Ich lernte den ganzen Samstagmorgen und versuchte, den Stoff von zwei Wochen in mein beschädigtes Hirn zu stopfen. Um die Mittagszeit rief Decker an. Ich übersetzte gerade einen kurzen französischen Text, während ganz hinten in meinem Schädel ein leichter Kopfschmerz gärte.
»Lass uns was essen gehen«, schlug er vor.
»Geht nicht. Ich lerne Französisch.«
»Echt? Lieber Französisch lernen als essen gehen?« Decker hatte kein Französisch. Spanisch sei sinnvoller, meinte er.
Ich klemmte den Hörer zwischen Schulter und Ohr und schrieb weiter. »Ruf Montag nach der Matheprüfung an.«
»Kannst du nicht mal eine halbe Stunde Pause machen?«
»Dazu sage ich drei Wörter, Decker: Eins Komma Null.«
»Okay, gut, hier kommen drei Wörter von mir: Herz-Lungen-Wiederbelebung. Such dir beim nächsten Mal jemand anderen dafür.«
»Touché.« Mein Französisch war also doch zu etwas nütze.
Eine Stunde später klingelte das Telefon erneut. Ich hatte Französisch inzwischen gegen Mathe getauscht.
»Delaney?« Die Stimme kam mir bekannt vor, aber ich konnte sie nicht gleich zuordnen.
»Ja?«
»Hier ist Janna. Ich dachte, du brauchst vielleicht … wollen wir zusammen Mathe lernen?«
Ich blickte auf die zur Hälfte gelösten Aufgaben auf dem Arbeitsblatt und den trostlosen Zustand meines Radiergummis. »Ja, gern.«
»Ich bin gerade auf dem Weg in die Bibliothek. Treffen wir uns dort?«
»Ich mach mich sofort auf den Weg«, antwortete ich und begann noch während des Gesprächs, meinen Rucksack zu packen.
Dad setzte mich direkt vor der Bibliothek ab, die nur aus einem einzigen großen Raum bestand, in dem manchmal auch Bürgerversammlungen abgehalten wurden. Er gab mir Geld, falls ich telefonieren musste, denn mein Handy hatte nicht so viel Glück gehabt und – im Gegensatz zu mir – die elf Minuten unter Wasser nicht überlebt.
Ich atmete ein und fühlte mich sofort wohl. Ich liebte den Geruch von Büchern. Ich atmete so tief ein, bis ich fast die Bodenhaftung verlor, als ob ich das ganze Wissen der Bücher einsaugen wollte und vor lauter Luft nicht genug Platz dafür war. Ich schwebte fast durch den Raum.
Janna hatte schon mit dem Lernen begonnen. Ihr Mathebuch, der Block und der Taschenrechner waren auf einem der beiden Tische ausgebreitet, die an der rückwärtigen Wand der Bibliothek standen. Am anderen Tisch saß ein Junge, der Janna den Rücken zugekehrt hatte und mit einem Bleistift auf ein dickes Lexikon klopfte. Er wirkte ungefähr so alt wie wir, aber vielleicht täuschte ich mich auch, denn ich kannte ihn nicht. Und die Jungs in meinem Alter kannte ich alle.
»Hier!«, rief sie, viel zu laut für eine Bibliothek.
»Danke, dass du das machst, Janna.«
Sie errötete leicht. »Wenn ich nicht in die Schule gehen könnte, weil ich im Koma liege, würdest du das auch für mich tun.«
Vielleicht. Trotzdem lächelte ich sie an.
»Okay, ich glaube, du hast die ganzen Logarithmusfunktionen verpasst«, sagte sie und zeigte auf ihr aufgeschlagenes Mathebuch.
Die nächste Stunde verbrachte sie damit, mir Unterricht zu geben. Sie war eine gute Lehrerin und ich schnell von Begriff, deshalb kamen wir zügig voran. Als wir fertig waren, klappte ich meinen Taschenrechner zu und steckte ihn in meinen Rucksack.
Der Typ am Nebentisch streckte die Arme über dem Kopf aus und legte den Bleistift auf den Tisch. Es sah nicht so aus, als wäre er irgendwie weitergekommen. Er presste den Rücken gegen die Stuhllehne und dehnte sich nach rechts und links. Dabei fiel sein Blick auf uns. Die dichten braunen Haare hingen über eisblauen Augen. Ihre Farbe passte nicht recht zu seinem sonnengebräunten Teint.
»Ich kenne dich«, sagte er und zeigte mit dem Finger auf mich. Er hörte auf, sich zu dehnen, nahm ein Bein nach hinten und setzte sich rittlings auf seinen Stuhl.
Ich betrachtete ihn genauer. Da, wo Decker hager war, war er kräftig, seine Muskeln waren eher zum Gewichtheben als zum Sprinten geeignet. Er lächelte mich an. Seine Zähne waren schief, weil sie zu nah beieinanderstanden, was aber irgendwie sympathisch wirkte. Allerdings kannte ich ihn nicht, obwohl er behauptet hatte, er würde mich kennen. Aber daran würde ich mich garantiert erinnern. Ich starrte ihn weiter an. Was das Aussehen anging, war er nicht auf Carsons Level, aber hässlich war er definitiv auch nicht.
Er nickte mir zu. »Ja, du bist Delaney Maxwell.«
Janna fuhr herum und verzog den Mund zu einem missbilligenden Lächeln, als ob sie sich von der Unterbrechung gestört fühlen würde. Was aber nicht stimmte, denn auch sie konnte nicht aufhören, ihn anzustarren.
»Und du bist?«, fragte sie.
Er warf ihr einen kurzen Blick zu und erwiderte: »Troy. Aber mit dir habe ich gar nicht gesprochen.«
Janna schaute ihn noch einmal an. Ich auch. Niemand sprach so mit Janna Levine. Vor allem niemand, der Carson Levine kannte.
»Hör zu, Troy, wir sind ziemlich beschäftigt«, sagte sie.
Troy blickte auf den Tisch. »Abschlussprüfungen, was? Ich lerne auch.« Er deutete auf die Bücher vor sich. »Kurse an der Abendschule.«
»Schön für dich. Delaney, kennst du den Typen?«
Ich schüttelte den Kopf.
»Noch nicht jedenfalls«, sagte er lächelnd. »Ich wollte damit nur sagen, dass ich weiß, wer du bist. Letzte Woche stand ein Bericht über dich in der Zeitung. Du bist das Mädchen, das in den See gefallen ist, oder?«
Ich fummelte am Reißverschluss meines Rucksacks herum. Decker würde das als unfreundlich bezeichnen, aber ich wusste wirklich nicht, was ich sagen sollte. Smalltalk war nicht gerade meine Stärke.
»Und du hast im Koma gelegen.«
»Aber jetzt nicht mehr«, sagte Janna.
Troy warf ihr nicht mal mehr einen Blick zu. »Nein, jetzt nicht mehr. Ist bei dir wieder alles ganz normal? Alles okay?«
»Es geht ihr super«, blaffte ihn Janna an. »Alles tipptopp. Delaney, komm, wir gehen woanders hin.«
Janna machte sich Sorgen um mich, was sehr nett von ihr war. Aber ich wurde zu Hause schon genug herumkommandiert. Deshalb sagte ich: »Du kannst ja gehen, mir geht’s bestens hier.«
Janna packte ihre Sachen und lief in Richtung Ausgang. Kurz davor drehte sich sich noch einmal um, sah mich an und schüttelte langsam den Kopf.
»Sie ist echt witzig«, sagte Troy. »Also noch mal, alles in Ordnung bei dir? Alles normal und so?« Er legte den Kopf schief und musterte mich von oben bis unten.
Ich verschränkte die Arme vor der Brust. »Mir geht’s gut.«
»Falls nicht, kannst du mit mir darüber reden. Ich besuche Kurse, hier.« Er hielt mir ein medizinisches Fachbuch hin. »Ich mache eine Ausbildung.«
Ich schaute auf das blaue Cover und dann wieder zu Troy. »Du willst Krankenpfleger werden?« Ich lächelte. Das war echt witzig. Obwohl ich eigentlich nicht in Klischees denken sollte, tat ich es trotzdem. Stämmiger Typ. Will Krankenpfleger werden. Witzig.
Er kräuselte die Lippen. »Nicht wirklich. Eher so was wie eine Hilfskraft.«
»Eine Hilfskraft für wen?«
»Für Krankenschwestern und Pfleger.« Dieses Mal wirkte sein Lächeln gezwungen und seine schiefen Zähne irgendwie bedrohlich. Dann entkrampften sich seine Lippen und das Lächeln war wieder echt. »Ich arbeite in der Stadt beim Betreuten Wohnen. So lange, bis ich den Abschluss in der Abendschule machen kann. Was ich sagen will ist, dass ich mich mit dem ganzen Kram auskenne.«
»Mit Komafällen?«
»Ja, damit auch.« Er schaute aus dem hinteren Fenster. In seinen Augenwinkeln hatten sich feine Fältchen gebildet. Sein Blick war jetzt ernst. »Ich geb dir meine Nummer, okay? Für den Fall, dass du Fragen hast oder über irgendwas reden willst. Über was auch immer.« Er griff nach seinem Bleistift, kritzelte etwas auf die Titelseite des Buches vor ihm, riss die Ecke ab und reichte sie mir.
Ich griff zwar danach, aber ich hatte nicht vor, mich mit jemandem abzugeben, der bewusst Bibliothekseigentum zerstörte.
»Mr Varga?« Eine Schülerin aus der untersten Highschoolklasse, die offensichtlich das erste Mal mit Make-up experimentiert hatte, blieb mit einem Stapel Bücher in den Händen vor seinem Tisch stehen. »Diese Titel habe ich für Sie herausgesucht.« Sie sah von ihm zu mir, legte die Bücher auf den Tisch und ging rasch zu ihrem Platz am Ausleihschalter zurück.
»Mr Varga?« Er lehnte sich zu mir und flüsterte: »Sehe ich erwachsen genug aus, um ein Mister zu sein?«
Ich schüttelte den Kopf und lächelte. Aber ehrlich gesagt, sah er schon irgendwie erwachsen aus. In einem Anzug und mit zurückgekämmten Haaren könnte er als Dreißigjähriger durchgehen. Aber mit der dunklen Jeans, dem Kapuzenpulli und den ins Gesicht fallenden Haaren wirkte er kaum älter als ich.
»Wie alt bist du eigentlich?«
»Neunzehn«, sagte er. »Und ein paar Zerquetschte.«
Doch nicht ganz mein Alter. »Ich muss los. War nett, dich kennenzulernen«, sagte ich höflich.
»Wir sehen uns, Delaney Maxwell.«
Ich ging nach draußen auf den Gang und rief Dad an. Dann wartete ich vor dem Schwarzen Brett und betrachtete die Flyer. Eine Wohnungsanzeige in neonpink (Mitbewohnerin gesucht, Nichtraucherin), eine schlecht fotokopierte Einladung zu einem Senioren-Spieleabend im Gemeindezentrum, ein Werbeposter für die Bibelstunde am Mittwoch in der Baptistenkirche, die, wenn das Poster nicht übertrieb, wesentlich spannender zu werden versprach als der Spieleabend.
Ich heuchelte Interesse, kniff die Augen zusammen, damit ich die kleine Schrift lesen konnte, strich den zerknitterten Rand des pinkfarbenen Zettels glatt und nahm schließlich meinen Bleistift heraus, um die verblassten Buchstaben der Einladung zum Spieleabend nachzuspuren, damit die Senioren die Info auch lesen konnten. Ich heuchelte Interesse, damit ich mich nicht umdrehen und sehen musste, wie Troy mich musterte. Damit er nicht wusste, dass ich wusste, dass er mich beobachtete.
Am Montag schneite es wieder und ich trug einen Pyjama, wie es bei den Abschlussprüfungen üblich war. Decker lehnte lässig an seinem Auto und wartete auf mich. Ich war gerade auf dem Weg zu ihm, als Mum an der Haustür auftauchte.
»Ich fahre dich, mein Schatz«, rief sie.
»Decker nimmt mich mit, wie immer«, sagte ich und ging weiter.
»Heute fahre ich.« Sie blickte hinter sich, wahrscheinlich auf der Suche nach dem Autoschlüssel, während sie gleichzeitig versuchte, mich im Auge zu behalten.
»Mum, du bist voll peinlich. Du hast mir schon mein Pausenbrot gemacht. Du kannst mich nicht zur Schule fahren. Das ist ein absolutes No-go.«
Mum wurde aschfahl. »Okay, okay. Warte bitte.« Sie verschwand im Haus und kam mit einer Packung Schmerztabletten zu mir und Decker. »Reine Vorsicht. Nimm eine, wenn es nötig ist.«
Ich steckte die Tabletten in die Jackentasche.
»Und du«, sie packte Decker so fest an der Schulter, dass er zusammenzuckte, »du fährst vorsichtig!« Dann ging sie ins Haus zurück, aber ich konnte sehen, dass sie am Fenster stand und die Vorhänge zur Seite geschoben hatte.
Decker betrachtete meinen roten Flanellschlafanzug und grinste. »Hallo, Frau Nikolaus.«
»Willst du damit sagen, ich sehe fett aus?«
Decker, der sich keiner Tradition beugte, trug Jeans.
»Würd ich nicht im Traum dran denken.«
»Meine Rippen fühlen sich besser an.« Als Beweis bewegte ich meinen Oberkörper vor und zurück.
Er nickte kurz. »Bereit für Mathe?«
Ich zog einen Taschenrechner aus der einen Tasche meines Pyjamas und einen Bleistift aus der anderen. »Bereit, wie immer.«
»Mein Gott, du bist so ein Nerd.«
»Akzeptier’s einfach«, sagte ich. Dann stieg ich in den Van, bevor Mum ihre Meinung ändern konnte.
Der Weg war nicht weit und die Straßen waren geräumt, aber Decker fuhr trotzdem besonders langsam. Mum wusste genau, wie sie ihm Angst machen konnte. Und Decker kannte sie gut genug, um zu wissen, wann er Angst haben sollte und wann nicht. Als wir fünf waren und Deckers Mutter wieder zu arbeiten begonnen hatte, übernahm meine Mutter die Betreuung. Sie passte werktags auf uns auf, bis Decker in die Middle School kam und beschloss, dass er keine Aufsicht mehr brauchte. Aber es blieb alles, wie es war. Er kam trotzdem jeden Tag zu uns. Deshalb war uns beiden klar, dass Mum es diesmal ernst gemeint hatte.
Als wir auf dem Parkplatz ankamen, waren alle guten Plätze schon weg. Während Decker langsam durch die Reihen fuhr, suchte ich nach einer Möglichkeit, meine Tabletten zu verstauen. Ich würde sie auf keinen Fall mit in die Schule nehmen.
Kevin, einer der Hauptdarsteller der sagenumwobenen Eisrettungsstory, wurde letztes Jahr suspendiert, weil er topische Steroide mit in die Schule gebracht hatte. Die Schulleitung hatte großen Wirbel gemacht und vermutet, er würde Drogen verkaufen. Aber Kevin ließ sich nicht einschüchtern und hatte die Geschichte der lokalen Presse erzählt. Mit der Folge, dass unser Schulleiter als Blödmann des Jahres Berühmtheit erlangte, denn das Ganze stellte sich als Creme gegen ein Ekzem heraus.
Sie hoben Kevins Suspendierung fünf Tage später wieder auf, aber allein der Verdacht hätte mir schon gereicht, um völlig auszuflippen. Meine Schulakte war makellos. Ich hatte nur Topnoten, besuchte nur Kurse für Fortgeschrittene. Es gab keinen einzigen Schönheitsfehler. Und so sollte es auch bleiben. Ich glaube nicht, dass die lokale Presse ein starkes Opiat als harmlos betrachten würde.
Decker hatte eine Kühlbox mit Notfallausrüstung und Knabberzeug (ebenfalls für Notfälle, wie er behauptete) zwischen den Vordersitzen deponiert. Ich stopfte die Tabletten zwischen Signalfackeln und Kartoffelchips, während Decker einparkte. Dann stieg er aus und kam auf meine Seite.
Der Schnee war jetzt richtiger Schnee und nicht diese ekelhafte Mischung aus Schneeregen und Matsch. Deshalb fühlte ich mich sicher, weil ich wusste, dass ich nicht ausrutschen würde.
Als ich die Schule betrat, starrten mich alle an. Einige tätschelten mir den Rücken, die Schulter, den Kopf. Ein paar Mädchen versuchten mich zu umarmen, aber Decker schirmte mich ab, so gut es ging. Mein noch nicht lange zurückliegendes Date mit dem Tod hatte mich von dem Mädchen, das mit den coolen Typen rumhing, in das voll coole Mädchen verwandelt, und zwar schneller, als ich »Bleib vom Eis weg« sagen konnte. Klar, ich kam gut mit meinen Klassenkameraden zurecht, auch die meisten anderen Schüler lächelten mich an, wenn sie mich in den Gängen trafen, aber so richtig beliebt war ich trotzdem nicht. Nach den Umarmungsversuchen war ich auch nicht besonders scharf darauf.
»Ich treff dich später«, sagte Decker, als wir die verschiedenen Prüfungsräume ansteuerten.
Janna kam auf uns zu und griff nach meinem Arm. »Komm mit«, sagte sie und dann zu Decker gewandt: »Du kannst jetzt einen Abflug machen.«
Als wir außer Hörweite waren, sagte sie: »Ich muss mit dir reden.«
»Kann das nicht warten?«, fragte ich. Ich war gerade dabei, den gesamten Stoff wieder und wieder vor meinem inneren Auge ablaufen zu lassen, damit er sich förmlich in mein Hirn brannte.
»Wie du willst«, erwiderte sie, während wir uns nebeneinander durch die Tür ins Klassenzimmer zwängten. Dann setzte sie sich weit weg von mir.
Wie immer gab ich als Erste ab. Ich reichte dem Lehrer mein Heft und tigerte auf dem Flur hin und her, bis Decker mit seiner Prüfung fertig war. Aber Janna erwischte mich vorher.
»Wir sind Freundinnen, oder?«, fragte sie.
»Ja«, sagte ich.
Aber ich musste wohl etwas zu lange gezögert haben. Vielleicht schätzte sie im Geiste aber auch nur ab, wie nett wir zueinander waren, denn sie fügte hinzu: »Du hast meinen Bruder geküsst. Wir sind jetzt fast verwandt.« Das gleiche boshafte Grinsen wie bei Carson huschte über ihr Gesicht.
»Können wir vielleicht über etwas anderes reden?«, seufzte ich.
»Aber gerne.« Sie nickte, wie um unsere Freundschaft zu bestätigen. »Als deine Freundin muss ich dir etwas Wichtiges sagen.«
Ich hoffte, alle weiteren Freundschaftsbeweise würden weniger peinlich werden.
»Dieser Typ am Samstag, kennst du den?«
»Ja, ich meine, nein. Aber jetzt schon, glaube ich.«
Sie trat einen Schritt auf mich zu und kam mir entschieden zu nahe, dann legte sie wieder ihre Hand auf meinen Arm. Ich konnte die Kälte ihrer Finger durch meinen Ärmel spüren. »Es gab keinen Artikel, Delaney.«
»Was?« Der Schnee hatte sich in Graupel verwandelt, der gegen die Scheiben der Eingangshalle prasselte. Das Echo hallte an den Wänden wider.
»Der Zeitungsartikel über dich. Es gab keinen. Wusstest du, dass ich manchmal für The Ledger arbeite? Ich hatte die Idee, einen Artikel über dich zu schreiben, aber ich durfte nicht. Deine Eltern haben es nicht erlaubt. Und weil du minderjährig bist, hätten wir deinen Namen auch gar nicht nennen dürfen. Es gab also keinen Artikel. Und wenn bei der lokalen Zeitung nichts ging, dann ging auch bei den größeren Zeitungen nichts.«
»Okay«, sagte ich, während ich verzweifelt versuchte, diese Information zu verarbeiten.
»Er kann dich nicht aus der Zeitung kennen«, wiederholte sie.
In diesem Moment hielt mir jemand von hinten die Augen zu. Ich zuckte zusammen. »Mein Gott, Decker, du hast mich zu Tode erschreckt.«
»Das Stilmittel der Übertreibung, auch Hyperbel genannt«, sagte er und legte mir einen Arm um die Schultern. »Merk dir das für deine Englischprüfung.«
Und dann tauchte Carson neben Janna auf. »Du kommst am Freitag, oder?«
»Ich versuch’s«, antwortete ich.
Decker ließ den Arm sinken.
Mum und Dad waren ausgesprochen guter Laune. Sie gaben mir Schlaftabletten für drei Nächte und ich tat so, als würde ich das akzeptieren. Sie lächelten sich über den Tisch an, erkundigten sich nach der Prüfung und taten so, als wäre alles ganz normal. Und bei meiner Antwort strahlten sie sich an, als wären sie besonders stolz auf sich. Als glaubten sie, das Verrückte in mir betäubt zu haben. Als wäre Unberechenbarkeit eine Krankheit, die sie geheilt hatten.
Als ich letztes Jahr gefragt hatte, ob ich zur Winter-Break-Party gehen dürfe, hatte Mum eine Tirade über Alkoholkonsum von Minderjährigen und die Unfallrisiken beim Fahren auf eisglatten Straßen unter Alkoholeinfluss vom Stapel gelassen. Wenn wir in Florida leben würden, hätte sie vielleicht mit illegal im Auto gelagertem Alkohol argumentiert. Oder mit der Hurrikansaison.
Ich wollte ihre Intelligenz nicht beleidigen, deshalb behauptete ich gar nicht erst, es gäbe auf der Party keinen Alkohol oder ich würde nichts trinken. Mein akademischer Status allein sorgte dafür, dass ich ganz am Ende der sozialen Leiter stand. Ich würde nicht auch noch das kluge junge Mädchen geben, das keinen Alkohol trank – an einem Ort, wo man nur hinging, um zu trinken.
Ich stellte die Frage mit dem Mund voller Kartoffelbrei. Ich hoffte, dass sie mich vielleicht nicht richtig verstehen und einfach zu allem Ja sagen würden, was auch immer sie gehört hätten. Kurzum, ich hoffte auf ein echtes Missverständnis. Mein Plan scheiterte.
Mums Strahlen erlosch. »Wir haben doch schon früher darüber gesprochen«, sagte sie. »Und nach allem, was du in letzter Zeit erlebt hast, zusätzlich zu den genannten Gründen, die übrigens weiterhin gelten …«
»Du darfst gehen«, sagte mein Vater und spießte mit der Gabel in ein Stück Steak.
Mum ließ ihre Gabel fallen. »Küche. Sofort«, stieß sie zwischen den Zähnen hervor. Dabei hätten sie gar nicht in ein anderes Zimmer gehen müssen. Es war ja nicht so, als könnte ich sie durch die dünne Tür nicht hören. Und es war auch nicht so, als würden sie sich bemühen, leise zu sprechen.
»Es ist nicht sicher.« Mum betonte jedes einzelne Wort.
»Das Schlimmste, was passieren kann, ist schon passiert, Joanne.«
»Nein, ist es nicht. Sie hätte tot sein können.«
»Wir dachten, sie wäre es«, erwiderte Dad ruhig.
Einen Moment lang schwiegen beide.
Dann meinte Mum: »Ich habe sie schon einmal fast verloren.«
»Es gibt andere Wege, ein Kind zu verlieren, das weißt du. Sie ist siebzehn. Wie alt warst du, als du das letzte Mal Kontakt mit deinen Eltern hattest?«
Mum hatte immer negativ über ihre Eltern gesprochen. Die schlechte Sehleistung hatte sie von ihrem Vater geerbt und die schlechten Zähne von ihrer Mutter. Sie hat mir jedoch niemals erzählt, von wem sie die haselnussbraunen Augen oder das Grübchen auf ihrer linken Wange hatte, was ich wiederum beides von ihr geerbt hatte. Ihre Eltern waren schon lange tot und ich hatte sie nie kennengelernt. Ich konnte nicht glauben, dass Dad diese Karte spielte.
Wortlos kamen sie ins Esszimmer zurück und aßen weiter.
»Du kannst gehen«, wiederholte Dad nach einer Weile. »Dieses Steak ist köstlich.«
Ich starrte sie an. »Warum hast du aufgehört, mit deinen Eltern zu reden, Mum?«
Mum funkelte Dad wütend an und warf ihre Serviette auf den Tisch. Sie entschuldigte sich und begann, in der Küche Töpfe zu schrubben.
Dad schüttelte den Kopf und sah mich an. »Kinder darf jeder haben«, sagte er. »Jeder.«
Keramik und Glas schepperten, als Mum in Rekordzeit die Spülmaschine einräumte.
»Immerhin sind sie tot«, sagte ich.
Dad legte die Gabel zur Seite und betupfte mit der Serviette seine Mundwinkel. »Sie sind nicht tot, Delaney.«
»Aber sie sagt …«
»Sie sagt, für sie sind sie tot.«
Ich bekam ein Stück Steak in den falschen Hals, musste husten und spuckte alles in meine Serviette, als hätte ich mich an dieser Information verschluckt.
Dad stand auf, um seinen Teller in die Küche zu bringen, griff aber erst nach meinem Handgelenk. »Mach’s nicht«, sagte er. »Ich kann schon sehen, wie die Zahnräder in deinem Kopf anfangen zu arbeiten. Lass es gut sein.«
Mein Gehirn schredderte die Information, um Platz für die Existenz dieser Leute zu machen. Großeltern, die ich nie kennengelernt hatte. Hypothesen, leere Erinnerungen, verschwommene Umrisse. In einer Sekunde tot, in der nächsten lebendig.
Irgendwie wie ich.