der Brust verschränkt und geschwiegen. Und Decker hatte gesagt: »Morgen bringe ich dich zum Lachen.«

Der Tag, als ich durchs Haus rannte, obwohl Rennen verboten war, und eine Kristallvase umwarf. Sie fiel zu Boden, zerbrach in tausend Stücke, Splitter schnitten in mein Bein. Die panische Angst, dass Mum sauer sein würde. Aber sie war es nicht. Sie nahm mich auf den Arm und trug mich rasch aus dem Haus, die Glassplitter ließ sie einfach auf ihrem pieksauberen Fußboden liegen.

Das erste Mal, als ich den Wissenschaftswettbewerb in der Middle School gewann und das erste Band an meiner lavendelfarbenen Wand festpinnte.

Das Eis, natürlich das Eis.

Das Splitterlicht.

Und jetzt gehörte auch dieser Moment dazu. Ich hätte mit meiner Antwort warten sollen, bis sich meine Gefühle beruhigt hatten. Hatte ich aber nicht. Dieser Moment gehörte jetzt zu meinem Leben. Ein Moment, von dem ich ganz genau wusste, dass ich ihn hassen würde.

Ich ging weiter und die Lichter verblassten. Die Partygeräusche wurden vom Wald verschluckt und alles, was ich hören konnte, war das Heulen des Windes, das Ächzen der Bäume, die sich dagegenstemmten, das Knirschen des Schnees unter meinen Füßen. Ich blickte mich um und sah dunkle Baumgerippe, einen dunklen Himmel und noch dunklere Schatten. Der Weg vor mir war in totale Finsternis gehüllt. Ein kalter Schauer rann mir über den Rücken, aber ich schüttelte ihn ab.

Da war nichts. Nichts, außer der Abwesenheit von Licht. Eine Leerstelle. Und trotzdem war es beängstigend. Ich schaute nach unten und ging schneller, die Arme um den Oberkörper geschlungen. Als ich das nächste Mal aufschaute, war ich vom Weg abgekommen. Ich stieg den Hügel hinauf in Richtung Straße. Die falsche Straße. Aber ich ging weiter, weil ich das Ziehen spürte.

Je länger ich ging, desto stärker wurde es. Ich lief die Straße entlang in ein Wohngebiet, dann nach rechts. Ich lief so lange, bis es kein Ziehen mehr war, sondern ein Jucken tief in meinem Kopf, ein Summen, das an die Stelle meiner Wut und meiner Traurigkeit getreten war. Jetzt verspürte ich nur noch den Drang weiterzugehen. Das Jucken breitete sich über meinen Nacken aus, lief über meine Schultern in die Arme, bis hinunter zu den Fingerspitzen. Sie begannen zu zittern.

Ich stand vor einem heruntergekommenen Haus, das mit vielen anderen Häusern dicht an dicht in die Straße gequetscht worden war, genau wie Troys Zähne. Und als hätte ich ihn durch meine Gedanken herbeigerufen, tauchte Troy plötzlich aus der Dunkelheit auf. Er lehnte an der schmutzigen blauen Wandverkleidung und gab mir gestikulierend zu verstehen, dass ich zu ihm kommen sollte. Ich ging auf ihn zu, weil mich das Haus wie ein Magnet anzuziehen schien.

Es war so vieles falsch an dieser Situation. Troy war hier und ich hatte keine Ahnung warum. Ich war hier und ich hatte keine Ahnung warum. Ich wusste nur, dass es mit diesem Ziehen zu tun hatte. Das Einzige, was ich erklären konnte, war das Zittern meiner Hände. Wie damals im Krankenhaus. Deshalb streckte ich sie Troy entgegen, den ich eigentlich gar nicht richtig kannte, und sagte leise: »Irgendwas stimmt nicht mit mir.«

Troy legte einen Finger auf seine Lippen und zog mich in den Hinterhof, der eigentlich gar kein Hinterhof war, sondern eher eine Rasenfläche zwischen zwei Häuserrückseiten. Er schob mich in die dunkelste Ecke, drückte mich mit seinem Körper gegen die Wandverkleidung und umfasste meine zitternden Hände.

»Mit dir ist alles in Ordnung«, flüsterte er mir ins Ohr.

Ich sog die kalte Nachtluft ein, versuchte mich zu beruhigen, meine Hände stillzuhalten, die juckende Stelle zu kratzen. In der Luft lag irgendetwas, irgendetwas Falsches …

»Ich rieche Rauch«, sagte ich etwas lauter.

Troy legte seine behandschuhte Hand auf meinen Mund, als die Rauchmelder im Haus zu heulen begannen.

Mit seiner Hand auf meinem Mund und dem Heulen der Rauchmelder in den Ohren, musste ich an meine ans Bett gefesselten Arme denken, und an die Schlaftabletten, die sie mir aufzwangen, und daran, dass mir alle sagten, was ich tun und wie ich sein sollte. Das konnte ich schon bei Leuten, die ich kannte, kaum ertragen. Doch Troy kannte ich nicht. Er hatte kein Recht, mich herumzukommandieren. Deshalb biss ich ihm in die Hand, instinktiv, ohne weiter darüber nachzudenken.

Er gab ein überraschtes Geräusch von sich und zog die Hand zurück. Ich drehte mich zum Haus um und stellte mich auf die Zehenspitzen, um durch das Fenster zu spähen. In kleinen Wellen waberte Rauch durch den Raum in Richtung Fensterscheibe. Direkt an der seitlichen Wand war das Kopfende eines Bettes zu erkennen. Das war ein Schlafzimmer. Meine Finger zitterten gegen das Glas, das sich in der kalten Nacht so warm anfühlte.

Troy legte mir den Arm um die Taille und versuchte, mich zurückzuziehen. »Wir müssen hier weg«, sagte er.

»Das ist ein Schlafzimmer. Und wenn da jemand drin ist?«

»Komm schon.« Troy war stark. Ich spürte seinen festen Griff. Wenn er es nicht wollte, würde ich mich nicht befreien können.

»Okay«, sagte ich deshalb und er ließ los. Sofort stürzte ich die wackligen Stufen der Verandatreppe hoch und zog an der Tür. Ein brennender, fürchterlicher Schmerz schoss durch meine zitternde Hand. Entsetzt ließ ich den glühend heißen Metallknauf los und schrie gellend auf. Durch das Fenster sah ich Flammen aus dem Ofen lecken. Sie sprangen auf die Vorhänge über und krochen nach oben.

Schon stand Troy neben mir und flüsterte mir etwas ins Ohr, aber ich achtete nicht auf ihn. Alles, was ich sah, war ein mit rotem Band umwickelter Stock, der an der Wand lehnte. Eine Flammenzunge leckte in seine Richtung, versengte das Band und der Stock fing Feuer.

Ich trat gegen die brennende Tür. »Er ist da drin. Er ist da drin«, schrie ich.

Die Flammen und die Lichter der Nachbarhäuser erhellten den Hof. Menschen rannten auf das Haus zu, in der Ferne hörte ich Sirenen heulen.

»Wir können nichts tun. Wir müssen hier weg«, sagte Troy und packte mich an den Schultern.

Ich schaute auf meine Hand und den grellrot leuchtenden Kreis auf der Innenfläche. Da war nichts als Schmerz. Meine Finger waren still. Auch der Juckreiz war verschwunden. Nur das Brandmal war geblieben. Troy war kaum größer als ich, deshalb musste er sich nicht nach unten beugen, um auf meine Augenhöhe zu kommen. Sein Blick war wild. »Delaney, schau mich an. Lauf!«

Ich lief.

Ich lief immer weiter, obwohl ich mit jedem Atemzug ein Stechen in meinem Brustkorb spürte. Ich wusste nicht, warum ich rannte oder wohin, aber der Ausdruck in Troys Augen hatte Panik in mir ausgelöst. Ich folgte ihm von Hinterhof zu Hinterhof, von Schatten zu Schatten. Seine Worte ergaben Sinn. Was sollte ich der Polizei erzählen, wenn sie kam? Dass ich auf einer Party gewesen und dann ziellos herumgelaufen war, bis ich Rauch gerochen hatte? Und wenn meine Eltern herausfinden würden, dass ich allein in der Kälte unterwegs gewesen war, konnte ich mein Sozialleben komplett vergessen.

Als Troy auf der Straße unvermittelt stehen blieb, wäre ich fast mit ihm zusammengestoßen. Er öffnete die Beifahrertür eines alten, kastenförmigen schwarzen Autos. »Steig ein«, sagte er.

Wir fuhren los. Ich weinte lautstark und machte dabei diese lächerlichen Schluchzgeräusche, die wie Schluckauf klangen. Troy blickte mich aus den Augenwinkeln an. Ich weinte, weil in diesem Haus ein Mann gewesen war, den ich vor dem Einkaufszentrum gesehen hatte – und ich hatte ihn nicht gerettet. Ich weinte, weil ich nicht wusste, wie ich in die Nähe dieses Hauses gekommen war. Und ich weinte, weil Decker seine Hände überall auf Tara Spano gehabt hatte und mir nicht bewusst gewesen war, wie weh mir das tun würde.

Troy parkte das Auto vor einem alten Backsteinblock. Alle meine Freunde und Bekannten lebten in Einfamilienhäusern, die meisten waren von Zäunen umgeben. Auch dieser Block hatte einen Zaun, einen verrosteten Maschendrahtzaun, ein Tor gab es nicht mehr. Im Hof stand eine kleine Metallschaukel, verdreckt und total verrostet.

»Wo sind wir?«

»Ich wohne hier«, sagte Troy und stieg aus. »So kann ich dich nicht nach Hause lassen.«

Ich hoffte, dass er von meiner Hand sprach und nicht mein verheultes Gesicht meinte. Ich ging hinter ihm ins Haus. Er brauchte nicht mal einen Schlüssel, um die Vordertür zu öffnen.

In dem schmalen Flur roch es muffig. Aus einer der Wohnungen kamen Fernsehgeräusche, irgendwo schrie ein Baby. Ich folgte ihm die Holztreppe hinauf und hielt mich am Geländer fest, für den Fall, dass ich auf den ausgetretenen Stufen ausrutschen würde.

Er schloss eine Tür im zweiten Stock auf und schmiss seine Stiefel in den Flur. Dann trat er zur Seite und lehnte sich an den Küchentresen.

Ich blieb im Türrahmen stehen, noch nicht wirklich in der Wohnung, aber auch nicht mehr draußen. Zu meiner Rechten stand eine braune Couch vor einem kleinen Fernseher, dazwischen ein Tisch aus Sperrholz. Das, was wohl die Küche sein sollte, war links von mir, ein schmaler Tresen, ein Herd auf der einen, ein Kühlschrank auf der anderen Seite. Hinter der Küche und dem Wohnbereich konnte ich durch eine offene Tür ein ungemachtes Bett erkennen.

»Wohnst du hier … allein?«

»Hey«, er machte zögernd einen Schritt auf mich zu, »ich werde dir nichts tun. Komm rein und mach die Tür zu. Wenn ich deine Verbrennung behandelt habe, bringe ich dich nach Hause.«

Bei diesen Worten zuckte ich zusammen, denn ich musste an den alten Mann denken, der in diesem Augenblick in einem deutlich schlimmeren Zustand war als ich.

»Du kannst mir vertrauen«, sagte Troy und streckte die Hand nach mir aus.

»Ich kenne dich doch gar nicht.«

»Du wirst mich kennenlernen«, sagte er.

Das hätte unheimlich und aufdringlich und bedrohlich klingen können, aber mit Eltern, die mir nicht trauten, und mit Decker, der mich nicht wollte, klang es wie ein Versprechen. Ich ging in die Wohnung und schloss die Tür hinter mir.

»Lass mal sehen«, sagte er.

Ich hielt ihm den rechten Arm hin, öffnete die Hand und enthüllte ein pochendes, entzündetes, leuchtend rotes Brandmal.

Troy fuhr mit dem Daumen über die Ränder der Wunde. »Verbrennung zweiten Grades. Grenzwertig. Kommt wieder in Ordnung. Du hast echt schon Schlimmeres erlebt, oder?« Er ließ meine Hand los, drehte den Wasserhahn auf und steckte den Stöpsel in den Abfluss des Spülbeckens.

»Halt sie eine Weile ins Wasser«, sagte er.

Ich tauchte die Hand hinein, während er sich in der Küche zu schaffen machte.

»Hunger? Durst?«

Ich schüttelte den Kopf.

Er nahm trotzdem einen Softdrink aus dem Kühlschrank und öffnete ihn. Mit meiner unverletzten Hand nahm ich die Dose entgegen.

»Gib mir deine Jacke. Du stinkst nach Rauch.«

Ich ließ mir von ihm aus dem einen Ärmel helfen, dann nahm ich die Hand aus dem Wasser und schlüpfte aus dem anderen. Er besprühte die Jacke mit einem Spray und hängte sie über eine Stuhllehne.

Troy nahm ein Geschirrhandtuch und tupfte meine verletzte Hand vorsichtig ab. Das Pochen hatte nachgelassen, aber jedes Mal, wenn er mich berührte, zuckte ich vor Schmerz zusammen. Er sah mir in die Augen und beugte sich vor. Dann griff er nach meinen Haaren, hielt sie sich unter die Nase und sagte: »Deine Haare stinken auch nach Rauch.«

Er war jetzt ganz nah und ich trat einen Schritt zurück. »Ich war auf einer Party, das ist schon okay.« Wenn meine Eltern fragen würden, könnte ich sagen, es hätte ein Lagerfeuer gegeben.

Er ging die wenigen Schritte durch den Flur ins Bad und kam mit einer Tube Antibiotikasalbe zurück. »Das sollte helfen. Die wirklich guten Sachen gibt’s allerdings auf der Arbeit.« Er drückte etwas Salbe auf seine Finger und betupfte damit meine Handfläche. Dann umwickelte er sie mit einer Mullbinde, die er locker verknotete. Er blieb nah bei mir. Seine Hand glitt von der Handfläche bis zu meinem Handgelenk und dann zum Ellenbogen.

»Ich muss heim.«

Troy ließ mich los. »Ich arbeite im Betreuten Wohnen Glencreek. Weißt du, wo das ist?«

»Nein.«

»Kennst du Johnny’s Pizzeria?«

Jeder kannte Johnny’s. »Klar.«

»Okay, Glencreek ist da in der Nähe. Ich bin morgen den ganzen Tag dort. Komm vorbei, dann versorge ich die Wunde richtig.«

»Morgen ist Heiligabend.«

»Alte Menschen hören auch an Feiertagen nicht auf, alt zu sein.« Er half mir in die Jacke und dann gingen wir.

Auf dem Weg nach Hause gab es vieles, was ich ihn fragen wollte. Warum waren wir beide dort gewesen? Was war im Haus passiert? Warum waren wir weggelaufen? Aber ich sagte nichts, denn ich hatte das Gefühl, die Antwort schon zu kennen.

Ich war dort gewesen, weil der alte Mann starb. Genau wie im Krankenhaus, als ich in den Raum gezogen worden war, in dem gerade ein Patient starb. Genau wie in der Nacht in Mrs Merkowitz’ Hof, als ich einem Schatten hinterhergejagt war, während sie gestorben war. Ich schnappte nach Luft.

»Du weißt, wo ich wohne?«

»Ja«, sagte er, während er ohne Wegbeschreibung durch die Straßen fuhr und schließlich am Bordstein vor unserem Haus anhielt.

»Ich habe dich damals gesehen. Im Haus unserer Nachbarin.«

Troys Kiefer spannte sich. »Das glaube ich nicht«, stieß er zwischen zusammengepressten Lippen hervor.

»Ich habe einen Schatten gesehen.«

Seine Mundwinkel wanderten nach oben, aber er lächelte nicht wirklich.

Deckers Auto stand in der Einfahrt vor seinem Elternhaus. Ich hoffte, dass er nicht bei uns geklingelt hatte, um nach mir zu sehen. Mein Gott, wie sollte ich das meinen Eltern erklären?

»Delaney? Du kommst dann morgen vorbei, okay?«

»Ja, mach ich«, antwortete ich. Ich zog die Ärmel meiner Jacke so weit wie möglich nach unten, damit meine Eltern die verletzte Hand nicht sehen konnten.

Sie waren noch wach und warteten im Wohnzimmer. Mum stand am Fenster. »Wer war das?«

»Troy.«

»Troy? Von einem Troy habe ich noch nie gehört.« Wenn das alles war, was sie wissen wollte, war Decker wohl nicht nach der Party hier gewesen. Warum sollte er auch?

»Dad hat ihn im Einkaufszentrum getroffen.«

»Oh. Gibt es etwas, was du uns über diesen Troy erzählen willst?«

»Nein, Mum.« Es gab nichts, was ich ihnen über Troy erzählen wollte. Er war nur ein Typ, der genau wusste, wann jemand starb – genau wie ich.

Mum folgte mir, als ich die Treppe hochging. »Du siehst aus, als wärst du durcheinander, Kind.«

Ich war durcheinander. Irgendetwas hatte mich zu einem alten Mann gezogen, den ich gar nicht kannte. Im Einkaufszentrum und zu ihm nach Hause. Und dann war er gestorben, das wusste ich einfach.

»Ist auf der Party irgendetwas passiert?«

Ich zuckte zusammen. Die Erinnerung an Decker, wie er Tara küsste, war wieder da.

»Ich habe Sodbrennen«, sagte ich.

»Oh, ich hol dir gleich was.«

Ich wollte sie auch nach den Schmerztabletten fragen, aber die lagen in Deckers Auto.

Nach nicht einmal einer Minute kam Mum mit dem perfekten Mittel gegen zu viel Magensäure zurück. Sie brachte Dinge gern in Ordnung, also gab ich ihr die Gelegenheit dazu.