Kapitel 9

Nachdem Mum das Zimmer verlassen hatte, wusch ich mir als erstes die Haare. Die verletzte rechte Hand hielt ich neben den Wasserstrahl und mit der linken schrubbte ich den Rauch aus meinen Haaren. Ich hatte die Vorteile, beide Hände benutzen zu können, nie richtig zu schätzen gewusst, bis jetzt, wo ich nur eine zur Verfügung hatte.

Als ich wieder in mein Zimmer kam, lag eine Schlaftablette neben einem Glas Wasser auf dem Nachttisch. Ich setzte mich an den Schreibtisch, schob »Les Misérables« zur Seite und klappte den Laptop auf. Durch die Kopfschmerzen konnte ich die kleine Schrift in dem Buch ohnehin nicht lesen und wegen meiner verbrannten Hand konnte ich nicht einmal schreiben. Aber es gab ja noch andere Möglichkeiten, sich zu beschäftigen.

Ich wählte einen höheren Zoomfaktor für meinen Bildschirm, sodass die Schriftgröße dreimal so groß war, und klickte mich durch Internetseiten über unerklärbare Phänomene. Über Gehirne, die mehr wussten, als wir uns vorstellen konnten. Über Geschichten von Tieren, die den Tod vorausahnen konnten. Über Naturvölker, die drohende Gefahren instinktiv spüren konnten.

Ich suchte nach Gehirnstörungen und stieß auf einen Artikel über Synästhesie, ein Phänomen, bei dem zwei oder mehr Wahrnehmungsbereiche miteinander verkoppelt sind. Ich las über Menschen, die Symphonien sehen oder Wörter schmecken können. Für sie war ein cis-Moll rot und ein As-Dur blau. »Glücklichsein« konnte salzig und »Himmel« nach Hackbraten schmecken. Ich glaube, »Tod« schmeckt wie Schweizer Käse, scharf und trocken und stechend.

War das auch mit meinem Gehirn passiert? Hatten Neuronen neue Pfade gefunden, sich miteinander verbunden, andere Bereiche erfasst? War die Fähigkeit, den nahenden Tod zu spüren, in jedem von uns vorhanden und nur vergraben? Vielleicht wussten die Menschen nur nicht, wie man diese Fähigkeit aktivieren konnte. War ich zu mehr geworden, als ein Mensch jemals werden sollte? Und wie hatte Troy diese Fähigkeit entdeckt?

Ich gab »Troy Varga« in die Suchmaschine ein. Ich hatte viele Treffer in Sozialen Netzwerken, aber er war auf keinem Foto zu sehen. Ich fand Einträge von Rekorden bei Highschool-Sportfesten. Ich las jedes Detail, verglich die Jahreszahlen mit seinem Alter, fand aber keine Übereinstimmung. Ich suchte auf verpixelten Fotos nach einer möglichen Ähnlichkeit und obwohl die Kopfschmerzen fast unerträglich wurden, machte ich weiter.

Um drei Uhr nachts fand ich ihn schließlich, auf dem Foto eines Baseballteams. Er trug ein gestreiftes Trikot, lehnte auf einem Schlagstock und lächelte so offen, wie ich es noch nie bei ihm gesehen hatte. Das Bild war verschwommen, seine Gesichtszüge schlecht zu erkennen, aber ich konnte das Blau seiner Augen sehen. Er war es. Ich sah mir die Quelle an. San Diego Gazette, ein drei Jahre alter Artikel. Die Schlagzeile lautete: Shelton Oaks gewinnt die Meisterschaft.

Ich schloss die Augen und erinnerte mich an meine erste Begegnung mit Troy in der Bibliothek. Wie ich ihn fragte, ob er etwas über Komafälle wüsste. Mir kam in den Sinn, was Janna über das Veröffentlichen von Namen Minderjähriger in Zeitungen gesagt hatte, und startete eine neue Suche: San Diego, Shelton Oaks, Koma.

Es gab nur einen einzigen Link und der war bereits zwei Jahre alt. Familie in Straßengraben gefunden. Nur mit Mühe konnte ich mich überwinden, den Link anzuklicken.

Der 47-jährige Jay Varga und seine Frau Nancy, 46, wurden gestern Nachmittag tot aufgefunden. Ihr Auto lag im Straßengraben neben der Hutton Road. Ihre Tochter Sharon, 21, verstarb nach massivem Blutverlust im Krankenhaus. Kurz zuvor waren die Vargas als vermisst gemeldet worden, da ihr Sohn, ein Schüler der Shelton-Oaks-Highschool, bereits seit drei Tagen nicht in der Schule erschienen war und man die Familie nicht erreichen konnte. Der Sohn liegt im Koma.

Mit zitternden Händen griff ich in meine Schreibtischschublade und zog den Papierfetzen mit Troys Nummer heraus. Ich wählte. Nach viermaligem Klingeln hörte ich Troys heisere Stimme: »Hallo?«

Warum hatte ich angerufen? Was sollte ich sagen?

»Hallo? Ist da jemand? Delaney?«

Ich knallte den Hörer auf. Ich lag falsch. Wir waren nichts Besonderes. Ganz im Gegenteil. Wir hatten einen Schaden. Waren zersplittert. Etwas in uns war völlig gestört. Geblieben war nur das nackte Gehirn in seiner primitivsten Form.

In dieser Nacht konnte ich nicht mehr schlafen. Ich konnte an nichts anderes denken als an den Tod. Der Geruch von Rauch. Die Farbe der Flammen. Das pochende Brandmal auf meiner Handfläche. Und der brennende Stock. In meiner Erinnerung warf er Blasen wie menschliches Fleisch.

Am Samstagmorgen sah ich Decker nicht. Sein Auto stand in der Einfahrt, dann war es weg und wieder da, aber ihn bekam ich nicht zu Gesicht. Er rief mich nicht einmal an. Ich ihn aber auch nicht, muss ich gerechterweise hinzufügen.

Ich hielt es in meinem Zimmer nicht mehr aus. Immer, wenn ich zu meinem Laptop hinübersah, musste ich an Troy und seine tote Familie und dann wieder an ihn denken. Wie er ganz allein in dieser beschissenen Wohnung lebte. Ich konnte nicht auf die Urkunden an der Wand blicken, ohne daran zu denken, wie sinnlos das alles war. Genau wie dieses dämliche Buch »Les Misérables«, das mit der Seite dreiundvierzig nach unten auf meinem Schreibtisch lag. Eine schmerzliche und offensichtliche Metapher für alles, was zwischen mir und Decker nicht stimmte. Unsere Beziehung: aufgegeben. Unsere Freundschaft: zerbrochen, wie der Buchrücken. Alles lief falsch.

Ich ging hinunter in die Küche. »Kann ich dein Auto haben?«

Mum beugte sich über die Spüle. Das Wasser lief weiter aus dem Hahn und die Tassen im Spülbecken versanken darin.

»Die Straßen sind immer noch vereist«, sagte sie in Richtung Abfluss, »und du bist schon eine ganze Weile nicht mehr gefahren. Außerdem ist durch den Rippenbruch immer noch deine Beweglichkeit eingeschränkt.«

Ich drehte mich vorsichtig hin und her, aber sie sah mich nicht an. »Soll ich etwa eine Rückbeuge machen?«

Nicht, dass ich dazu in der Lage gewesen wäre. Ehrlich gesagt, waren die Schmerzen in der Brust nur einigermaßen erträglich, auch ohne Rückbeuge.

Sie stützte sich mit beiden Händen auf den Rand der Spüle und schaute auf. »Ich möchte, dass du lebst.«

»Das tue ich doch. Ich werde auch supervorsichtig sein und ganz langsam fahren. Ich werde nicht sterben, versprochen.«

Jetzt drehte sich Mum ganz zu mir. Ihr Gesicht war blass, die Augen blickten besorgt. »Was kann ich tun, damit ich dich nicht verliere? Besonders streng und überdominant sein oder das Gegenteil, also unterdominant?«

»Das Wort gibt’s doch bestimmt gar nicht«, erwiderte ich, weil ich nicht wusste, was ich sonst sagen sollte.

»Mein Vater«, begann sie, dann räusperte sie sich, »mein Vater war überdominant. Und davor hat dein Dad Angst.« Sie blickte aus dem Fenster. »Aber meine Mutter war unterdominant. Ihr war einfach alles egal. Und das war viel schlimmer.« Sie fuhr mit der Hand über die Arbeitsplatte.

»Mum!« Ich versuchte, sie zum Schweigen zu bringen, denn ich wollte es gar nicht wissen. Ich wollte nichts davon hören.

»Dein Dad glaubt, dass ich wegen meines Vaters von Zuhause weggegangen bin. Er war schrecklich, das stimmt. Er regte sich wegen jeder Kleinigkeit auf. Wie ich die Spülmaschine ausräumte, dass ich meine Klamotten nie ganz in den Korb mit der dreckigen Wäsche stopfte, wegen einfach allem. Es war die Hölle.«

Ich schaute mich in der Küche um. Alles war penibel aufgeräumt und blank poliert. Das war mehr als Ordnung und Sauberkeit. Dahinter steckten Zwanghaftigkeit und Angst.

»Aber deshalb bin ich nicht gegangen«, fuhr sie fort. »Es lag an meiner Mutter. Sie sah zu, sie schwieg, sie verteidigte mich nicht, sie nahm mich nicht einfach mit und verschwand. Sie war seine Komplizin. Und das war viel, viel schlimmer.«

Eine ganze Weile schwiegen wir beide. Wir hörten zu, wie sich das Wasser in der Spüle sammelte.

»Vielleicht solltest du einen Mittelweg finden.«

»Das habe ich versucht und nun schau dir das Ergebnis an«, sagte sie. Dann beugte sie sich wieder über das Spülbecken und griff nach dem Schwamm. »Zur Kirche bist du zurück.«

Sie wirkte ruhig, als sie das sagte, aber beim Hinausgehen hörte ich, wie sie hektisch in der Küche herumhantierte.

Ich fuhr durch die Gegend, in der Johnny’s Pizzeria lag, und fand Troys Arbeitsplatz sofort. Ich brauchte nicht mal Schilder. Ich folgte einfach dem sanften Ziehen in Richtung Pizzeria, Kino und Bank, bis zur Abzweigung zum Glencreek-Heim. Ich parkte direkt vor einem kleinen Friedhof, schaute auf die andere Straßenseite und wieder zurück. Betreutes Wohnen, Friedhof, Betreutes Wohnen, Friedhof. Eigentlich ziemlich praktisch.

Das Heim war von hohen Bäumen umgeben. Die Spitzen der Zweige hingen tief nach unten, schienen nach mir zu greifen, mich kratzen zu wollen. Ich duckte mich, auch wenn ich wusste, dass sie mich gar nicht erreichen konnten.

Eine stämmige dunkelhaarige Frau saß an der Rezeption und trug etwas in Kurvendiagramme ein. Über ihrer linken Schulter baumelte ein Ohrstöpsel, aus dem Jazzmusik drang, während ihr Kopf zu dem Rhythmus nickte, der aus dem anderen Stöpsel kam, der in ihrem rechten Ohr steckte. Als sie mich sah, zog sie ihn heraus.

»Kann ich dir helfen?«

»Ich möchte zu Troy Varga.«

Sie musterte mich. »Zu wem sonst. Er müsste gerade seine Runde beendet haben. Du kannst in der Lobby am Ende des Ganges warten.«

Ich ging durch den Flur und hinterließ mit jedem Schritt etwas Schneematsch auf dem Fußboden. Und ich spürte wieder das Ziehen, während ich die geschlossenen Türen passierte. Manchmal ganz schwach, fast nur ein Hauch, manchmal stärker. Dieser Ort war voller sterbender Menschen. Aber meine Finger blieben ruhig. Mein Kopf war klar. Im Moment erwartete niemand den Tod.

An der letzten Tür war das Ziehen am stärksten. Ich musste meine ganze Willenskraft aufbieten, um daran vorbeizugehen. Trotzdem hielt ich vor der offenen Tür kurz inne. Eine alte Frau hustete in eine beigefarbene, nierenförmige Schale, während ein in Blau gekleideter Mann ihr über den Rücken strich. Sie blickte mich kurz an und hustete dann erneut.

Der Mann in Blau drehte sich um. Es war Troy. Er sah aus, als hätte er ebenso starke Schmerzen wie die alte Frau. Er streichelte ihr weiter den Rücken, bis ihr Husten schwächer wurde, dann ließ er sie sanft aufs Bett zurückgleiten und befestigte einen dünnen Sauerstoffschlauch unter ihrer Nase.

»Nach dem Mittagessen komme ich wieder«, sagte er.

Die Frau schloss die Augen.

Troy trat zu mir auf den Gang und schloss die Tür hinter sich.

»Komm mit«, sagte er zur Begrüßung. Er ging durch den Flur und zog mich in eine enge Kammer, in der Medikamente und medizinische Hilfsmittel aufbewahrt wurden. Eine tiefe Schwärze legte sich über uns, bis er an einer über uns hängenden Schnur zog und eine schwache Glühbirne aufleuchtete.

Sein Blick glitt suchend über die Regale aus Metalldraht, während ich mich an die gegenüberliegende Wand presste, die nicht gerade weit entfernt war.

»Okay, schaun wir mal.«

Ich zog den Ärmel hoch, den ich vorher bis zu den Fingerspitzen heruntergezogen hatte. Er löste die Mullbinde und nahm meine Hand.

»Nicht tragisch«, sagte er, obwohl die Wunde schlimmer aussah als gestern. Sie war geschwollen, entzündet und voller Bläschen. Er tupfte ein wenig verschreibungspflichtige Salbe darauf. Ich blickte zur Seite, weil ich hoffte, es würde dann weniger wehtun. Schließlich legte er einige Gazestreifen darüber, die er an meinem Handrücken befestigte.

»Geht’s dir gut?«, fragte er.

»Troy.« Ich sah ihm direkt in die Augen und flüsterte: »Hast du jemals mit einem Arzt darüber gesprochen?«

Er runzelte die Stirn und rückte die Schachteln in den Regalen gerade, obwohl alles ordentlich aufgeräumt war.

»Warum sollte ich?«

»Ich denke, es könnte ein neurologisches Problem sein.«

Troy lachte und wich meinem Blick aus. »Das glaube ich nicht.«

»Okay, du lagst im Koma und ich lag im Koma. Unsere Gehirne wurden beschädigt. Korrekt?«

Er wirbelte herum. »Du hast über mich recherchiert, alles klar.«

»Nein«, sagte ich nervös, »es ist nur …«

»Delaney, ich geh nicht zu Ärzten. Nicht mehr.«

Hatte er es nicht kapiert? Neurologische Störungen konnten diagnostiziert werden. Neurologische Probleme konnten therapiert werden. Die Störung musste nicht dauerhaft sein.

»In einem Altenheim gab es mal eine Katze, die konnte vorhersagen, wer als Nächstes sterben würde«, fuhr ich fort. »Man glaubt, dass sie es am Geruch des Urins erkannt hat.«

»Und du glaubst, wir können das auch?«

Ich ignorierte die Frage. »Es gab auch einen Hund, der Krebs am Geruch erkennen konnte.«

»Das können Menschen nicht.«

»Vielleicht normalerweise nicht. Aber es gibt Ausnahmen, Menschen abseits der Norm.« Anomalien. »Es gibt sogar Menschen, deren Gehirne Sinnesempfindungen falsch interpretieren und die dann Töne sehen und Gerüche fühlen können. Möglicherweise haben wir nach dem Koma …«

Troy ballte die Fäuste und eine dunkelrote Wutwelle lief über sein Gesicht. Dann entspannte er die Hände, und sein Gesicht wirkte wieder freundlich und normal.

»Nach dem Koma sind unsere Gehirne vielleicht nicht richtig verheilt«, beendete ich den Satz.

Er blickte mich durch seine braunen Haare hindurch durchdringend an. »Am besten wäre es gar nicht verheilt.«

»Ist es aber.«

»Es hätte gar nicht verheilen dürfen, verstehst du das nicht? Wir hätten sterben müssen. Ich hätte sterben müssen. Ich wollte sterben. Das, das …« Er wedelte mit den Armen in der Luft, als versuchte er, die ganze Welt mit einzubeziehen. »Das alles hier ist eine Strafe.«

»Wofür?«

»Für mich, weil ich dieses verdammte Auto in den Graben gefahren habe.«

Mein Magen zog sich zusammen. Das hatte nicht in dem Artikel gestanden.

»Weil ich von der Straße abgekommen und im Schlamm versunken bin. Weil ich meine ganze Familie getötet habe. Weil ich ihnen nicht helfen konnte. Gott wollte mich nicht sterben lassen. Sag schon, was hast du gemacht? Warum durftest du nicht sterben?«

Decker hatte mich nicht sterben lassen, nur dass Hass nicht sein Motiv gewesen war. Doch das sagte ich Troy nicht. Ich ließ ihm seinen Schmerz. Das war alles, was ihm von seiner Familie geblieben war.

Er fuhr sich mit den Händen übers Gesicht und schüttelte den Kopf. »Es tut mir leid. Wirklich. Ich hätte das nicht sagen sollen. Aber es wird einfacher für dich, wenn du Bescheid weißt und es nicht selbst herausfinden musst.«

»Troy?«

»Was?«

»Du arbeitest hier mit alten und kranken Menschen. Du bist ein guter Mensch, weißt du das?«

»So gut nun auch wieder nicht. Ich versuche nur, mir meinen Weg aus der Hölle zu verdienen.«

»Du bist ein guter Mensch«, wiederholte ich.

Er nahm eine Haarsträhne, die mir im Gesicht hing, und strich sie hinter mein Ohr. Dann ließ er die Hand dort, seine Finger auf meinem Haar, sein Daumen auf meinem Wangenknochen. Im schwachen Licht wirkten seine blauen Augen noch dunkler.

Die Tür wurde aufgerissen und das hereinflutende grelle Licht ließ mich die Augen zusammenkneifen. Eine hagere Frau mit dünnem, fettigem Haar stand vor uns, die Arme vor der Brust verschränkt. Wir lehnten wie erstarrt an der Wand.

»Teresa setzt dich vor die Tür, wenn sie dich so sieht.« Sie nahm eine Box mit Plastikspritzen aus dem oberen Regal und verließ ohne ein weiteres Wort den Raum.

Troy machte einen Schritt nach vorn. »Ich habe jetzt Pause. Lust auf Mittagessen?«

Ich nickte. Ich wollte nur noch raus aus dieser Kammer, in der sich alles so ernst und eng und schwer anfühlte. Obwohl ich mir insgeheim wünschte, er hätte seine Hand nicht weggenommen.

Und so gingen wir gegen das Ziehen die Straße hinunter zu Johnny’s. Die Pizzeria bemühte sich nicht einmal, original italienisch zu wirken. Auf den zerkratzten Tischplatten lagen keine karierten Tischdecken, die Tischbeine waren aus Metall statt aus Holz. An der Decke hingen Neonröhren und keine Pendellampen, die warmes Licht verströmten. Es gab nicht einmal Kellner. Der Koch, der einzige Italiener hier, rief die fertigen Bestellungen vom Tresen aus in den Gastraum.

Aber das war alles nicht so wichtig. Johnny’s Pizzeria war die einzige in der Stadt, in der man sitzen konnte, sonst gab es nur die üblichen Take-away-Schuppen. Sie lag in der Nähe des Kinos und die Preise waren auch für Teenager erschwinglich. Es war immer voll.

Daran hätte ich denken sollen, bevor ich Troys Vorschlag angenommen hatte. Als wir die Pizzeria betraten und das Glöckchen über unseren Köpfen bimmelte, wollten meine Freunde gerade gehen. Justins Augen verengten sich, Kevin fuhr mir durch meine ohnehin verwuschelten Haare, und hinter ihnen tauchten Tara und Decker auf. Tara würdigte mich keines Blickes und lief an mir vorbei, aber Decker blieb stehen.

»Hey«, sagte er. Troy stand einen Schritt hinter mir, aber Decker schien ihn noch nicht bemerkt zu haben.

»Hi.« Wie armselig.

»Ich hab dir ein Weihnachtsgeschenk gekauft.«

»Oh, ich dir auch, besser gesagt, eins für Chanukka, aber ich fürchte, das habe ich schon verpasst.«

Er grinste. »Wie immer. Kann ich morgen gegen Mittag vorbeikommen?«

Ich nickte.

Erst jetzt schien Tara zu bemerken, dass Decker nicht mehr hinter ihr war. Sie kam zurück und hakte sich bei ihm ein. »Komm schon, wir sind spät dran, der Film fängt gleich an.« Dabei starrte sie mich herausfordernd an.

Ich versuchte, nicht so angeekelt auszusehen, wie ich mich fühlte. Da legte Troy plötzlich den Arm um mich. Seine Hand ruhte auf meiner Hüfte, was ich unter anderen Umständen als zu intim empfunden hätte. Aber jetzt war es genau richtig. Ich lehnte mich an ihn.

»Sind das deine Freunde?«, flüsterte er mir ins Ohr.

Decker sah erst mich und dann Troy an. »Kenn ich dich?«

»Nicht dass ich wüsste. Ich bin Troy.«

»Decker.«

Keiner der Jungs streckte dem anderen die Hand entgegen.

»Irgendwoher kenne ich dich.«

Troy zuckte mit den Schultern. »Ich komme hier mittags oft zum Essen her.«

»Komm endlich«, drängte Tara und zog an Deckers Arm.

Decker folgte ihr. Als er an Troy vorbeiging, musterte er ihn scharf. Er hatte diesen Blick, den ich nur zu gut kannte. Er versuchte etwas zu ergründen, über das er sich noch nicht ganz sicher war.

Trotz meines Protests bezahlte Troy das Essen. »Hast du einen Job, Delaney?«

Ich antwortete nicht.

»Dachte ich mir. Ich schon. Und ich schulde dir was, weil ich dich angeschrien habe. Das mache ich normalerweise nicht.«

Wir saßen in einer Nische am Fenster und aßen schweigend. In der Ferne waren Sirenengeräusche zu hören und ich schloss die Augen gegen die schmerzlichen Erinnerungen.

»Troy? Wie konnten wir wissen, dass der alte Mann in den Flammen umkommen würde?«

Troys Augen traten fast aus ihren Höhlen und sein Kopf schwang herum, um zu sehen, ob mich jemand gehört hatte. Aber niemand achtete auf uns. Er beugte sich nach vorn und sagte leise: »Wir wussten es nicht. Er war krank. Du hast ihn doch im Einkaufszentrum gesehen.«

»Aber er starb in den Flammen. Ich weiß es.« Ich schaute auf meine Handfläche und spürte, wie mir die Tränen in die Augen stiegen.

»Er war sehr, sehr krank. Sterbenskrank. Das konntest du doch spüren, oder? Wahrscheinlich war er so krank, dass er den Ofen nicht mehr ausmachen konnte. Vielleicht ist er sogar gestorben, bevor er ihn ausmachen konnte.«

Ich starrte durch die Scheibe auf die andere Straßenseite zum Kino.

»Mach dir keine Sorgen«, sagte Troy zwischen zwei Bissen Pizza, »du bist hübscher als sie.«

»Was? Als wer?«

»Das Mädchen bei deinem Ex.«

Ich schaute ihn von der Seite an.

»Du weißt schon, sie wirkt irgendwie armselig in ihren zu engen Klamotten. Als wäre sie verzweifelt auf der Suche nach Aufmerksamkeit.«

Gegen meinen Willen musste ich lächeln. »Ich kann sie nicht ausstehen. Aber er ist nicht mein Ex.«

»Was ist er dann?«

Ich suchte nach dem richtigen Wort, um die Beziehung zwischen Decker und mir zu definieren. Um zu beschreiben, was wir waren. »Er ist mein Nachbar«, sagte ich schließlich.

Wir aßen schweigend weiter, als wäre das eine logische Erklärung für unsere peinliche Begegnung.

Als Troy seine Essensreste in den Müll warf, behielt er die Getränkedose in der Hand. Er zog eine Pille aus der Tasche, legte sie auf die Zunge und sog an dem Strohhalm. Dann fasste er wieder in die Tasche und holte eine zweite Pille heraus.

»Brauchst du auch eine?«, fragte er. »Gegen die Kopfschmerzen.«

Ich legte den Kopf schief. »So schlimm ist es nicht. Kopfschmerzen habe ich nur, wenn ich zu viel lese.«

Troy kniff die Augen zusammen. »Hast du nicht das Gefühl, als würde dir jemand die ganze Zeit den Kopf zusammenquetschen?«

Nicht, seitdem ich damals im Krankenhaus aufgewacht und noch ohne Schmerzmittel gewesen war. »Nein. Vielleicht solltest du deshalb mal zum Arzt gehen.«

Er starrte geistesabwesend aus dem Fenster. »Ich geh nicht zu Ärzten, das habe ich doch schon gesagt.«

Auf dem Weg zurück zum Heim schlurfte Troy in seinen Stiefeln über den Bürgersteig. Er ging so dicht neben mir, dass sich unsere Arme berührten.

»Ich bin froh, dich gefunden zu haben, Delaney Maxwell.«

Ich sagte nichts, lächelte aber dem Betonboden zu.

Als ich Mums Wagen startete, klopfte Troy gegen das Beifahrerfenster. Ich drückte auf alle Knöpfe der automatischen Fensterheber, nur nicht auf den richtigen. Troy öffnete die Tür von außen und streckte den Kopf herein. »Komm Montag wieder, okay? Dann kann ich mir deine Hand anschauen.«

Als er die Tür zumachte, war es mir gelungen, alle Fenster wieder zu schließen. Ich fuhr nach Hause. Mum sah ungemein erleichtert aus. Vielleicht auch, weil ich so pünktlich zu Hause war. Bis zur Kirche war noch viel Zeit.